S. A. Patrick wurde in Nordirland geboren und machte in Oxford einen Abschluss in Mathematik. Er war 13 Jahre Spieleentwickler, bis er ausschließlich als Autor arbeitete. Patrick lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Cornwall. »Die Dunkelheit der Drachen« ist sein erstes Kinderbuch.

Für meinen Sohn Elias,
der die Geschichte als Erster las

1

Das Eisungeheuer

Als die Kinder schrien, rannten die Leute aus dem Dorf sofort los.

Die Kleinen spielten oft unter den hohen Kiefern am südlichen Ende von Patterfall. Der Winter in den Bergen war hart, und die Kiefern boten Schutz vor den eisigen Winden, die durch das Hochtal fegten.

Als die Bewohner von Patterfall den Waldrand erreichten, stolperten ihnen die schreienden Kinder schon durch den hohen Schnee entgegen. Als Erster war Frer bei ihnen, der achtjährige Sohn des Bäckers.

»Es ist da! Es ist da!«, rief der Junge.

»Ruhig, Kind«, sagte Greta, die Dorfälteste. »Was ist da? Etwa ein Bär?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Älteste. Das Eisungeheuer!«

Mit diesen Worten rannte er weiter, um sich in Sicherheit zu bringen.

»Das Kind hat sich bestimmt nur erschreckt«, sagte die Älteste zu den anderen Dorfbewohnern, denn schließlich gehörte das Eisungeheuer ins Reich der Sagen. Die Sage, aus der es stammte, war so alt wie das Dorf selbst. Sie handelte von einem sonderbaren Wesen aus Eis und Schnee, einem Ungetüm, das es ganz sicher nicht gab.

Natürlich lebten auf der Welt allerlei sonderbare Wesen. Einige, wie die Drachen, waren mindestens so intelligent wie Menschen. Andere, wie Basilisken und Mantikore, waren einfach nur grauenhafte Bestien.

Nie jedoch fanden solche Wesen den Weg nach Patterfall. Drachen lebten auf einem anderen Erdteil weit im Osten, und die wenigen grauenhaften Bestien, die es gab, hausten in den entlegensten Winkeln der Welt.

Leute, die dumm genug waren, sich im tiefen Winter auf den verschneiten Wegen des Hochtals zu verirren, behaupteten hin und wieder, das Eisungeheuer gesichtet zu haben. Vermutlich hatten sie aus lauter Erschöpfung und Angst Erscheinungen gesehen, die in Wahrheit gar nicht da waren.

Im Wald entdeckten die Dorfbewohner allerdings eine Gestalt, die sich auf sie zubewegte.

Eine große Gestalt. Eine weiße Gestalt.

»Nein!«, sagte die Dorfälteste laut. »Das kann nicht sein!«

Es gab keinen Zweifel.

Das Eisungeheuer hatte die Größe eines stattlichen Mannes und bestand offenbar vollständig aus Schnee. Arme und Beine waren dick wie Baumstämme. Obwohl der Kopf einem weißen Ball ohne Gesicht glich, konnten sich alle lebhaft vorstellen, wo sich das schreckliche Maul befand, die Fangzähne, gefletscht und jederzeit bereit, sich in das Fleisch desjenigen zu bohren, der dem Scheusal zu nahe kam.

Die schweren Schritte knirschten vernehmlich im Schnee. Vom Kopf her kam ein unablässiges Stöhnen.

Die Bewohner von Patterfall gingen ihm langsam entgegen.

»Lauft!«, riefen sie den Kindern zu. »Lauft nach Hause!«

Ein Kind war noch da: Ein kleiner Junge stand, reglos vor Angst, dem Ungeheuer im Weg. Es war Hap Werner, gerade einmal vier Jahre alt.

»Kleiner Hap«, rief die Dorfälteste. »Geh nach Hause! Lauf!«

Hap schüttelte den Kopf und blieb wie angewurzelt stehen. Das Ungetüm kam immer näher.

Die Dorfälteste stemmte kurzerhand die Schaufel in die Luft, die sie zu ihrer Verteidigung mitgenommen hatte. »Ich werde schon mit dir fertig, du Scheusal!«, brüllte sie und stürmte auf das Ungetüm zu. Die anderen Dorfbewohner folgten ihr, Hacken, Heugabeln und Besen drohend über dem Kopf erhoben.

Die Älteste war als Erste bei dem Eisungeheuer und zog ihm die Schaufel mit aller Wucht über den Kopf. Das Ungetüm gab ein seufzendes Geräusch von sich und fiel mit einem dumpfen Schlag auf den verschneiten Boden.

Dort blieb es reglos liegen. Die Dorfbewohner umzingelten das Ungeheuer, jederzeit bereit, bei der kleinsten Bewegung noch einmal zuzuschlagen.

Dort, wo die Schaufel den Kopf getroffen hatte, waren ein paar Brocken Eis und Schnee weggebrochen. Die Dorfbewohner bestaunten ungläubig, was darunter zum Vorschein kam: eine sehr kalte, sehr rote Nase und ein ziemlich menschlicher Mund.

»Aua …« Man konnte den Schmerz förmlich sehen.

Die Dorfbewohner warfen einander entsetzte Blicke zu. Schnell begannen sie, den Fremden von Eis und Schnee zu befreien. Mit jedem Brocken, den sie entfernten, wurde er kleiner und schmaler, und trotzdem kam ein seltsamer Riese mit unnatürlich dicken Armen und Beinen zum Vorschein. Erst als das Eis vollständig entfernt war, erkannten sie, warum.

Das waren Kleider.

Hemden und Hosen, Schicht über Schicht, womöglich Dutzende übereinander. Der Hals des Fremden war mit hundert Schals umwickelt, Hände und Kopf mit Handschuhen und Mützen bedeckt. Lange Stoffstreifen umhüllten das Gesicht, mit Schlitzen nur für Mund, Nase und Augen.

Da der bewusstlose Fremde zu schwer für sie war, zogen die Dorfbewohner ihn an den noch vereisten Beinen und Füßen ins Dorf. Im Gemeindesaal brannte ein großes Feuer. Sie setzten ihn auf einem Sessel vor die lodernden Holzscheite und machten sich vorsichtig daran, die Stofflagen aufzuschneiden und abzunehmen. In einer Ecke der Halle wuchs der Stapel der entfernten Kleidungsstücke, während der bewusstlose Fremde immer weiter schrumpfte. Schließlich hing eine schmächtige, schlaffe Gestalt in dem Sessel, die über der einfachen Kleidung einen langen Mantel trug.

