Die Autorinnen
© Anja Kring
Janneke Breedijk unterrichtete in den Niederlanden »Plus-Klassen« mit hochbegabten Schülern. Sie betreut talentierte Schüler, ihre Eltern und bietet Aus- und Weiterbildungen für Lehrer an. Auch entwirft sie Programme zur Talententwicklung. Sie lebt in Pijnacker. Weitere Informationen unter: www.pluskids.nl.
© Gijs de Kruijf
Noks Nauta erforscht als Ärztin und Psychologin seit vielen Jahren das Phänomen Hochbegabung bei Erwachsenen und hat zahlreiche Bücher dazu veröffentlicht. Im In- und Ausland gibt sie Workshops für Pädagogen, Psychologen und Ärzte. Sie lebt in Delft. Weitere Informationen unter: www.noksnauta.nl.
© Susanne Horn
Julia Rau arbeitet als Coach und Beraterin in den Bereichen Hochbegabung, Hochsensibilität sowie Laufbahn- und Karrierecoaching. Ende 2014 führte sie eine Studie zum Alltag von Hochbegabten durch, an der 1400 Personen teilnahmen. Sie lebt in Köln. Weitere Informationen unter: www.julia-rau.de.
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von den Autorinnen erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von den Verfasserinnen übernommen werden. Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle können wir auch für den Inhalt externer Links keine Haftung übernehmen. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich. Die Haftung der Autorinnen bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Hochbegabung ist mehr als der IQ
1. »Das finde ich echt ungerecht!«Anton
Zu viel Gerechtigkeitsgefühl?
Die Kernqualitäten des Menschen
Werte benennen und verstehen
Coping
2. »Siehst du, das schaffe ich ja doch nicht …«Emma
Versagensangst
Perfektionismus
Schlafstörungen
Tipps für Eltern
Tipps für Lehrkräfte
3. »Am liebsten würde ich gar nicht mehr zur Schule gehen.«Julian
Fehl- und Doppeldiagnosen
ADHS
Profile von hochbegabten Schülern
Exekutive Funktionen
Lehrkräfte im Sekundarunterricht
4. »Das Leben bringt mir eine Enttäuschung nach der anderen.«Lukas
Warum stellen wir bei Hochbegabten so oft eine Minderleistung fest?
Überanpassung
Depression
Ist Lukas depressiv?
Coping: Wege aus der Krise
Langeweile
5. »Immer diese Zweifel!«Johanna
Weitere Merkmale von Hochbegabung
Hochbegabung und Legasthenie
Anpassungsverhalten
Entscheidungstypen
Hochbegabte und Multiple-Choice-Fragen
Sich vom Gefühl leiten lassen
Hochbegabt studieren
Noch einmal: Entscheidungen treffen – die Theorie
6. »Gehöre ich irgendwo dazu?«Sonja
Frühzeitige Anzeichen für Hochbegabung
Hochbegabte Mädchen
Soziale Kompetenzen
Freundschaften unter Hochbegabten
Talente (besser) nutzen
7. »Ich will mein Leben selbst organisieren!«Jonas
Was ist Hochsensibilität?
Der Umgang mit Hochsensibilität
Woran erkennt man Talent?
Talent: ein Auftrag an sich selbst
Probleme bei der persönlichen Entfaltung
Hochbegabung und Bilder der Männlichkeit
Kreativität
8. »Ich will keinen Streit.«Sophie
Deine Gefühle – meine Gefühle
Das Drama des begabten Kindes
Abwehrmechanismen
Assertivität
Hochbegabte in Partnerbeziehungen
9. »Wer bin ich eigentlich?«Leon
Kein Studium, trotzdem hochbegabt?
Mobbing von Hochbegabten
Ist Hochbegabung erblich?
Wahl des Schulprofils für Hochbegabte
Identität, was ist das?
Hochbegabte und Drogen
Motivation
Flow
Autonomie
10. »Lernen – wie geht das überhaupt?«Mark
Früherkennung
Komprimierung und Anreicherung
Verhalten der Lehrkräfte
»Aufschieberitis«
Lernverhalten – das Lernen erlernen
Lernstile
Vorbereitung auf Fachhochschule oder Universität
11. »Erklärst du mir, was du meinst?«Xavier
Das Asperger-Syndrom
Soziale Entwicklung
Konkrete Hilfe
Hochbegabten-Klassen
Computerspiele
Literatur
Links
Angst
Allgemeine Informationen und Plattformen
Asperger-Syndrom und Autismus
Basisemotionen (Ekman)
Beruf und Karriere
Braingym und Edukinesiologie
Burn-out
Coping-Strategien
Depression
Förderung allgemein
Förderung in der Schule
Hochsensibilität
Homosexualität
Intelligenz
Kernqualitäten
Kinesiologie
Legasthenie
Lernschwierigkeiten
Lernstile und Lernstrategien
Mädchen und Frauen
Mindmaps
Mobbing
Persönliche Werte
Schlafprobleme
Studium
Hochbegabte Jugendliche haben in vielen Bereichen dieselben Themen und Herausforderungen, die sie beschäftigen und mit denen sie zu kämpfen haben, wie andere, normalbegabte Gleichaltrige auch. Und so werden Sie in diesem Buch in den Geschichten auch von Problemen lesen, die nicht nur Hochbegabte betreffen.1 Der Unterschied liegt in der Häufigkeit, in der das beschriebene Verhalten und die typischen Konfliktsituationen vorkommen. Meist vereinen sich viele der Schwierigkeiten bei einem Hochbegabten und vor allem mit einer besonderen Intensität.
