Ronnie Schöb

DER STARKE
SOZIALSTAAT

Weniger ist mehr

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Sozialstaat bedeutet Sicherheit für alle, gerade in unsicheren Zeiten wie diesen. Selbst für die, die sich auf der sicheren Seite wähnen. Doch der Glaube an die Stärken unseres Sozialstaates zerfällt, der gesellschaftliche Grundkonsens ist gefährdet. Der renommierte Ökonom Ronnie Schöb präsentiert einen großen Entwurf für eine Modernisierung, die neues Vertrauen schafft. Seine Überzeugung: Wir müssen uns von dem interessengeleiteten Klein-Klein der Sozialpolitik genauso verabschieden wie von den verkrusteten Strukturen eines in die Jahre gekommenen Sozialsystems. Weniger Bürokratie, Hilfe, wo Hilfe nötig ist, und vor allem Eigenverantwortung: So wird der Sozialstaat zukunftsfest.

Vita

Ronnie Schöb ist Professor für Finanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen. Schöb beschäftigt sich intensiv mit sozial- und arbeitsmarktpolitischen Fragen und bringt seine Forschungsergebnisse immer wieder in die öffentliche Diskussion ein.

INHALT

EINE NEUE VISION FÜR DEN SOZIALSTAAT — GEZIELTER HELFEN, STÄRKER FÜR DIE ZUKUNFT

DIE IDEE DES SOZIALSTAATS

DAS LEITPRINZIP: EIGENVERANTWORTUNG UND STAATLICHE FÜRSORGE IN DER NOT GEHÖREN ZUSAMMEN

SOZIALPOLITIK ALS BALANCEAKT: DAS EWIGE DILEMMA

DAS UNTERSTE SICHERHEITSNETZ STÄRKEN

Kapitel 1
Was einen modernen Sozialstaat ausmacht — SOLIDARITÄT, FÜRSORGE, EIGENVERANTWORTUNG

EINE ALTE IDEE: SOLIDARITÄT STATT ALMOSEN

WIR ALLE HABEN DAS BEDÜRFNIS NACH SICHERHEIT

VERSICHERUNGEN DECKEN VIELFÄLTIGE LEBENSRISIKEN AB UND SCHAFFEN SICHERHEIT

WARUM FÜR EINE VERSICHERUNG BEZAHLEN, WENN MAN NICHT HAFTET?

DER STAAT KANN HELFEN, WO PRIVATE VERSICHERUNGEN ÜBERFORDERT SIND

WIE UNS DER HEUTIGE SOZIALSTAAT KONKRET ABSICHERT

HOHE LEISTUNGSNIVEAUS

DIE GRUNDSICHERUNG DER EXISTENZ: EIN VERSPRECHEN AUF GEGENSEITIGKEIT

CHANCEN UND RISIKEN IM LEBEN SIND NICHT GLEICH VERTEILT

EINE SOZIALE ABSICHERUNG, DIE ALLE WOLLEN

GRUNDSICHERUNG HEISST FÜREINANDER EINSTEHEN

ALTRUISMUS MACHT NOCH KEINEN SOZIALSTAAT

ZWEI HAUPTPROBLEME FÜR DIE SOLIDARISCHE GRUNDSICHERUNG

VERSICHERUNGEN MACHEN NACHLÄSSIG

ZU VIEL FÜRSORGE WIRKT LEISTUNGSFEINDLICH

ES GIBT KEINE ZURÜCKHALTUNG IM SCHADENSFALL

ZU VIEL FÜRSORGE ERHÖHT DIE ANSPRÜCHE

Kapitel 2
Wenn alle Stricke reißen — DAS HERZ DES FÜRSORGLICHEN STAATES

DER ALLTÄGLICHE BEDARF

ESSEN GEHEN FÜR 8,12 EURO

BIER, SELTERS ODER LEITUNGSWASSER – WAS IST NOTWENDIG?