Es war ein Junge mit dunklem, zottigem Haar.

»Seht nur, der kann nicht älter als dreizehn sein!«, sagte ein Mann. »Wie hat er nur die Wanderung überlebt?«

»Gute Frage!«, sagte die Dorfälteste. »Der Richtung nach zu urteilen, aus der er gekommen ist, muss er den Andig-Pass überquert haben. Die reinste Eishölle in dieser Jahreszeit.«

»Der sichere Tod für jeden, der verrückt genug ist, diesen Weg zu nehmen«, ergänzte der Mann.

»Und trotzdem hat er es geschafft«, sagte die Älteste nachdenklich. »Hinter dem muss mehr stecken, als man denkt!« Sie fasste in den Mantel des Jungen und durchsuchte die Innentaschen. Als sie die Hand herausnahm, lag eine Holzflöte darin, etwa so lang wie ihr Unterarm. Den Umstehenden stockte der Atem.

Es war keine normale Flöte. Das Instrument besaß mehr Löcher und war raffinierter gebaut als jede Flöte, die die Menschen im Dorf je zu Gesicht bekommen hatten.

Das war keine einfache Flöte.

Das war eine Pfeiferflöte.

Die Dorfälteste hob sie ehrfürchtig hoch. »Der Pfeifer ist gekommen!« Die Leute jubelten. Sie stießen die Türen des Gemeindesaals auf und gaben die Neuigkeit an die draußen Wartenden weiter. Das ganze Dorf stimmte ein in den Ruf: »Der Pfeifer ist da! Der Pfeifer ist da!«

2

Der Fremde

Als der Junge die Augen öffnete, lag er in einem ihm unbekannten Raum in einem kleinen Bett, gekleidet in ein einfaches Nachthemd, von dem er sicher wusste, dass es ihm nicht gehörte. Er setzte sich auf und zermarterte sich den Kopf, wie er hierhergeraten war, doch sein Gedächtnis versagte. Das Einzige, was ihm blieb, war das ungute Gefühl, etwas sehr Wichtiges vergessen zu haben …

»Endlich bist du wach«, sagte eine Stimme. Überrascht drehte sich der Junge um und sah in der dunklen Zimmerecke eine alte Frau sitzen. Sie stand auf und stellte den Stuhl neben sein Bett. »Ich heiße Greta«, sagte sie. »Ich bin die Dorfälteste von Patterfall.«

»Von was?«, fragte der Junge.

»Patterfall.« Greta schaute ihn besorgt an. »Dem Dorf hier.«

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich erinnere mich nicht. An gar nichts.«

»Das ist völlig normal«, beruhigte ihn Greta. »Die Strapazen deiner Wanderung haben dir dein Gedächtnis geraubt.«

»Wird es wieder zurückkommen?«

»Mir ist so etwas schon begegnet«, sagte Greta. »Du bist nicht der Erste, der dem Tode nah aus dem Wald kommt, auch wenn du mit Sicherheit der Jüngste bist. Dein Gedächtnis wird bald zurückkehren. Irgendeine Kleinigkeit wird ihm wieder auf die Sprünge helfen. Hast du Erinnerungen an deine Wanderung?«

Er dachte kurz nach, aber ihm fiel nur ein, dass er durch den schrecklich dunklen Wald gestolpert war, einen Schritt nach dem anderen, ohne Ende. Plötzlich riss er entsetzt die Augen auf. »Ich kann mich nicht einmal an meinen Namen erinnern!«

»Ich glaube, diese Frage kann ich beantworten«, sagte Greta. Sie stand auf und holte einen Mantel, der an der gegenüberliegenden Wand an einem Haken hing. »Als wir dich gefunden haben, warst du unter der Schneeschicht von Kopf bis Fuß in eine Unmenge Kleider eingepackt. Und darüber hattest du den Mantel hier an. Erkennst du ihn?«

Beim Anblick des Mantels lächelte der Junge, erleichtert darüber, sich wenigstens daran zu erinnern. »Ja«, sagte er. »Das ist meiner.«

»Dann schau her«, sagte Greta. Sie drehte den Kragen des Mantels nach außen, und da kam ein Name zum Vorschein, in sauberen Stichen in den Saum gestickt. »Ich vermute mal, das ist dein Name.«

Der Junge las ihn laut vor: »Flick Klarwasser.«

Er kam ihm bekannt vor und mit dem Namen tauchte noch ein Erinnerungsschnipsel auf. »Meine Großmutter hat mir das in den Mantel gestickt, damit ich ihn nicht verliere.«

»Es ist schön, dich kennenzulernen, Flick Klarwasser!«, sagte Greta freundlich. »Es ist mehr als schön. Ich weiß nämlich auch, warum du hergekommen bist.« Sie fasste in Flicks Manteltasche und zog die Flöte heraus. »Du bist gekommen, um uns zu retten!«

Flick starrte sie verständnislos an. »Ich?« Greta nickte. »Ich bin ein Pfeifer?« Zögernd nahm er die Flöte entgegen. Als er sie in den Händen hielt, stiegen weitere Erinnerungen in ihm hoch, kostbare Bruchstücke, Bilder. Momente seiner Schulzeit auf Tiviscan, wie ihm rasch klar wurde. Ja, dachte er, Burg Tiviscan, Sitz des Pfeiferrats. Der Ort, an dem alle, die einmal Pfeifer werden wollten, die Pfeiferkunst erlernten.

Ansonsten war sein Gedächtnis noch wie leer gefegt. Als seine Finger aber über die Löcher der Flöte glitten, wusste er, dass er die Lieder nicht vergessen hatte.

»Ja, ich bin ein Pfeifer«, sagte Flick schließlich. Tränen rannen ihm über die Wangen, vorbei an dem breiten Lächeln, das sich über sein Gesicht ausgebreitet hatte.

Greta tätschelte ihm sanft die Hand. »Du bist viel jünger, als wir es erwartet hätten, das gebe ich gern zu …«

Eine plötzliche Unruhe erfasste Flick. Es war dasselbe Gefühl, das er beim Aufwachen gespürt hatte: Es gab da etwas sehr Wichtiges, an das er sich unbedingt erinnern musste.