Ausnahmetalente kämpfen mehr als durchschnittlich begabte Jugendliche mit existenziellen Fragen: Wer bin ich? Wohin gehöre ich? Was ist mein Beitrag zur Gesellschaft? Wie kann ich meine Talente und Fähigkeiten positiv einsetzen? Wie werde ich die Person, die ich sein möchte? Wie reagiere ich auf fremde Erwartungen, die oft unpassend oder unrealistisch sind? Und wie gehe ich mit meinen eigenen Erwartungen an andere um, die auch nicht immer passen?
In unserer Arbeit mit hochbegabten Jugendlichen begegnen uns die schwierigen Dilemmas und inneren Konflikte, mit denen sie ringen. Einerseits fühlen sie häufig noch wie Kinder, andererseits sind sie in ihrem Denken und Verhalten bereits fast erwachsen. So geraten sie leicht in Krisen, bei den Eltern und Lehrer ihnen schwer helfen können. Darum haben wir in diesem Buch unser Wissen und unsere Erfahrungen vereint.
Wir stellen verschiedene Lebenswege vor, die zeigen, wie hochbegabte Jugendliche mit besonderen Situationen und Konflikten umgehen und diese nutzen, um den individuell passenden Weg ins Erwachsensein zu finden. Gleichzeitig stellen wir bewährte Strategien zur Unterstützung vor und geben Tipps und Inspiration für die Jugendlichen und ihr Umfeld.
Oft werden wir nach dem Nutzen von IQ-Tests gefragt: Ist ein Test als »Beweis« für Hochbegabung tatsächlich notwendig? Wir können dazu keine allgemeingültige Antwort geben, denn alle hochbegabten Jugendlichen sind unterschiedlich. Ein IQ-Test ist lediglich einer von mehreren Bausteinen, aus dem sich das Gesamtbild von Hochbegabung zusammensetzt. Hochbegabung ist viel mehr als der Intelligenzquotient. Für den Begriff »Hochbegabung« gibt es keine wissenschaftlich anerkannte Definition, daher sprechen wir von »Merkmalen von Hochbegabung«. Im ersten Kapitel finden Sie ein Modell der verschiedenen Charakteristika.
Hochbegabungsdiagnostik ist komplex und sollte von einer Person durchgeführt werden, die darauf spezialisiert ist. Weiterführende Informationen hierzu sowie eine Datenbank bundesweiter Experten bieten der »Expertenkreis Hochbegabung/Potentiale« (www.die-hochbegabung.de) und das »Karg Fachportal Hochbegabung« (www.fachportal-hochbegabung.de).
Darüber hinaus gibt es verschiedene Organisationen, die umfassende Informationen anbieten: Die »Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V.« (www.dghk.de) ist ein bundesweit tätiger gemeinnütziger Verein, in dem sich Eltern, Pädagogen, Psychologen und andere Interessierte ehrenamtlich für die Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen einsetzen. Eine wichtige Anlaufstelle ist auch »Mensa« (www.mensa.de), ein weltweiter Verein für hochbegabte Menschen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, hochintelligente Menschen miteinander zu vernetzen. Weltweit hat »Mensa« über 133.000 Mitglieder aller Alters- und Bevölkerungsgruppen, in Deutschland sind es mehr als 13.000. Daneben bietet das bereits erwähnte »Karg Fachportal Hochbegabung« Rat und Hilfe rund um das Thema Hochbegabung. Im Lauf des Buches lernen Sie noch weitere Organisationen und Beratungsstellen sowie Fachleute kennen, die darauf spezialisiert sind, Hochbegabung zu diagnostizieren und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu begleiten. Die Links im Anhang bieten Ihnen eine erste Orientierung.