MAN BEKOMMT, WAS MAN WILL

EIN DACH ÜBER DEM KOPF

MÜNCHEN IST NICHT ÜBERALL

WO NOCH GEHOLFEN WIRD

ABGESICHERT – AUCH BEI KRANKHEIT UND PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT

MIT DEM BERLINPASS GÜNSTIGER FAHREN

ZUSÄTZLICHE UNTERSTÜTZUNG DURCH DIE TAFELN

WICHTIG UND TROTZDEM PROBLEMATISCH: VERGÜNSTIGUNGEN FÜR KINDER

WAS UNTER DEM STRICH HERAUSKOMMT

MACHT HARTZ IV WIRKLICH ARM?

WENN EIN EURO WENIGER PLÖTZLICH ARM MACHT: WILLKÜRLICHE ARMUTSGRENZEN

WELCHE ARMUTSQUOTE DARF ES DENN SEIN?

HARTZ IV: BESSER IN MÜNCHEN, SCHLECHTER IN LEIPZIG?

FALSCHE INTERPRETATION, UNBERECHTIGTE KRITIK

Kapitel 3
Hartz IV: Erfolgreich und zu Unrecht verhasst

FÜRSORGEPFLICHT UND ZWANG – UNAUFLÖSBARES DILEMMA?

WENN KINDER IN DER GRUNDSICHERUNG ZUM PROBLEM WERDEN

MITARBEITER GESUCHT – WAS UNS DAS ÜBER DAS SOZIALSTAATSDILEMMA SAGT

FORDERN UND FÖRDERN MÜSSEN SICH DIE WAAGE HALTEN

FÖRDERN STEHT IM VORDERGRUND: NEUE HINZUVERDIENSTMÖGLICHKEITEN

DER PREIS DES FÖRDERNS: MEHR LEISTUNGSBEZIEHER

KRAFTLOSE NACHBESSERUNG: DAS STARKE-FAMILIEN-GESETZ

WIE DIE GRUNDSICHERUNG NOCH ÜBERALL HILFT

DIE IDEE DES FORDERNS: WER WENIGER BEKOMMT, ARBEITET MEHR

SANKTIONEN FÜR LEISTUNGSBEZIEHER: MEHR ALS BLOSSE SCHIKANE

EIN ECHTES PROBLEM?

WIEDER IN ARBEIT: DIE ERFOLGE DER REFORMEN

VOM KRANKEN MANN EUROPAS ZUM ARBEITSMARKT-SUPERSTAR

NEUE SOZIALE SCHIEFLAGE? NEIN!

DIE NIEDRIGLOHNQUOTE: EIN SCHLECHTER SOZIALINDIKATOR

WAS ES BEDEUTET, WIEDER ZU ARBEITEN

MEHR SICHERHEIT FÜR WENIGER GELD

VIEL ERREICHT, ZU UNRECHT GESCHOLTEN – UND TROTZDEM NICHT AM ZIEL

Kapitel 4
Reform des Sozialstaats, aber wie? — IRREFÜHRENDE DEBATTEN UND GEFÄHRLICHE FORDERUNGEN

UNERWÜNSCHTE KONKURRENZ: DIE MINIJOBBER

WIE DIE MINIJOBS ALG-II-BEZIEHER BENACHTEILIGEN

WIE DER MINDESTLOHN DIE SOZIALPOLITIK PRIVATISIERT

SCHLECHTER ALS SEIN RUF

SOZIALPOLITIK GEHÖRT IN STAATLICHE HAND

MEHR FÜRSORGE – GUT GEMEINT, ABER FALSCH

BEDARFSSICHERUNG GEHT AUCH MIT MEHR EIGENLEISTUNG

DAS BEDINGUNGSLOSE GRUNDEINKOMMEN: AUFKÜNDIGUNG DER SOLIDARGEMEINSCHAFT

EINE BEDINGUNGSLOSE EXISTENZSICHERUNG OHNE ABSTRICHE

BGE: EINE TEURE FORM DER GRUNDSICHERUNG

ZU WENIG FÜRSORGE, ZU WENIG SELBSTHILFE

DAS BGE GEFÄHRDET DEN SOZIALEN ZUSAMMENHALT

Kapitel 5
Die Grundsicherung neu aufstellen — WO WIR ANSETZEN MÜSSEN

ZIELGENAU NUR BEI ALLEINSTEHENDEN

ALLES ANDERS: ANGEHÖRIGE UND KINDER IM HAUSHALT

DIE FÖRDERUNG VON KINDERN: OHNE ERKENNBARE LINIE

DIE AKTUELLE DISKUSSION UM DIE ABSICHERUNG DER KINDER

UNZUREICHEND GESCHÜTZT: WOHNEN WIR UNS ARM?