»Kein gewöhnlicher Reisender hätte es durch diesen Schnee geschafft!«, fuhr Greta fort. »Wir haben nach einem Pfeifer geschickt und schon bist du hier!«

Da stellte sich noch eine Erinnerung ein. »Warte mal … Es war ein Notfall. Ich hatte es eilig.« Greta schaute ihn aufmunternd an. »Ich glaube … Da war ein Händler. Er fuhr als Einziger mit dem Pferdewagen in diese Richtung, er und seine Familie.« Er kniff angestrengt die Augen zusammen. »Der Weg war total verschneit. In einer Kurve brach die Achse des Wagens. Der Händler spannte das Pferd aus, stieg mit Frau und Kind auf und ritt davon.«

»Sie haben dich zurückgelassen?«

Flick seufzte. »Wer kann es ihnen zum Vorwurf machen? Ich suchte im Wagen nach Nahrung, fand aber nur Kleider, die der Händler hatte verkaufen wollen. Zuerst suchte ich am Wagen Schutz und spielte auf meiner Flöte ein Aufwärmlied, um nicht zu erfrieren. Es wurde immer kälter, und als ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte, musste ich aufhören. Ich zog eine Kleiderschicht nach der anderen über und wartete auf besseres Wetter. Weil es jedoch nur noch schlimmer wurde, wanderte ich schließlich los. Es gibt noch ein Aufwärmlied, das man mit dem Mund pfeifen kann, Lippenspiel nennt man das. Das habe ich eine Weile gemacht, bis meine trockenen Lippen in der Kälte aufrissen und ich keinen Ton mehr herausbrachte. Ich ging weiter, immer weiter durch die Nacht …« Er dachte daran, wie sich diese schreckliche, eisig kalte Wanderung gezogen hatte. Sie schien überhaupt kein Ende zu nehmen.

»Und du hast es bis zu uns geschafft!«, sagte Greta. »Du hast einen Notfall erwähnt, Flick, und genau den haben wir hier im Dorf! Einen, der uns in Armut stürzen, vielleicht sogar das Leben kosten könnte. Als uns klar wurde, in welcher Gefahr wir schweben, schickten wir einen Boten nach Wassil, in die nächstgelegene Stadt. Der Bote nahm das einzige Pferd, das kräftig genug war für den Tiefschnee. Der Bote sollte einen Pfeifer herbeirufen. Dich!«

»Was soll ich denn tun?«, fragte Flick.

Greta schwieg zunächst bedrückt. »Im Sommer schenkt uns das fruchtbare Hochtal genug Getreide für das ganze Jahr«, begann sie schließlich, »für unsere Rinder und unsere Bäuche und die Saat im nächsten Jahr, und es bleibt sogar noch etwas übrig, das wir verkaufen können. Im Winter sind die Wege unpassierbar. Das Dorf ist bis zum späten Frühling völlig eingeschneit. Die Schädlinge, die aus dem Wald kommen, bekämpfen unsere Hunde und Katzen. Doch dieses Jahr war alles anders. Die Hunde wurden einer nach dem anderen krank, die Katzen bekamen es mit der Angst zu tun und die Vorräte in unseren Häusern wurden geplündert. Zunächst begriffen wir nicht, was das für Tiere waren. Wir bekamen sie nie zu sehen und sie hinterließen auch keine Spuren.«

Flick wurde blass. »Was … was waren es denn für Tiere?«

»Ratten«, sagte Greta. »Mehr, als wir je gesehen haben. Sie waren größer und klüger, als wir sie je erlebt haben. Was wir auch unternahmen, es nützte alles nichts. Sie fraßen kein Gift. Sie gingen in keine Falle.« Greta schüttelte sichtlich erschüttert den Kopf. »Nichts konnte sie aufhalten. Das war erschreckend, Flick. Jetzt sind sie alle im Getreidespeicher in der Dorfmitte, und wir trauen uns nicht, es mit ihnen aufzunehmen. Den Ratten gefällt es da, sie sind vor Kälte geschützt und haben genug zu fressen für die nächsten Wochen. Wenn alles weg ist, werden sie unsere eisernen Reserven plündern. Sie werden alles auffressen, was wir haben. Und dann …« Ihr versagte die Stimme und sie schloss kurz die Augen. »Bis jetzt haben sie keinem Dorfbewohner etwas getan. Wenn das Getreide aufgebraucht ist, wird sich das mit Sicherheit ändern.«

»Ändern? Wie meinst du das?«, fragte Flick entsetzt.

»Wir sind im Dorf eingeschneit und die Ratten sind es auch. Wenn sie erst hungrig genug sind, werden sie auf uns losgehen! Deshalb sind wir so verzweifelt.«

»Ratten …« Er überlegte. Was hatte man ihm über die Nager beigebracht? »Am häufigsten haben es Pfeifer mit Plagen zu tun, seien es Ratten, Mäuse oder Kakerlaken.« Er fuhr mit den Fingern über die Flöte und stellte zufrieden fest, dass sie von allein die Tonfolge griffen, die er brauchte. »Seltsam«, sagte er. »An so vieles kann ich mich nicht erinnern. Bis auf das, was ich in der Schule gelernt habe, das ist gleich wieder da.«

»Wir hätten schon vor Wochen einen Pfeifer rufen sollen«, sagte Greta. »Aber einige Leute im Dorf hatten Angst.«

»Angst?«, fragte Flick. »Vor mir brauchen sie doch keine Angst haben!«

»Sie dachten daran, was in Hameln passiert war.«

Flick lag schon eine Antwort auf der Zunge, als ihn die Erinnerung an den Rattenfänger von Hameln wie ein Schlag ins Gesicht traf. Für die Pfeiferzunft waren die Geschehnisse die größte Schande gewesen. Vor zehn Jahren hatte es in Hameln eine Rattenplage gegeben. Ein Pfeifer kam in die Stadt, einer, der nur Böses im Sinn hatte. Nachdem er die Nager vertrieben hatte, entführte er mit einem anderen Lied zu nachtschlafender Zeit die Kinder von Hameln. Was war nur aus ihnen geworden? Bis zu diesem Tag wusste es niemand. Nicht einmal, als man den Rattenfänger von Hameln fasste und in den tiefsten Kerker warf, rückte er mit der Wahrheit heraus.

Jahrhundertelang hatten die Menschen in die Pfeifer vertraut, ihre Ehrwürdigkeit nie infrage gestellt. Pfeifer waren durch die Lande gewandert und hatten Aufträge erledigt. Sie ließen das Getreide wachsen oder suchten den richtigen Platz für den Bau eines Brunnens aus. Man vereinbarte einen Preis und sie taten ihre Arbeit.