Im deutschen Schulsystem gibt es derzeit vor allem drei Fördermaßnahmen für Hochbegabte: die Akzeleration (beschleunigtes Lernen), das Enrichment (angereichertes Lernen) und eine Kombination aus Akzeleration und Enrichment. Akzelerationsmaßnahmen ermöglichen ein rasches Durchlaufen der Schulzeit und umfassen eine vorzeitige Einschulung, die Möglichkeiten der flexiblen Schuleingangsstufe, das Überspringen einer Klassenstufe und Teilunterricht in höheren Klassen. Enrichment stellt ergänzende und erweiternde Lernangebote zur Verfügung. Dies können individuelle Aufgabenstellungen oder schulische Fördermaßnahmen sein. Das Kind bleibt hierbei größtenteils in seiner Altersgruppe und wird differenziert gefördert. Beispiele für Enrichment-Maßnahmen sind Arbeitsgemeinschaften, Pull-out-Programme, zusätzliche Kurse, Schülerwettbewerbe, Kurse an Universitäten, Austausch- oder Ferienprogramme. Eine Kombination von Akzeleration und Enrichment findet man zum Beispiel in Spezialklassen (Hochbegabtenklassen, in denen hochbegabte und besonders begabte Schüler gemeinsam unterrichtet werden) und Spezialschulen (Hochbegabtenschulen oder Privatschulen).
Inwieweit die genannten Fördermaßnahmen angeboten und durchgeführt werden, hängt zum einen stark vom Engagement und Fachwissen der Lehrkräfte ab, aber auch von den jeweiligen Möglichkeiten der einzelnen Schule. Den Eltern hochbegabter Kinder und Jugendlicher ist daher zu raten, sich genau über die ins Auge gefasste Schule zu informieren.
Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass sich auch im normalen Schulsystem und ohne Extraförderung viele hochbegabte Kinder und Jugendliche gut zurechtfinden. Hochbegabt zu sein bedeutet nicht zwangsläufig, einen außergewöhnlichen Weg gehen zu müssen.
Dieses Buch beruht auf unserer langjährigen Erfahrung mit jugendlichen Ausnahmetalenten. Viele haben wir zur Zeit der Pubertät kennengelernt und sie auf dem Weg in ihre erwachsene Zukunft unterstützt und begleitet.
Janneke Breedijk ist Pädagogin und gründete 2004 in den Niederlanden eine Enrichment-Klasse mit mehr als 300 hochbegabten Schülern aus verschiedenen Schulen. 2007 rief sie die Organisation Pluskids (www.pluskids.nl) ins Leben. Von 2012 bis 2016 beriet sie das niederländische staatliche »Excellency & Giftedness«-Programm zur Verbesserung der Chancen hochbegabter Schüler.
Noks Nauta studierte Medizin und beschäftigt sich seit 2000 mit der Arbeitsumgebung hochbegabter Erwachsener. In Workshops unterstützt sie Hochbegabte in Karrierefragen und berät Personaler, Psychologen und Ärzte. 2010 war sie Mitbegründerin einer Stiftung für hochbegabte Erwachsene (www.ihbv.nl) und hat seither zahlreiche Ratgeber, Fachbücher und Aufsätze zum Thema Hochbegabung und Arbeit veröffentlicht.
Julia Rau ist als Coach und Beraterin auf die Themen Hochbegabung und Hochsensibilität spezialisiert. Hierzu bietet sie auch Fortbildungen und Vorträge an. 2014 führte sie eine umfassende Studie zum Alltag von hochbegabten Erwachsenen durch, an der 1400 Personen teilnahmen. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Begleitung von Menschen in beruflichen Veränderungssituationen im Rahmen von Karriere- und Laufbahnberatung.
Anton
Anton ist jetzt 14 Jahre alt und geht in die 9. Klasse des Gymnasiums. Er ist noch nie dahingehend getestet worden, aber seine Mutter, die selbst hochbegabt ist, erkennt bei ihm viele Anzeichen von Hochbegabung. Meistens geht er recht gern zur Schule, er hat dort auch ein paar gute Freunde. Manchmal fühlt er sich etwas einsam, weil er merkt, dass er anders denkt als die meisten Gleichaltrigen. Anton ist ein engagierter Junge, der schon als Kind lebhaft Anteil am Weltgeschehen nahm. Als er sieben Jahre alt war, weigerte er sich, an einer Faschingsfeier in der Schule teilzunehmen: Er hatte in den Nachrichten Bilder von einem Krieg in einem fernen Land gesehen. Wie konnte man feiern, wenn anderswo Krieg herrschte? Antons Mutter unterstützte ihn, weil sie sah, dass es ihm wirklich ernst war, und erklärte der Lehrkraft den Grund für Antons Verhalten. Diese wunderte sich sehr.
Anton kann es schlecht ertragen, wenn er Ungerechtigkeiten sieht. Wird ein Mitschüler zu Unrecht bestraft oder unfair behandelt, kämpft er für eine gerechte Behandlung. Wenn in seiner eigenen Klassenarbeit eine Antwort als falsch angerechnet wird, während er sich sicher ist, dass sie richtig ist, wehrt er sich ebenso nachdrücklich.
Antons Mutter ist da genauso gestrickt: Antons Schwester Rosa hatte einmal eine Fünf in Biologie, weil eine Antwort, die Rosa richtig beantwortet hatte, als falsch angestrichen war. Daraufhin rief ihre Mutter selbst den Biologielehrer an – mit Erfolg: Die Note wurde berichtigt.