Kapitel 6
Eine neue Architektur der solidarischen Grundsicherung — WENIGER IST MEHR

SCHLANKER UND FOKUSSIERTER

ERSTER GRUNDPFEILER: VERSORGT, WENN MAN KEINE ARBEIT MEHR FINDET

WEITERHIN GUT ABGESICHERT

SOZIALVERSICHERUNGSPFLICHTIGE ARBEIT WIRD BELOHNT

ZWEITER GRUNDPFEILER: DIE SCHON LANGE ÜBERFÄLLIGE KINDERGRUNDSICHERUNG

ALLEINERZIEHENDE WERDEN BESSERGESTELLT

DOPPELTE SOLIDARITÄT MIT FAMILIEN

DRITTER GRUNDPFEILER: EINE NEUE WOHNBEDARFSSICHERUNG – EINFACH UND GERECHT

Kapitel 7
Solidarität und Eigenverantwortung — WIE DAS ZUSAMMENSPIEL GELINGT

FÜRSORGE GARANTIERT – SELBSTHILFE GESTÄRKT

MEHRARBEIT LOHNT SICH

ALLEINERZIEHEND HEISST NICHT (MEHR) ALLEINGELASSEN

BESSER VEREINBAR: FAMILIE UND BERUF

MEHR NACHDRUCK – WENN NÖTIG

NICHTSTUN WIRD TEURER

MITWIRKUNG EINFORDERN – SOLIDARITÄT IST KEINE EINBAHNSTRASSE

SOLIDARITÄT IM KLEINEN, HILFE FÜR VIELE

SOLIDARISCH AUFSTOCKEN: JEDER IM RAHMEN SEINER MÖGLICHKEITEN

ARBEIT MUSS SICH WIEDER LOHNEN – WIE DER SOZIALSTAAT DABEI HILFT

STIGMATISIERUNG VERHINDERN

KEINE ENTMÜNDIGUNG, SONDERN MEHR POLITISCHE TEILHABE

GUTE JOBS – SCHLECHTE JOBS

MINIJOBS ABSCHAFFEN!

EIN STARKER SOZIALSTAAT BRAUCHT KEINE MINDESTLÖHNE

DIE RECHNUNG BITTE!

Kapitel 8
Kein Sozialstaatsmagnet — WO DER SOZIALSTAAT SINNVOLLE GRENZEN ZIEHEN MUSS

EIN HOHES GUT: FREIZÜGIGKEIT IN EUROPA

KONTROLLE IST WICHTIG

THEORIE UND PRAXIS

ANSPRUCH SCHON BEI WENIGEN STUNDEN ARBEIT

DEUTSCHLAND – EIN SOZIALSTAATSMAGNET?

PROBLEMFÄLLE BULGARIEN UND RUMÄNIEN?

GEREGELTER ZUTRITT IST MÖGLICH

HEIMATLANDPRINZIP STATT WOHNSITZLANDPRINZIP?

WENIGER ANZIEHUNGSKRAFT FÜR DEN SOZIALSTAATSMAGNETEN

Kapitel 9
In Würde altern — KLEINE RENTEN FÖRDERN, VORSORGE STÄRKEN

DIE DEUTSCHEN WERDEN ÄLTER

LÄNGER LEBEN, LÄNGER ARBEITEN?

WENN DIE RENTE NICHT MEHR AUSREICHT

GRUNDSICHERUNG IM ALTER

GRUNDRENTE: AUSWEG AUS DER ALTERSARMUT?