Die Vorgänge in Hameln zerstörten dieses Vertrauen. Fortan konnte kein Pfeifer mehr von Ort zu Ort ziehen und seine Dienste anbieten. Stattdessen forderte man Pfeifer offiziell an, damit man auch sicher sein konnte, dass der bestellte Pfeifer sachkundig und vertrauenswürdig war.

»Sie hätten sich keine Sorgen machen müssen«, sagte Flick. Er warf die Decke zurück, die seine untere Körperhälfte bedeckte, und schwang die Beine aus dem Bett. »Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Wo sind meine Kleider?«

»Die Kleider, die du unter dem Mantel getragen hast, wurden gewaschen«, sagte Greta. »Ich glaube, du solltest erst essen und dich ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

»Unsinn«, sagte er. »Je länger wir warten, desto mehr fressen die Ratten euch von eurem wertvollen Getreide weg!« So schlimm, wie Greta es darstellte, konnte die Plage gar nicht sein, dachte Flick. Die Leute fürchteten sich, und in ihrer Furcht stellten sie alles schlimmer dar, als es in Wirklichkeit war. Bestimmt würde er sie von den Ratten und ihrer Angst befreien können!

Als Flick aufzustehen versuchte, blieb ihm die Luft weg, seine Beine gaben nach, und er fiel rücklings zurück aufs Bett.

»Siehst du?«, sagte Greta. »Immerhin warst du zwei Tage bewusstlos. Du musst essen und trinken und dich noch ein bisschen ausruhen. Dann hast du sicher auch die Kraft, mit den Ratten fertigzuwerden. Morgen!«

Flick gab ihr recht. Er rang noch nach Atem, und bei der Erwähnung von Essen merkte er erst, wie hungrig er war. »Also gut, morgen«, sagte er.

Flick aß sich satt und schlief gut. Am nächsten Morgen bekam er einen Teller Eintopf zum Frühstück. Danach kleidete er sich an und machte noch ein paar Fingerübungen auf der Flöte. Weitere Erinnerungen hatten sich nicht eingestellt, doch er war zuversichtlich, spielen zu können, und darauf kam es schließlich an.

Greta klopfte an die Tür und trat ein. »Bist du bereit?«, fragte sie.

»Fast«, sagte Flick. »Erst müssen wir uns noch überlegen, wie wir die Ratten umbringen wollen! Wir bräuchten zum Beispiel eine Stelle, an der wir sie ertränken können.«

»Komm mal mit«, sagte Greta.

Das Dorf lag an einem etwa sechs Meter breiten Fluss, dessen rauschendes Wasser von einer einfachen Holzbrücke überspannt wurde. Greta führte Flick eine kurze Wegstrecke flussabwärts bis an eine Klippe. Dort verwandelte sich der Fluss in einen brüllenden Wasserfall.

»Der hat unserem Dorf seinen Namen gegeben.«

»Patterfall?«, sagte Flick. »Das klingt so sanft.«

»Das Dorf gibt es schon seit dreihundert Jahren«, sagte Greta. »Damals war der Fluss noch ein plätschernder Bach. Da hat sich über die Zeit einiges verändert.«

»Das kann man wohl sagen!« Flick ging vorsichtig, um nicht im Schnee auszurutschen, zum Rand der Klippe und blickte hinunter. Der Fluss stürzte mindestens dreißig Meter in die Tiefe. Am Fuß des Wasserfalls ragten zerklüftete Felsen auf. Das Wasser würde die Ratten auf die spitzen Steine schleudern und ihnen einen schnellen Tod bereiten. »Das dürfte gehen«, sagte Flick.

Als sie zurückkehrten, hatten sich die Dorfbewohner um die große Eiche versammelt, die im Herzen des Dorfes stand. Beim Anblick des Pfeifers brachen sie in Jubel aus.

Flick winkte ihnen zu, während Greta ihn zum Eingang des großen Getreidespeichers führte, in dem sich die Ratten breitgemacht hatten.

Der Jubel verebbte, und die Menschen im Dorf warteten schweigend darauf, dass der Pfeifer mit seiner Arbeit begann.

Greta entfernte die Ketten vor den Torflügeln und schloss mit einem großen Schlüssel das Tor auf. Sie warf Flick einen fragenden Blick zu. Er nickte. Langsam zog Greta die Flügel auf und kehrte rasch zu Flick zurück. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, als er den Speicher in Augenschein nahm, um sich ein Bild von der Rattenplage zu machen.

In diesem Moment fiel Flick in Ohnmacht und landete stocksteif auf dem Boden.

3

Der Pfeifer von Patterfall

Als Flick zu sich kam, lag er mit dem Rücken auf den eiskalten Steinplatten. Über ihm tauchte Gretas besorgtes Gesicht auf. »Nimm meine Hand!«, flüsterte sie und half ihm beim Aufstehen.

»Probieren wir es noch einmal«, sagte Flick. Sein Atem ging immer schneller, mit einer Hand stützte er sich auf Greta.

Am liebsten hätte er dem Getreidespeicher einfach den Rücken zugekehrt, aber ihm blieb nichts anderes übrig: Er musste sich einen Überblick verschaffen.

Und so zwang er sich, hinzusehen.

Ratten überall!

Sie lagen zwischen Bergen aus Getreide, Beuteln mit Saatgut und Säcken voller Mais. Sie schliefen in Gruppen zu drei oder zehn oder – Flick schüttelte es – mehr als zehn Tieren. Braune Ratten, weiße Ratten, gescheckte Ratten, lange Ratten, kurze Ratten. Eine hatte einen Schwanz mit einer merkwürdigen Zeichnung, rot geringelt vom Po bis zur Schwanzspitze.

Wo Flick auch hinsah: Nirgends konnte er eine Ratte entdecken, die man als »klein« oder »dünn« hätte bezeichnen können.

Einige waren so fett, dass sie sich zum Schlafen nicht einrollen konnten, sondern dalagen wie behaarte Kürbisse oder Brotlaibe mit Fell. Das dickste Tier war ein feister Rattenkürbis, der sich beim besten Willen nicht hätte bewegen können. Der runde Bauch ruhte in einer tiefen Getreidekuhle und die Beinchen ragten seitlich heraus.

Von draußen war nichts zu hören, doch wenn Flick den Mut aufgebracht hätte, einzutreten und zu lauschen, hätte er wohl das leise Schnarchen und Rülpsen der Ratten gehört.

Zufrieden schlafende Ratten.

Riesige Ratten.

Jede Menge riesiger Ratten.