Anton ist ein guter Schüler und hat meistens gute Zensuren. Nur Aufgaben, bei denen er mit anderen zusammenarbeiten muss, fallen ihm ziemlich schwer. Dabei ist er zur Gruppenarbeit durchaus in der Lage. Er merkt aber sofort, dass andere Schüler nicht immer genauso viel Einsatz zeigen wie er. Wenn andere Schüler in der Arbeitsgruppe ihre Arbeit nicht oder, wie Anton findet, nicht gut genug erledigen, steht er vor einem Dilemma: Soll er noch einmal nacharbeiten, womit er die anderen bloßstellt, oder soll er lieber nicht eingreifen, dann bekommt die ganze Gruppe eine schlechtere Note, als zumindest Anton selbst die eigentlich verdient hätte. Das bereitet ihm wirklich Kopfzerbrechen.
Was ist gerecht?
Die Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie, in dem man sich auf die Fragestellung konzentriert, welche Handlungsweise gut ist.
(Moralische) Werte können als Ideale gesehen werden, die angestrebt werden. Beispiele für solche Werte sind Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe. Diese Werte spielen eine wichtige Rolle für die Art, wie wir miteinander umgehen und wie wir unsere Gesellschaft gestalten.
Sie tragen zum Gemeinschaftsgefühl und zum Gefühl der Zusammengehörigkeit bei. Werte sind »Wegweiser« bei Entscheidungen, Aufgaben oder Begegnungen.
Ausgehend von diesen Werten geben wir uns selbst bestimmte Normen oder Regeln. Diese formulieren wir als etwas, das man darf oder eben nicht darf: Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten, du sollst nicht lügen usw. Wenn diese Regeln dann festgeschrieben werden, entstehen Gesetze.
Ohne bestimmte Normen oder Regeln, an die sich alle zu halten haben, würde es gerade in neu entstehenden Gesellschaften drunter und drüber gehen.
Einer der wichtigsten Werte in unserer Gesellschaft ist die Gerechtigkeit.
Nur zwei Beispiele dafür, was Schüler als gerecht empfinden:
eine Strafe bekommen, wenn man etwas angestellt hat, was verboten ist,
eine gute Note bekommen, wenn man etwas sehr gut gemacht hat.
Das bedeutet auch, dass es für ungerecht gehalten wird, wenn man bestraft wird, obwohl man gar nichts Verbotenes getan hat, oder eine schlechte Note zu bekommen, wenn etwas sehr gut gemacht wurde.
Es gibt also immer eine Art »Norm«, ein Kriterium.
Bei Gerechtigkeit geht es immer darum, dass Menschen in derselben (oder einer vergleichbaren) Situation dieselbe (oder eine vergleichbare) Behandlung erhalten.
Auch Tugenden können als eine Art von Werten gesehen werden. Unter Tugenden werden positive menschliche Eigenschaften, wie z. B. Treue, Fürsorglichkeit usw. verstanden. Näheres zu dem Thema findet sich in dem »Großen Tugend-Buch« (Popov, 1997; 2014).
Auch im Internet gibt es Tests, mit denen man seine persönlichen Werte entdecken kann: www.zollondz-kommunikation.de/messbares-wertemanagement/gratis-wertetest
Wenn Anton sieht, dass ein anderer Schüler für etwas zur Rechenschaft gezogen wird, was er gar nicht getan hat, findet er das ungerecht. Das zugrunde liegende Prinzip lautet: »Jemand darf nur für etwas zur Rechenschaft gezogen oder bestraft werden, wenn er dies auch tatsächlich getan hat.« Wenn das nicht zutrifft, ist die Strafe nicht gerecht: Jemandem geschieht ein Unrecht.
Bei Gruppenarbeiten ist es immer möglich, dass man als Gruppe und somit auch jeder einzelne Schüler eine niedrigere Note bekommen kann, auch wenn man vielleicht eine höhere Note verdient hätte, wenn man allein gearbeitet hätte. Das kannst du ungerecht finden. Es mag ungerecht erscheinen, aber andererseits: Die Note der Gruppe ist immer ein Durchschnitt. Es wäre gut, wenn die Lehrer das den Schülern einsichtig machen könnten.