DAS DILEMMA DER ALTERSVORSORGE

ALTERSARMUT VERMEIDEN – SO GEHT ES

DIE NEUE GRUNDSICHERUNG: SCHUTZ AUCH IM ALTER

GEMEINSAM UNBESORGT ALT WERDEN

EPILOG — VOR GROSSEN HERAUSFORDERUNGEN

LITERATURVERZEICHNIS

DATENQUELLEN UND STATISTIKEN

RECHTSQUELLEN UND PARLAMENTARISCHE DRUCKSACHEN

ANMERKUNGEN

EINE NEUE VISION FÜR DEN SOZIALSTAAT

1 WAS EINEN MODERNEN SOZIALSTAAT AUSMACHT

2 WENN ALLE STRICKE REISSEN

3 HARTZ IV: ERFOLGREICH UND ZU UNRECHT VERHASST

4 REFORM DES SOZIALSTAATES, ABER WIE?

5 DIE GRUNDSICHERUNG NEU AUFSTELLEN

6 EINE NEUE ARCHITEKTUR DER SOLIDARISCHEN GRUNDSICHERUNG

7 SOLIDARITÄT UND EIGENVERANTWORTUNG

8 KEIN SOZIALSTAATSMAGNET

9 IN WÜRDE ALTERN

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

GLOSSAR DER WICHTIGSTEN BEGRIFFE

DANKSAGUNG

REGISTER

EINE NEUE VISION FÜR DEN SOZIALSTAAT

GEZIELTER HELFEN, STÄRKER FÜR DIE ZUKUNFT

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, war die Welt noch in Ordnung. Ökonomisch ging es Deutschland besser als je zuvor. Die Menschen machten sich immer weniger Sorgen um den Arbeitsplatz, die eigene wirtschaftliche Situation und die allgemeine ökonomische Entwicklung.1 Unsere Wirtschaft präsentierte sich in guter Verfassung, hatte die Finanz- und Eurokrise gut gemeistert, auch die Herausforderungen im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, und wuchs Jahr für Jahr.

Der Staat konnte seine Verschuldung ebenso stetig senken. Zwar gab es Diskussionen über größer werdende Vermögensungleichheiten und darüber, was der Sozialstaat über das hinaus, was er schon leistete, noch alles tun sollte. Doch die Einkommen stiegen, und davon profitierten zuletzt zunehmend auch die Menschen mit den niedrigsten Löhnen.2 Wer arbeiten wollte, fand Arbeit, und in vielen Regionen herrschte Vollbeschäftigung. Wir waren – fast – in einer Luxussituation. Und deshalb fühlten wir uns sicher.

Dann aber traf uns völlig unerwartet die große Krise. Ein Virus, das sich von der chinesischen Stadt Wuhan unaufhaltsam und mit rasender Schnelligkeit über die ganze Welt ausbreitete, nahm uns von einem Tag zum anderen all unsere Sicherheit.

Wir begannen, Abstand voneinander zu halten, und wurden uns zugleich bewusst, wie stark wir aufeinander angewiesen sind. Schnell zeigte sich: Wir, die Bürger, konnten uns in der Krise einerseits auf die hohen sozialen Standards verlassen, die in den letzten Jahrzehnten geschaffen worden waren. Konkret bedeutet das: Wer aufgrund einer Corona-Infektion erkrankt, wird automatisch versorgt, die Kosten übernimmt die Krankenversicherung, und für den Lohnausfall steht der Arbeitgeber ein. Kündigungsschutzregelungen verbieten Massenentlassungen von einem auf den anderen Tag. Die geltenden Kurzarbeiterregelungen helfen Unternehmen zu überleben und schützen so unsere Arbeitsplätze. Wer arbeitslos wird, weil seine Firma die Krise nicht überlebt, erhält Arbeitslosenunterstützung. Selbstständige ohne Arbeitslosenversicherung fängt die sozialstaatliche Grundsicherung auf.