Flick drehte sich zu Greta um und wollte etwas sagen, seine Stimme versagte jedoch.

»Du dachtest, ich übertreibe«, sagte sie.

Flick musste ihr recht geben. Er atmete tief ein und stieß einen langen Seufzer aus.

»Ist die Aufgabe zu schwer?«, fragte Greta.

Flick sah ihre Hoffnung schwinden. Nein, dachte er, so leicht gebe ich nicht auf. Die Leute brauchten ihn. Und sie hatten ihm das Leben gerettet.

Wenn er etwas gegen die Plage unternahm, war das ja auch alles andere als selbstlos. Immerhin war er genauso im Dorf gefangen wie die Einwohner.

Allerdings wirkten die Ratten so entspannt und friedlich. Flick konnte sich kaum vorstellen, dass sie blutdürstig über ihn herfallen würden.

Genau dieses Bild aber setzte sich in seinem Kopf fest und so überkam ihn ein tiefer Schauder.

Flick drehte sich zu Greta um. »Die Kunst des Pfeifens«, begann er mit piepsiger Stimme. »Die Kunst des Pfeifens«, wiederholte er in dem entschlossenen Tonfall, in dem man gut Gelerntes wiedergibt, »wirkt in vielerlei Hinsicht wie ein Zauber. Für Ungeziefer aller Art wird am häufigsten das ›Traumlied‹ verwendet. Der Zauber der Musik füllt die Gedanken der Schädlinge mit den herrlichsten Bildern, mit ihren innigsten Wünschen, und sie glauben, das alles zu finden, wenn sie nur der Musik folgen.« Noch einmal betrachtete er die Ratten. »Zugegeben, es sind … mehr, als ich erwartet habe«, sagte er mit plötzlich trockenem Mund, »aber weißt du, man darf nicht daran denken, mit wie vielen man es zu tun hat. Dann macht es gar keinen Unterschied, ob es nur zehn oder zwanzig sind oder …« Er deutete in den Getreidespeicher und zog die Flöte aus seiner Manteltasche.

Das Traumlied, dachte er und stellte dankbar fest, dass ihm das Gelernte gleich einfiel. Seine Finger liefen schon über die Flöte und übten die komplizierten Tonfolgen, mit denen er die Ratten in ihr Verderben locken würde.

Er legte das Mundstück an die Lippen und begann zu spielen.

Es erklang eine einfache Melodie, sechs Töne, die mit geringer Abweichung wiederholt wurden. Flick spielte sie sechs Mal und nahm dann die Flöte von den Lippen.

Die Melodie setzte sich fort. »Sie … sie spielt ja immer weiter …«, sagte Greta überrascht.

»Natürlich«, sagte Flick. »Sonst könnte man ja keine Stimmen hinzufügen. Das Lied erhält seine Macht aus den verschiedenen Schichten.«

Nun spielte Flick eine zweite Melodie, die sich mit der ersten überlappte, sich mal von ihr entfernte, mal wieder annäherte. Neben ihm stand Greta und lauschte lächelnd der Musik.

Während auch die zweite Melodie weiterging, fügte Flick eine dritte hinzu, dann noch eine und noch eine. Das war das Geheimnis dieses Liedes. Die Musik veränderte sich, und diese Veränderung kündete von Dingen, die sein könnten.

Vom Traum. Das Traumlied nahm Gestalt an.

Flicks Finger spielten scheinbar mühelos die vielschichtige Musik. Nach und nach legte er jedoch die Stirn in Falten und stellte das Spiel schließlich ein. Seine Hände fielen seitlich hinunter, das Lied wurde leiser. Er setzte ein sorgenvolles Gesicht auf.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Greta. Flick war abgelenkt von den Dorfbewohnern, die in Jubel und Applaus ausbrachen.

Verwirrt wanderte sein Blick von den Zuhörern zu Greta. »Warum klatschen sie denn?«

»Sie haben so etwas noch nie gehört«, sagte Greta. »Das war … Es war …« Sie suchte kopfschüttelnd nach dem richtigen Wort. »Es war wunderschön

»Mag sein«, sagte Flick. »Aber es hat nicht gewirkt.« Er nickte in Richtung des Speichers. Die Ratten hatten sich nicht gerührt. »Das verstehe ich nicht! Sie müssten mit der Gewissheit erfüllt sein, dass ihre Träume, all ihre Träume wahr werden, wenn sie der Musik folgen!« Er murmelte vor sich hin.

Es war Greta, die auf die Ursache kam. »Flick, sieh dir die Tiere doch nur an.« Beide betrachteten die Ratten. »Glaubst du, sie könnten tatsächlich etwas Besseres finden? Hier haben sie es warm, sie schlafen in einem Haus, das voll ist mit Futter! Da müssen sie ja glauben, dass ihre schönsten Träume schon wahr geworden sind!«

»Natürlich!« Flick schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Denk nach, denk nach!«, murmelte er. Er begann auf und ab zu gehen, die Hände mit der Flöte hinter dem Rücken verschränkt. »Moment mal!«, sagte er schließlich. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Sie ist ein wenig …« – er machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr –, »ein wenig ungewöhnlich.«

»Ungewöhnlich« war nicht das erste Wort, das ihm eingefallen war.

Als ihm Greta erklärt hatte, warum das Traumlied versagte, hatte er in seinem Gedächtnis nach einer anderen Möglichkeit gekramt. Vielleicht sind meine Erinnerungen an die Schule doch nicht gut genug, überlegte er. Das war ein schrecklicher Gedanke. In seiner Fantasie stellte er sich schon lebhaft vor, wie die Ratten über ihn herfallen und ihn auffressen würden, wenn er die Sache vermasselte.

Dann kam ihm eine Idee, ein Lied, das klar und stark war und von dem er sicher wusste, dass es seine Wirkung tun würde, weil er es besonders gut beherrschte. Leider war ihm zu dem Lied noch etwas anderes eingefallen.

Es verstieß gegen sämtliche Pfeifergesetze, es zu spielen, seit es der Rattenfänger von Hameln mit verheerender Wirkung eingesetzt hatte.

Kurz gesagt, es war ungesetzlich, und »ungesetzlich« lautete auch das Wort, das ihm fast herausgerutscht wäre. Er hatte »ungewöhnlich« gesagt, weil es für Greta deutlich unbedenklicher klang.