Für einen Lehrer ist es manchmal gar nicht so leicht, gerechte Entscheidungen zu treffen, schließlich sind alle Schüler unterschiedlich. Und wir wissen auch, dass alle Schüler unterschiedlich lernen. Keiner gleicht dem anderen, aber alle sind gleichwertig. Wenn ein Schüler nicht so intelligent ist, aber unglaublich hart arbeitet, darf das dann nie mit einer guten Note belohnt werden? Diese Frage stellt sich den Lehrkräften ebenso wie die, warum, unter welchen Bedingungen und bei welchen Aufgaben es besser ist, zusammenzuarbeiten als allein. Wir wissen, dass die Zusammenarbeit zu besseren Ergebnissen führen kann. Sie kann auch effizienter sein, sowohl für die Schüler als auch für die Lehrer, und es kann einfach mehr Spaß machen, zusammen an einem Auftrag zu arbeiten. Es bedarf aber einiger Voraussetzungen, damit die Zusammenarbeit von Schülern gut verlaufen kann. Folgendes sollte gut vorbereitet und geklärt sein:
die Kriterien, die das Endprodukt erfüllen muss;
Rahmenbedingungen: Zeit, Platz und (digitale) Mittel, Betreuung durch die Lehrkraft;
das gemeinsame Ziel, eine klare Verteilung von Aufgaben und Verantwortung, Vereinbarungen über die Prozessüberwachung;
dem Beitrag jedes Einzelnen sollte Respekt entgegengebracht werden, indem jeder jedem gut zuhört;
nach Abschluss des Projekts: eine ausführliche Besprechung und Bewertung.
Anton hält es für ungerecht, ein Fest zu feiern, wenn anderswo Krieg herrscht. Er glaubt, dass er nicht das Recht hat, zu feiern, wenn es anderen Menschen schlecht geht. Das hat also mit einem Vergleich mit anderen Menschen zu tun. »Alle haben das Recht zu feiern«, geht ihm dabei durch den Kopf. »Wenn die Menschen dort das nicht können, darf ich das auch nicht.«
An und für sich ist ein gut entwickeltes Gerechtigkeitsgefühl sehr wichtig. Manchmal kann man dadurch aber auch in verzwickte Situationen geraten. Vielleicht wundert sich Antons Lehrkraft, dass er nicht mitfeiern will, oder erwartet, dass ihn seine Mitschüler deswegen hänseln und ausgrenzen. Vielleicht ist es auch so, dass Anton sehr oft für andere eintritt und seine Lehrer sagen: »Achte doch einmal weniger auf die anderen, die können doch auch für sich selbst sprechen.« Und wie werden sie reagieren, wenn Anton sagt, dass er keine Gruppenarbeiten mehr machen möchte?
In allen diesen Situationen kann sein Gerechtigkeitsgefühl für ihn zu einer erheblichen Belastung werden. Es kann Freundschaften und das gute Verhältnis zu seinen Lehrern beeinträchtigen. Wenn es sein ganzes Leben beherrscht, wird er immer mehr zum Eigenbrötler, mit dem niemand mehr etwas zu tun haben will.
Daniel Ofman (2005; 2009) hat ein Modell entworfen, das davon ausgeht, dass alle Menschen Kernqualitäten besitzen. Oft werden diese erst dann erkannt, wenn jemand diese Qualität »übertreibt« oder anderen mit seinem vielleicht etwas übertriebenen Verhalten auf die Nerven geht.
Bei Ofmans Modell geht es um den Zusammenhang von Kernqualitäten, Fallen, Herausforderungen und Allergien:
Wenden wir dieses Modell auf Anton und seine Begeisterung an, sieht dieses Bild dann so aus:
In diesem Modell sehen wir, dass Antons Einsatz an und für sich eine fantastische Kernqualität ist. Wenn er es jedoch übertreibt, wirkt er auf andere aufdringlich. Die Herausforderung für ihn besteht darin, sein Engagement besser auf die Situation abzustimmen, also situationsgerecht anzuwenden. Dies kann jedoch auch in Opportunismus ausarten, und genau darauf reagiert Anton bei anderen Menschen allergisch.
So kann auch daran, worauf man »allergisch« reagiert, erkannt werden, wo die eigene Kernqualität liegt. Reagiert man beispielsweise allergisch auf Menschen, die über andere tratschen, so ist die Kernqualität wahrscheinlich »Respekt für andere«. Reagiert jemand allergisch auf Menschen, die immer nur ans Geld denken, so ist die Kernqualität, dass seiner Meinung nach das Geld im eigenen Leben und bei den eigenen Entscheidungen nicht die wichtigste Rolle spielt.
Im Internet können verschiedene Seiten über das Modell der Kernqualitäten gefunden werden.
Wenn wir uns Antons Verhalten ausgehend vom Kernquadrat anschauen, sehen wir, dass »Begeisterung« zu Antons Kernqualitäten gehört. Manchmal, beispielsweise wenn er gestresst ist, kann dies aber auch aufdringlich wirken.
Anton hatte schon als kleines Kind ein starkes Gerechtigkeitsgefühl. Wie verhält es sich denn nun mit derartigen Gefühlen für Ethik und für Werte und andere moralische Fragen? Hat man die schon als Kind?
Moralische Entwicklung
Ein Kind besitzt kein angeborenes Gefühl für Ethik. Dieses Gefühl entwickelt sich im Laufe der Zeit, auch durch den Einfluss der Umgebung (Eltern, Schule, Freunde).
Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg (Kohlberg, 1996) hat Untersuchungen an Jungen unterschiedlicher Altersgruppen durchgeführt und ihnen dabei bestimmte Entscheidungen vorgelegt. Anschließend erkannte und beschrieb er anhand der Art, wie diese Kinder Entscheidungen trafen, Strukturen. So kam Kohlberg zu einer Gliederung in 6 Stufen der Moralentwicklung:
Phase 1: Die Macht entscheidet, was gut ist. Es geht nur um Gehorsam und Strafe. Die Eltern bestimmen, was du tun musst, oder die Lehrkraft in der Schule. Strafe und Gehorsamkeit sind die Themen.
Phase 2: Eine Hand wäscht die andere: Es wird »gefeilscht«. Im Grunde wird jetzt aus Berechnung gehandelt: Wenn ich etwas für dich tue, tust du dann etwas für mich?
Phase 3: Gegenseitigkeit: »gegenseitiger Respekt«. Das Kind kann sich in die Lage des anderen hineinversetzen. Es hat gelernt, dass es zu einer Gruppe gehört, und möchte die Erwartungen anderer Gruppenmitglieder erfüllen.
Phase 4: Jetzt bestimmen die Normen der Gesellschaft (Gesetz und Ordnung), wie vorgegangen wird. In diesem Stadium wird gesehen, dass Regeln eine wichtige Rolle für die Gemeinschaft spielen.
Phase 5: Das Gesetz beruht auf einer rationalen Grundlage, daran wird sich jetzt gehalten. Die Gesetze wurden gemeinsam vereinbart. Es gibt auch übergreifende moralische Grundsätze.
Phase 6: Grundsätzliches und übergreifendes Denken: Grundsätze sind universalgültig (also nicht nur für eine bestimmte Gemeinschaft). Daran hält man sich, weil man sich selbst dafür entscheidet.
In der Praxis durchlaufen Kinder zwar diese Phasen, aber stecken manchmal teilweise noch in einer früheren Phase fest. Auch bei Erwachsenen merkt man gelegentlich, dass sie in einer früheren Phase stecken geblieben sind oder unter Stress dorthin zurückfallen.
Es gibt auch Menschen, die nicht alle Phasen bewältigen und in einer früheren verbleiben. Manche dieser Menschen zeigen dann kriminelles Verhalten, ihnen fehlt einfach ein Teil des Gewissens. Unter Gewissen verstehen wir das moralische Bewusstsein, dass es Gut und Böse gibt und wir zwischen diesen beiden Polen wählen müssen.
Anton macht sein Abitur, ist sich aber sehr unschlüssig, für welches Studium und für welchen späteren Beruf er sich entscheiden soll. In einer Beratungsstelle, in der er sich zur Studien- und Berufswahl beraten lässt, zeigen die meisten Tests, dass er im Grunde alles kann – was die Entscheidung nicht gerade erleichtert.
Er besucht einige »Schnupperveranstaltungen« an Universitäten und informiert sich über verschiedene Studiengänge, die ihn interessieren. Nur ist kein Studium wirklich genau das, was er sucht. Zum Schluss schwankt er noch zwischen Jura und Soziologie. (Übrigens gehen wir in Kapitel 5 noch einmal ausführlich auf die Entscheidungstheorie ein, und speziell auf die Studien- und Berufswahl kommen wir in Kapitel 10 zurück.)
Anton denkt intensiv darüber nach, Jura zu studieren. Zunächst besucht er eine Veranstaltung für Abiturienten, die mit diesem Studium liebäugeln. Hier hat er auch die Möglichkeit, sich mit Studenten auszutauschen, die bereits Jura studieren. Er gewinnt den Eindruck, dass das Studium nicht besonders schwer ist, und würde sich zusätzlich gerne in seiner Freizeit ehrenamtlich bei Amnesty International und im Verein der Jurastudenten einsetzen.
Am Ende seiner Schulzeit hat er viele Freunde und geht gern aus. Nur manchmal fällt Anton das Leben schwer. Hin und wieder fühlt er sich ziemlich down. Dann liegt er nachts wach. Macht ihm sein Leben überhaupt Spaß?