Darüber hinaus handelte der Staat schnell und entschlossen – nicht nur mit Kontaktverboten, sondern auch mit Hilfsprogrammen in nie zuvor gesehenem Ausmaß. Bereits im März, als das Coronavirus gerade begann, sich in Deutschland auszubreiten, wurde ein gewaltiges Schutzpaket verabschiedet, das den Zugang zu den Sozialleistungen in der Krise deutlich vereinfachte. Wer zum Beispiel sein Geschäft schließen musste, um Ansteckungswege zu unterbinden, konnte auf schnelle Unterstützung zählen, durch Zuschüsse, Mietstundungen oder Kredite. Wer das Gefühl hatte, sich infiziert zu haben, konnte zu Hause bleiben und sich – wenn nötig – auch ohne persönliche Vorstellung beim Arzt telefonisch krankschreiben lassen, um so niemanden zu gefährden. Er konnte dies tun, ohne finanzielle Konsequenzen fürchten zu müssen.

Der Sozialstaat war da – und er tat das, was seine Aufgabe in solchen existenziell bedrohlichen Situationen ist: Er half zügig und unbürokratisch. Dass mancher hierzulande gerne noch mehr Unterstützungsprogramme gesehen hätte, bleibt davon unberührt. Im internationalen Vergleich jedenfalls suchte das deutsche sozialstaatliche Niveau schon vor der Pandemie seinesgleichen. Für die zusätzlich gewährten Krisenhilfen galt das Gleiche.

Denn was für uns schon in Normalzeiten selbstverständlich ist, ist es in den meisten anderen Ländern selbst in extremen Krisenzeiten nicht. Auch nicht im reichsten Land der Welt. Allein in den ersten sechs Wochen nach dem Ausbruch der Corona-Krise verloren über 30 Millionen US-Amerikaner ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrundlage. Wer die Nachrichten aufmerksam verfolgte, konnte lernen: Die meisten Menschen in den USA kennen weder Kündigungsschutz noch Lohnfortzahlung. Hinter ihnen steht nicht einmal im Ansatz ein sie auffangender Sozialstaat, wie wir ihn kennen, allenfalls eine minimalistische Grundsicherung, die zum Leben kaum reicht.

Und nun? Angesichts der Wucht, mit der die Pandemie die auch sozialstaatlich schlecht vorbereiteten Vereinigten Staaten traf, blieb der US-Regierung nichts anders übrig als zu handeln, um im Wahljahr mit einem sozialen Sofortprogramm eine drohende Massenverelendung zu verhindern. Doch die Maßnahmen kamen spät und wurden nur langsam umgesetzt.3 Derweil wuchsen die Existenzängste in der Bevölkerung. Und die Schlangen vor den Foodbanks, den Essensausgabestellen für Bedürftige, wurden länger und länger. Auch viele Menschen aus der Mittelschicht mussten sich einreihen.4

Das Fehlen eines funktionstüchtigen Sozialstaates, der unverschuldet in Not geratene US-Bürger zumindest ein Stück auffängt, verhinderte dabei auch eine schnelle Eindämmung des Virus. Denn es ist klar: Wer durch die Gemeinschaft nicht abgesichert wird und Angst hat, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, überlegt sich sehr genau, ob er sich beim ersten Anzeichen einer Erkältung auf das Coronavirus testen lässt. Und niemand geht freiwillig in Quarantäne, wenn er weiß, dass ihm der Lohn gestrichen wird oder er dadurch seinen Job verliert.

Deutschland war und ist da nicht nur schon in Normalzeiten anders aufgestellt. Durch die massiven zusätzlichen Hilfen in der Krise schuf die Bundesregierung auch die Voraussetzungen für eine schnelle wirtschaftliche Erholung. Und diese Erholung wird natürlich, selbst wenn es heute viele noch nicht absehen oder glauben können, irgendwann einsetzen.