Flick versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was »ungesetzlich« für einen Pfeifer bedeutete, und vor seinem geistigen Auge erschienen ihm Bilder von ernst dreinblickenden Pfeifern in schwarz-roten Umhängen. Ach ja, dachte er. Die.

Man nannte sie die »Wächtergarde«. Wenn ein Pfeifer gegen die Pfeifergesetze verstieß, führte ihn die Wächtergarde seiner gerechten Strafe zu.

Hier handelte es sich allerdings um einen Notfall, das würde die Wächtergarde bestimmt verstehen.

»Das ist das Tanzlied«, sagte er. Er hob die Flöte und begann zu spielen.

4

Das Tanzlied

Stimme für Stimme, Schicht für Schicht gab die Flöte dem Tanzlied seine Form. Beim Klang der Musik wuchs in Flicks Herzen eine vertraute Heiterkeit.

Bald erschollen alle Stimmen des Liedes. Zunächst schienen es die schlafenden Ratten nicht zu bemerken. Dann regte sich als Erste die seltsame Ratte mit dem rot geringelten Schwanz. Gähnend stand sie auf und schnupperte in die Luft. Bei Flicks Anblick schlug sie beide Vorderpfoten vor den Mund. Das sah geradezu menschlich aus, so als sei sie erschrocken. Sie winkte hastig, schüttelte heftig den Kopf und quiekte, wohl, um die anderen zu warnen.

Wie merkwürdig, dachte Flick.

Die seltsame Ratte presste sich die Pfoten fest auf die Ohren, als wolle sie die Musik aussperren, was natürlich nicht klappte, und so begannen ihre Hinterbeine schon kurz darauf, im Rhythmus zu steppen. Ihre Angst verflog, sie drehte sich im Kreis und schwang die Beine, gefangen im Sog des Tanzlieds.

An Flucht war nicht mehr zu denken, das wusste Flick. Bis zu dem Moment, in dem sie auf einem Felsen am Fuße des Wasserfalls aufprallte, kannte die Ratte nur noch eins: die Freude an der Musik.

In der Mitte des Getreidespeichers befand sich eine kreisförmige freie Fläche. Dorthin tanzte die Ratte mit dem rot geringelten Schwanz. Die anderen Ratten wachten eine nach der anderen auf und taten es ihr gleich, hüpfend und kreiselnd im Rhythmus zu dem Pfeiferlied. Die Ratten erhoben sich auf die Hinterbeine, hielten sich mit ihren Nachbarn an den Pfötchen und bildeten einen Kreis. Als sich der erste geschlossen hatte, bildete sich außen herum ein zweiter.

Es wirkt, dachte Flick, gleichermaßen erregt und erleichtert. Es wirkt!

Schon bald hatten die tanzenden Ratten zehn Kreise gebildet und mit jeder Sekunde gesellte sich ein weiterer Nager hinzu. Die Kreise wogten mal in die eine Richtung, mal in die andere. Die Gesichter der Ratten strahlten glücklich und über der Musik war deutlich ein wonniges Quieken zu hören.

Als die Fläche in der Mitte fast vollständig mit Ratten gefüllt war, formierten sich die übrigen Nager in den noch freien Nischen und Winkeln. Die fettesten Ratten, die nicht tanzen konnten, wackelten vergnügt mit Kopf und Beinchen und feuerten die anderen mit einem jubelnden Quieken an.

Das Tanzlied hatte alle Ratten in seiner Gewalt.

Jetzt ist es so weit, dachte Flick. Jetzt müssen wir sie nur noch zum Fluss tanzen lassen, zum Wasserfall!

Rückwärts entfernte er sich vom Getreidespeicher. In jeder der tanzenden Gruppen taten sich die Ratten zu Paaren zusammen und hüpften zum Ausgang. Die Dicksten wurden von anderen gerollt.

Aus dem Augenwinkel sah Flick, dass den Dorfbewohnern die Sorge ins Gesicht geschrieben stand. Sie würden sich nicht mehr lange grämen müssen. Flick bog zur Brücke ab, die über den Fluss führte. Von dort wollte er die Ratten ins Wasser führen und im Rausch halten, bis sie in den Abgrund stürzten. Greta war schon vorausgegangen. Bei den vielen Ratten, die aus dem Getreidespeicher strömten, war es nur zu verständlich, dass sie versuchte, Abstand zu gewinnen.

Flick durfte nichts übereilen. Er machte kleine Schritte und vergewisserte sich immer wieder mit einem Blick über die Schulter, dass die Ratten ihm auch wirklich folgten.

Hunderte, nein, Tausende von Ratten strömten durch das Tor und folgten Flick mit gut fünf Metern Abstand in Zehnerreihen, hüpfend und Pirouetten drehend.

Bei normaler Gehgeschwindigkeit wäre er in einer Minute auf der Brücke gewesen. Weil er sich aber dem Tempo der Ratten anpasste, brauchte er fünfmal so lang. Seine Finger flogen unablässig über die Flöte.

Als er die Mitte der Brücke erreichte, lenkte er die Tiere über die Böschung zum Fluss hinunter. Eine Rattenreihe nach der anderen watete ins Wasser. Die Nager tanzten auch im Schwimmen weiter und bildeten kleine Ringe, die von der starken Strömung flussabwärts getrieben wurden. Sie drehten sich im Kreis, mal in die eine, mal in die andere Richtung, und tauchten unter, sodass nur noch Schwänze und Füßchen aus dem Wasser schauten und im Rhythmus hin und her wiegten. Anschließend tauchten sie wieder auf und tanzten mit dem Kopf über dem Wasser weiter.

Als ein Drittel der Ratten im Fluss schwamm, spähte Flick zur Kante des Wasserfalls. Greta, die neben ihm stand, folgte seinem Blick.

»Es kommt einem fast grausam vor«, sagte sie. »Schau die Ratten nur an, sie haben ja keinen Schimmer, was sie erwartet!«

Flick schüttelte den Kopf und nahm die Flöte von den Lippen. »Sie tanzen immer weiter, bis sie unten auf den spitzen Felsen aufschlagen«, sagte er. »Die werden glücklich sein bis zu ihrem Ende.«

»Und wir werden frei sein«, sagte Greta andächtig. »Das Dorf ist gerettet!« Sie umarmte ihn kurz, trat jedoch schnell einen Schritt zurück, weil es ihr wohl peinlich war.

Flick lächelte, überwältigt von Glücksgefühlen und Erschöpfung.

Ihm war bewusst, dass ihn nur die Anspannung auf den Füßen hielt. Es würde noch eine Weile dauern, bis er sich von seiner eisigen Wanderung ins Dorf erholt hatte, und er war der Erschöpfung nahe.