Anton merkt, dass es Momente gibt, in denen er sich überhaupt nicht wohlfühlt. Er hat Angst, dass er aneckt und sich selbst ausgrenzt und dass dies auch im nächsten Jahr der Fall sein könnte, wenn er auf die Uni geht und beispielsweise an Seminaren teilnimmt. Denn er weiß, dass er sich zwar bei großen Vorlesungen ein bisschen in sich zurückziehen könnte, wenn er merkt, dass er sich zu ärgern beginnt, aber in kleineren Gruppen kann er dann nicht den Mund halten. Das weiß er auch von der Schule: Findet er, dass ein Mitschüler oder sogar der Lehrer »dummes Zeug« erzählt, fährt er recht heftig dazwischen. »Dummes Zeug« ist es für Anton eigentlich immer dann, wenn Menschen einen begrenzten Blick haben, beispielsweise in ihrer Argumentation die Perspektive eines Opfers oder eines Schwächeren übersehen. Oder wenn sie rein oberflächlich argumentieren, während es eigentlich noch so viele andere Blickwinkel gibt, aus denen eine Situation betrachtet werden kann. Manchmal erschrickt Anton sogar selbst, wie heftig er dann werden kann. Es kommt zu schwierigen Konfliktsituationen – über die andere sich wundern, weil sie das von Antons sonst so freundlichem Charakter überhaupt nicht erwartet hätten. Was geht in einem solchen Moment eigentlich in ihm vor? Eine seiner Freundinnen, die schon Psychologie studiert, spricht ihn gelegentlich darauf an. Als ein solch heftiges Verhalten Antons auch im Freundeskreis vorkommt und sie darüber sprechen, stellt sie ihm die Frage: »Weißt du eigentlich, wie du dann auf andere wirkst?« Sie erklärt Anton, dass sie ihn sehr gern mag, aber dass er in solchen Momenten unangenehm rechthaberisch wirkt. Anton kann sich das vorstellen, er weiß, dass er auch in anderen Situationen sehr aufdringlich wirken kann, unter Freunden oder auch, wenn ihm in einem Geschäft etwas nicht gefällt. Weil er sehr viel Wert auf die Meinung dieser Freundin legt, fühlt er sich motiviert, jetzt an sich selbst zu arbeiten.
Er spricht darüber mit seiner Mutter. Auch sie gibt zu, dass sie Antons problematisches Verhalten bemerkt hat. Sie erkennt auch viel von sich selbst in Anton wieder und ist um ihn besorgt. Die beiden führen nun Gespräche, in denen sie vieles ergründen. Wie seine Mutter erzählt, kennt sie solche Konflikte auch aus ihrem eigenen Leben. Sie hat viel darüber mit anderen geredet und weiß jetzt besser, wie sie mit solch intensiven Gefühlen umgehen muss. Leicht ist es allerdings immer noch nicht.
Anton beschließt, dass er jetzt wirklich an sich selbst arbeiten will. Er möchte nicht unglücklich werden und will bald erfolgreich sein Studium beginnen. Er denkt daran, sich später vielleicht auf internationales Recht zu spezialisieren, und dazu muss man ja wohl kommunikativ stark sein.
Anton entschließt sich, einen Psychologen aufzusuchen. Beim ersten Termin führt er ein ausführliches Gespräch mit ihm darüber, wie er als Kind und in der Schule war, was ihn heute an sich selbst stört und wo sein Problem liegt. Danach werden weitere Gesprächstermine vereinbart.
Der Psychologe
Bei Anton erkannte ich sofort sehr viel von einem Hochbegabten mit einer sehr wachen Intelligenz: Er saß ganz vorn auf seinem Stuhl, formulierte ganz exakt und hörte mir genau zu. Er reagierte auch sehr sachbezogen auf alles, was ich sagte. Ich merkte, dass er über alles schon gründlich nachgedacht hatte. Er war wirklich dazu bereit, über sein eigenes Verhalten nachzudenken und daran zu arbeiten.
Übrigens sehe ich manchmal auch Hochbegabte, die sich ganz anders zeigen: Sie sind mutlos, lassen die Schule oder das Studium laufen und können sich zu nichts mehr aufraffen. Rein gar nichts mehr kann sie herausfordern. Dann ist es wirklich schwer, sie wieder zu motivieren – wenn sie überhaupt zu mir kommen. Ich glaube, Hochbegabte geben ziemlich oft auf, weil sie ihre Motivation verlieren. Vermutlich gibt es auch unter den Patienten in psychiatrischen Kliniken und unter den Obdachlosen hochbegabte Menschen. Zwischen Genialität und Wahnsinn liegt, glaube ich, manchmal nur ein ganz schmaler Grat. Bei Anton gehe ich aber davon aus, dass er an und für sich psychisch völlig gesund ist, nur jetzt gerade ein bisschen Hilfe braucht.
Weil er selbst erkannt hat, dass er hochbegabt ist und wo es bei ihm nicht gut läuft, ist es für ihn und für mich leichter, das Problem schnell am Kern anzupacken.
Wie erkennt man Hochbegabung?
Hochbegabung wird oft so definiert, dass bei einem geeigneten IQ-Test mehr als ungefähr 130 Punkte erzielt werden (diese Zahl ist je nach dem jeweiligen Test unterschiedlich). Damit gehören diese Personen zu den 2 Prozent der Bevölkerung mit der höchsten Intelligenz. Ob hochintelligent dasselbe wie hochbegabt bedeutet, darüber gibt es verschiedene Meinungen, wie zum Beispiel:
Eine Person gilt als hochbegabt, wenn sie außer einem hohen IQ auch besondere Leistungen zeigt.