DIE IDEE DES SOZIALSTAATS

Und wie soll der Sozialstaat dann aussehen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick zurück. Mancher mag es vor dem dramatischen Hintergrund der Corona-Krise nicht mehr präsent haben, aber in den Jahren davor führten wir hierzulande im Hinblick auf die Fragen nach den Aufgaben und Leistungen des Sozialstaates eine doch recht eigenartige Diskussion. Trotz gut laufender Wirtschaft und erfreulicher Entwicklung des Niveaus von Beschäftigung, Einkommen und sozialer Sicherheit schienen viele mit dem Erreichten in Sachen sozialstaatlicher Leistungen nicht mehr zufrieden. Nicht wenige redeten sie klein, sprachen gar von »Sozialstaatsdämmerung«5 – und meinten damit so etwas wie den Zerfall des Sozialstaates, der allmählich zu einem »Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat« verkümmere.6 Der Einzelne sei, so der Vorwurf, immer mehr auf sich selbst gestellt und zukünftigen Krisen schutzlos ausgeliefert. Der soziale Zusammenhalt löse sich auf. Der Sozialstaat müsse, so die Folgerung, massiv ausgebaut werden.

Natürlich sind seine Aufgaben und Leistungen immer wieder einmal gründlich zu hinterfragen. Genau das tue ich auch in diesem Buch. Diese Kritik aber ist – in Inhalt und Form – nicht nur unberechtigt, sie ist gefährlicher Unsinn.

Ich hatte – wie fast alle anderen auch – eine weltweite Pandemie dieses Ausmaßes und ihre Folgen nicht kommen sehen, als ich mit den Überlegungen zu meinem Buch begann. Für mich ging es um Fragen, wie der Sozialstaat mit einer möglichen »normalen« Wirtschaftskrise infolge sich verändernder Globalisierungsbedingungen umgehen kann. Etwa, wie er in Zeiten wachsender geostrategischer und handelspolitischer Unsicherheiten – insbesondere bedingt durch das Erstarken Chinas und das unstete Lavieren der USA – am besten aufgestellt ist. Oder wie er der Gefahr begegnet, dass die fortschreitende Digitalisierung womöglich viele unserer Arbeitsplätze vernichtet.

Für mich als Ökonom stand fest: Die nächste Wirtschaftskrise wird kommen. Und für mich stand ebenfalls fest: Auf diese Krise ist der deutsche Sozialstaat, so stabil er im Vergleich mit anderen auch erscheint, nicht ausreichend vorbereitet. Er muss reformiert werden, und zwar an einer entscheidenden Stelle: der Grundsicherung.

Die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen haben mich in dieser Überzeugung bestärkt. Wir brauchen eine neue Vision eines an den Herausforderungen von morgen ausgerichteten, eines in diesem Sinne »starken Sozialstaates«. So lautet denn auch der Titel dieses Buches.

Zwar mag es sein, dass unser Sozialstaat nach der Krise ein etwas anderer ist, als er vor der Pandemie war. Denn nach einer ersten Phase großer Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg begannen die Parteien und viele gut organisierte Lobbygruppen wie Branchenverbände, Gewerkschaften oder Arbeitgebervertretungen schon sehr bald wieder damit, ihre politischen Sonderinteressen zu verfolgen. Die SPD etwa brachte die (zunächst befristete) Erhöhung des Kurzarbeitergeldes für ihre Stammwähler durch, im Gegenzug durfte die CSU den Mehrwertsteuersatz für Cafés und Restaurants (ebenfalls zunächst befristet) von 19 Prozent auf 7 Prozent absenken. Noch ist aber nicht klar, was von diesen – und anderen – kostspieligen Regelungen zugunsten bestimmter Gruppen bleiben wird.

Ausgangspunkt meiner Argumentation in diesem Buch kann daher nur der Sozialstaat sein, wie er vor der Krise existierte. Von ihm ausgehend entwickle ich meine Vorschläge für eine Reform der Grundsicherung für wirklich in Not geratene Menschen, um die es mir hier geht. Denn als unterstes Sicherheitsnetz, das auffängt, wenn alle Stricke reißen, ist sie es, die bestimmt, wie stark der Sozialstaat wirklich ist.