Greta winkte der jubelnden Menge zu. Auch Flick winkte kurz, spielte aber gleich wieder weiter, denn wenn er die Stimmen nicht ständig erneuerte, würde das Lied verhallen. Er wandte sich wieder den Ratten zu, von denen mittlerweile fast die Hälfte im Wasser schwamm.

Den Dorfbewohnern hatte er nur einen flüchtigen Blick zugeworfen, und so war ihm nicht zu verdenken, dass ihm eine wichtige Kleinigkeit entgangen war …

Die Füße der Dorfbewohner verfielen in rhythmisches Steppen.

Fast geschafft, dachte Flick.

Die Spitze der Kolonne strömte flussabwärts und würde bald die Stelle erreichen, an der sich die Strömung rasch beschleunigte, ehe das Wasser in die Tiefe stürzte. Die letzten Nager wateten gerade in den Fluss.

Flick wandte sich wieder Greta zu, auf deren Gesicht er nun, da die Ratten ihrem sicheren Verderben entgegenschwammen, ein triumphierendes Lächeln erwartete.

Greta aber zeigte erschrocken auf die Dorfbewohner. Flick stockte der Atem.

Die Leute tanzten.

Sie tanzten, strahlend vor Vergnügen, in einer Kolonne, die sich immer schneller auf den Fluss zubewegte.

»Oh nein!«, rief Flick entsetzt.

»Was ist da passiert?«, fragte Greta.

»Das Lied ist von den Ratten auf sie übergesprungen«, sagte er. »Die Dorfbewohner sind dem Tanzlied verfallen!«

Er blickte zwischen den Ratten, die es nicht mehr weit bis zum Wasserfall hatten, und den Menschen hin und her. Damit die Nager weiterschwammen, die Menschen dagegen kehrtmachten, versuchte er sie mit seinem Lied zu trennen.

Er merkte gleich, dass das nicht ging.

Nächste Möglichkeit, dachte er. Warten, bis die meisten Ratten mit dem Wasserfall abgestürzt sind und dann das Tanzlied abbrechen.

Aber die Menschen waren viel schneller als die Ratten, und bis die letzten Nagetiere in die Tiefe stürzten, wären viele Dorfbewohner bereits im Wasser. Zu gefährlich, dachte er. Unter den Tänzern waren auch Kinder. Schon bei einem kurzen Aufenthalt im Wasser würden sie sich im eiskalten Fluss womöglich den Tod holen. Und außerdem: Konnten die Leute überhaupt schwimmen?

Flick fügte Rhythmen ein, die den Tanz verlangsamen sollten, damit wenigstens ein Großteil der Ratten in den sicheren Tod trieb.

Doch es nützte alles nichts. Immer näher kamen die Dorfbewohner. Immer näher ans Ufer.

Greta packte Flick an der Schulter. »Flick! Du musst etwas unternehmen!«

Wenn er einfach aufhörte zu spielen, würde das Lied langsam versiegen. Als die erste Reihe Menschen ins eisige Wasser watete, war Flick klar, dass ihm nichts anderes übrig blieb.

Er nahm die Flöte von den Lippen und brach sie entzwei.

Das Tanzlied verstummte sofort.

Das verzückte Lächeln auf den Gesichtern der Dorfbewohner verschwand. Diejenigen, die sich im eiskalten Flusswasser wiederfanden, blickten entsetzt auf ihre durchnässten Beine. Von den Ratten kam erschrockenes Kreischen. Sie paddelten zum Ufer und brachten sich in Sicherheit. Die Dorfbewohner beobachteten, wie die Tiere einander aus dem Wasser halfen und ins Dorf zurückwuselten.

Flick war enttäuscht. Fast hätte er es geschafft! Nun musste er, sobald er wieder zu Kräften gekommen war, von vorn anfangen und …

Ein Mann, der direkt vor der Brücke stand, hob wutbebend den Arm und zeigte anklagend auf Flick.

»Er wollte uns umbringen!«, brüllte er.

»Äh, nein, ich …«, sagte Flick.

»Fast hätte er uns alle ertränkt!«, schrie ein anderer.

Greta trat vor. »Wartet!«, rief sie. »So war das nicht!«

Flick wurde von Vorwürfen überschüttet. Das ganze Dorf wollte ihn bluten sehen.

»Genau wie der Rattenfänger von Hameln!«, schrien sie. »Verdorben, böse! Sperrt ihn ein und werft den Schlüssel weg!«

»Äh, Greta?«, flüsterte Flick. »Vielleicht, ähm, schaue ich besser … dass ich wegkomme …«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du wegrennst, jagen sie dich wie einen tollwütigen Hund! Du hast nur eine Chance, wenn du ihnen alles erklärst.«

»Er hat Greta verhext!«, rief ein Dorfbewohner.

Greta verengte vor Wut die Augen zu Schlitzen. »Mich verhext keiner!«, brüllte sie. Die Dorfbewohner verstummten und wirkten kleinlaut wie Kinder, die eine Standpauke von ihrer Mutter erhielten. »Jetzt beruhigt ihr euch alle und hört mir zu! Sage ich euch nicht immer, Wut ist kein guter Ratgeber?«

Die Leute grummelten. Einige waren wohl auf Gretas Seite, viele jedoch gegen sie. Flick litt die reinsten Höllenqualen. Rundum starrten die Menschen ihn misstrauisch und hasserfüllt an. Ihm wurde das zu viel. Der Gedanke, dass seine einzige Rettung in der Flucht lag, wurde übermächtig. Und so beging er einen schrecklichen Fehler.

Er rannte los.

Flick schlitterte über die eisglatte Brücke. Die Dorfbewohner, die im ersten Moment völlig überrumpelt waren, nahmen die Verfolgung auf.

»Tut ihm nichts!«, brüllte ihnen Greta hinterher.

Flick merkte zunächst nicht, wie dumm es war, wegzulaufen. Als er das Dorf hinter sich ließ, schöpfte er sogar Hoffnung. Der Weg sah alles andere als unpassierbar aus: reiner weißer Schnee, flankiert von Bäumen, immer geradeaus. Er konnte den Dorfbewohnern noch entkommen! Er konnte sie abhängen und …

Doch plötzlich war der Schnee so tief, dass er nicht mehr rennen konnte. So tief, dass er keinen Schritt mehr vorwärtskam. Flick verlor das Gleichgewicht, stolperte und fiel mit dem Gesicht nach unten in den weißen Schnee. Arme und Beine fühlten sich unglaublich schwer an. Die Dorfbewohner kamen näher und näher. Flick rappelte sich auf.