Auch ohne Schul- oder Studienabschluss, sichtbare Leistungen oder gesellschaftliche Position kann eine Person hochbegabt sein, wenn sie eine Reihe spezifischer Eigenschaften besitzt. Es kann nämlich sein, dass ein IQ-Test z. B. bei Legasthenie oder extremer Versagensangst nicht geeignet ist.
2007 wurde von einer Expertengruppe der folgende Konsens über die Hochbegabung formuliert, der in Abb. 2 als Modell dargestellt wird. Hier die Definition:
»Ein hochbegabter Mensch ist ein schneller und intelligenter Denker, der komplexe Fragen bewältigen kann. Er hat einen autonomen, neugierigen und begeisterungsfähigen Charakter.
Er ist ein sensibler und emotionaler Mensch, der intensiv lebt. Ihm macht es Freude, schöpferisch tätig zu sein.«
Diese Definition enthält die folgenden Merkmale:
hochintelligent (denken)
autonom (sein)
hochsensibel, scharf (wahrnehmen)
ein reiches und differenziertes Gefühlsleben (fühlen)
begeistert und neugierig (wollen)
schöpferisch tätig sein (handeln)
Bezogen auf das Zusammenspiel zwischen diesen Aspekten wird dies in der Interaktion mit der Umgebung um die Merkmale »kreativ, schnell, intensiv lebend und komplex« erweitert. Diese Merkmale können sich im täglichen Leben sowohl positiv als auch negativ auswirken. Das hängt u. a. von Charakter, Erziehung, Erfahrungen in der Schule oder an anderen Orten u. v. a. ab.
Quelle: Kooijman-van Thiel, M. (Hg.) (2008): Hoogbegaafd. Dat zie je zó! Over zelfbeeld en imago van hoogbegaafden. Ede: OYA Productions, 2008. Übersetzung: Karin Hilbers
Anton setzt sich zusammen mit dem Psychologen mit dem Modell der Hochbegabung auseinander. Schon bald erkennt er, woran er selbst arbeiten kann. Mit der Unterstützung des Psychologen formuliert er sein Ziel für die Gespräche wie folgt: »Problematisch sind für mich Situationen, in denen etwas in einer Weise geschieht, die ich für einfach unerträglich halte. Ich will lernen, was dann eigentlich in mir geschieht. Was fühle ich dann? Ich kann die meisten Dinge vom Kopf her gut durchdenken, aber dann werde ich plötzlich überwältigt von verschiedenen Gefühlen – und die verdränge ich dann auch wieder, weil ich nicht weiß, wie ich damit umgehen muss. Ich will lernen, damit effektiver umzugehen, als ich dies jetzt tue.« Der Psychologe und Anton verabreden gemeinsam, dass sie die folgenden Themen behandeln wollen.
Wie der Psychologe Anton erklärt, werden sechs Grundgefühle oder auch Basisemotionen unterschieden (Ekman, 1999): wütend, ängstlich, froh, betrübt, erstaunt, entsetzt. Gemeinsam mit Anton beschreibt er die Merkmale: Was für ein Gefühl spürt er bei jeder dieser Emotionen?
Anton beschreibt dann mehrere Situationen, die ihm schwerfallen, etwa in kleineren Arbeitsgruppen oder im Freundeskreis. Diese Situationen spielt er dann mit dem Psychologen nach.
Dabei geht Anton dann tiefer darauf ein, was er in dem Moment, in dem er eine so heftige Reaktion zeigt, eigentlich fühlt. So lernt er, sein Gefühl selbst besser zu erkennen und zu benennen. Zuerst die Grundgefühle, dann noch einige weitere Emotionen. Er merkt jetzt, dass er z. B. in der Schule oft wütend ist – auf einen Lehrer oder einen Mitschüler. Oder daheim auf seinen Vater. Hinter dem, was sich zunächst wie Wut anfühlte, versteckte sich aber oft noch mehr. Er erkennt jetzt, dass es in der Schule oft Enttäuschung war – oder Machtlosigkeit; manchmal auch eher Kummer, und manchmal sogar Empörung. Beim nächsten Gespräch erzählt er dem Psychologen von einigen Erfahrungen. Beispielsweise hat er neulich mit seinem Vater über einen Artikel in der Zeitung diskutiert. Sie waren nicht einer Meinung. Früher wäre er wütend geworden, jetzt merkt er, dass es ein anderes Gefühl ist, und spricht mit dem Psychologen darüber. Gemeinsam benennen sie das Gefühl: Meine Meinung wird nicht respektiert. Hier hat Anton einen Ansatzpunkt. Für das nächste Mal, wenn er mit seinem Vater eine solche Diskussion hat, nimmt er sich vor, genau dies offen auszusprechen.