»Werft ihn den Wasserfall hinunter«, brüllte ein Mann und stieß die Faust in die Luft. »Mal sehen, wie ihm das gefällt!« Von den anderen folgte lautstarkes Grölen.

Er konnte nur hoffen, dass Greta ihnen die Rache noch ausreden würde.

Flick überfiel eine solche Erschöpfung, dass es ihm schon fast egal war. Plötzlich verstummten die Dorfbewohner, blieben wie angewurzelt stehen und starrten an Flick vorbei. In der Ferne schwankten die Baumwipfel, und es schien, als wirbelte und schwirrte die Luft.

Der Tiefschnee, der den Weg bedeckte, wurde zu beiden Seiten weggeblasen, und ein weißer Wirbel raste auf sie zu.

»Er hat den Teufel gerufen!«, kreischte eine Dorfbewohnerin und suchte das Weite. Andere folgten ihr verängstigt, während die meisten blieben, wie gelähmt von dem, was sie sahen.

Flick konnte es jetzt hören, ein lautes Sirren wie das Summen eines Wespenschwarms. Und im Hintergrund tönte noch etwas anderes: ein Rhythmus und eine Melodie, die sich zu einem Windlied zusammenfügten.

Als die wirbelnde Luft die letzten Meter Schnee verweht hatte, bot sich Flick ein Anblick, der ihn nicht weiter überraschte. Zwei Pferde standen auf dem Weg, der hinter ihnen völlig schneefrei war. Die Reiter trugen den schwarz-roten Umhang der Wächtergarde.

Kraftlos ließ Flick den Kopf sinken. Halb lachte, halb schniefte er. Er war gerettet. Die Dorfbewohner konnten ihm nichts mehr anhaben.

Er hörte die Reiter absitzen und mit knirschenden Schritten durch den Schnee gehen. Flick hob den Kopf und blickte angestrengt nach oben. Das Gesicht, das über ihm auftauchte, war jung. Erschrocken stellte Flick fest, dass er es kannte.

»Flick?«, sagte der junge Mann. »Flick Klarwasser?«

Flick musterte ihn blinzelnd.

Ich kenne dich, dachte er. Woher kenne ich dich nur?

Seit er in Patterfall erwacht war, hatte ihn das Gefühl verfolgt, dass es da noch etwas Wichtiges gab, an das er sich erinnern müsste. Nun endlich fiel es ihm wieder ein und damit auch alles andere. Sein gesamtes Gedächtnis kehrte auf einen Schlag zurück.

»Oh nein«, sagte er. Resigniert sank sein Kopf wieder auf die Brust zurück.

Flick war gar kein Pfeifer, jedenfalls kein richtiger. Er war in Ungnade gefallen und von der Burg Tiviscan geflohen, noch ehe er die Schule beendet hatte.

Und jetzt wusste er auch, wie tief er wirklich in der Patsche saß.

5

Eine Ratte von Rang

Flick erwachte aus einem Traum.

Er war Hand in Hand mit seiner Mutter spazieren gegangen und so glücklich gewesen wie schon lange nicht mehr. Als seine Eltern starben, war er erst drei Jahre alt gewesen. Seine Großeltern hatten ihn großgezogen. Von seinem Vater wusste er nichts mehr, an seine Mutter blieb ihm nur diese eine kostbare Erinnerung: Ihre Hand haltend, sah er zu ihr auf, und sie blickte lächelnd zurück.

Flick lag in einer kleinen Kammer mit kahlem Steinboden und einem winzigen Fenster. Statt eines Bettes lag eine dünne Matratze auf dem Boden. Es war kalt. Er hatte sich in einen Schafspelz und eine Decke gewickelt, um nicht zu erfrieren. Am Fußgelenk spürte er das Gewicht einer Eisenschelle. Er zog die Decke fester um sich und betrachtete die Kette, die zu einem Eisenring in der Wand führte. Das Fensterchen ging auf den Getreidespeicher, dessen Tor wieder fest verschlossen war. Flick trug die Kleider, in denen er das Bewusstsein verloren hatte, doch der Mantel war weg. Auf dem Boden stand eine Blechschale mit ein paar Brocken trockenem Brot, daneben ein Becher Wasser.

Flick hörte das Klappern eines Schlüsselbunds. Als er sich zur Tür umdrehte, lugte der Gardepfeifer herein, der ihm seine Erinnerungen zurückgebracht hatte. Er hieß Erner Weißhaupt und war mit fünfzehn zwei Jahre älter als Flick. Einer der drei besten Pfeifer in Flicks Schule.

»Erner!« Flick fiel das Gewand des Pfeifers auf: purpurner Samt auf fester schwarzer Baumwolle. »Die Wächtergarde! Steht dir, die Tracht. Ich wusste, dass du die Prüfung bestehst.«

»Ich wünschte, du hättest dabei sein können«, sagte Erner. »Drei sind in die Prüfungen gegangen und alle drei haben es geschafft!«

»Wer waren denn die anderen beiden?«

»Mort und Kara. Mort geht bei den Marinus-Pfeifern am Ostmeer in die Lehre, Kara ist wie ich bei der Wächtergarde. Sie ist nach Skamos gegangen.«

Flick sah die beiden förmlich vor sich. Mort war ein großer, kräftiger Kerl, der das Meer liebte. Marinus-Pfeifer wurden von den Handelsgesellschaften für ihre Schiffe gesucht. Sie brauchten eine Begabung für das Entfachen von Wind und die Abwehr von Piraten, die im Ostmeer ihr Unwesen trieben. Kara hatte wie Erner sämtliche Aufgaben mit Bravour gemeistert. Skamos war ein wichtiger Stützpunkt, die einzige verbliebene Menschenstadt auf dem Kontinent, der als Drachenreich bekannt war. Der Friede zwischen Menschen und Drachen war seit jeher brüchig und mehr als einmal war es in Skamos fast zu Kämpfen gekommen. Der Wächtergarde kam dort die wichtige Aufgabe zu, einen Krieg zu verhindern.

»Piraten und Drachen«, sagte Flick. »Genau, wie sie es wollten. Schön, das zu hören.« Erner trat einen Schritt näher und umarmte Flick. »Ich habe dich vermisst, Flick. Wir haben dich alle vermisst.«

Lehrling