DAS LEITPRINZIP: EIGENVERANTWORTUNG UND STAATLICHE FÜRSORGE IN DER NOT GEHÖREN ZUSAMMEN

Die Wurzeln des modernen Sozialstaats, der von seinen Bürgern her gedacht wird und nicht von einer wie auch immer gearteten Obrigkeit, sind alt. Bereits die erste Verfassung der Französischen Republik aus dem Jahr 1793 führt in Artikel 21 die zentrale soziale Aufgabe des Staates an:

»Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Bürgern den Unterhalt, sei es, dass sie ihnen Arbeit verschafft, sei es, dass sie denen, welche zu arbeiten außerstande sind, die Existenzmittel gewährt.«7

Sie betont, dass für den Schutz des Einzelnen vor Armut Eigenverantwortung und Fürsorge durch die Gemeinschaft zusammengehören. Ihre Botschaft ist damit eindeutig: Wer arbeiten möchte, aber keine Arbeit findet, aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten kann oder trotz seiner Arbeit in Armut lebt, dem schuldet die Gemeinschaft Unterstützung. Wer aber zu arbeiten in der Lage ist, soll sich selbst helfen. Ich finde: Das ist ein klares und einfaches Prinzip, das sich nach Fairness anhört und das auch heute – immer noch oder wieder – leitend sein sollte.

Ein Prinzip freilich ist das eine, die praktische Ausgestaltung bis ins Detail ist etwas anderes. Damit der Staat erwarten kann, dass sich möglichst viele seiner Bürger selbst um ihren Lebensunterhalt kümmern können, muss er die Voraussetzungen dafür schaffen. Es ist also seine Aufgabe, ein funktionierendes Bildungssystem zu schaffen, in dem jeder Bürger lernen und sich laufend weiterqualifizieren kann, sei es schulisch, praktisch oder akademisch, und das jedem Bürger entsprechend seinen Talenten die gleichen Erfolgsaussichten bietet. Doch das allein genügt noch nicht. Der Staat muss zudem eine funktionierende marktwirtschaftliche Ordnung gewährleisten. Nur in einem solchen System können sich die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Arbeitswelt entfalten und die Leistungen entsprechend belohnt werden.

Erfolg allerdings hat nicht nur mit Leistung zu tun, sondern auch viel mit Glück.8 Genau an dieser Stelle setzt der moderne Sozialstaat an – und die Aufgabe, ihn gut aufzustellen und zu stärken. Ein Kern seiner Stärke ist dabei das implizite Versprechen aller Bürger, sich gegenseitig zu helfen, wenn das Glück sie einmal verlässt und sie existenziell in Not geraten. Genau dieses wechselseitige Versprechen, das der Idee des modernen Sozialstaates innewohnen sollte, gibt dem Einzelnen am Ende die Sicherheit, die nötig ist, um sich im Leben und im Job auszuprobieren und sich selbst etwas aufzubauen.

SOZIALPOLITIK ALS BALANCEAKT: DAS EWIGE DILEMMA

Allerdings muss der Sozialstaat erst einmal herausfinden, wer wirklich in Not ist und Unterstützung braucht und wer sich problemlos selbst helfen kann und das dann auch tun soll. Dabei steht er vor einem immer wiederkehrenden Dilemma. Es lautet: Zu viel Fürsorge untergräbt die Bereitschaft zur Selbsthilfe und verstärkt die Probleme, die sie eigentlich lösen will. Zu wenig Fürsorge fördert zwar Eigeninitiative, nimmt aber billigend in Kauf, dass diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, im Stich gelassen werden.

Es gibt unterschiedliche sozialpolitische Ansätze, dieses Dilemma anzugehen und – mehr oder weniger – systematisch aufzulösen. Einige Länder setzen fast ausschließlich auf die Eigenverantwortung, getreu dem Motto »jeder ist seines eigenen Glückes Schmied«. Der Staat verzichtet dort ganz auf die Übernahme sozialer Verantwortung. Wie das Beispiel USA zeigt, ist dieser Ansatz, allein auf die Eigenverantwortung des Einzelnen zu vertrauen und nicht wenigstens ein Mindestmaß an sozialem Sicherheitsnetz anzubieten, spätestens in der Corona-Krise grandios – beziehungsweise fast tragisch – gescheitert.

Ein anderer Weg, dieses Sozialstaatsdilemma zu lösen, ist für manche die Schaffung des »gläsernen Bürgers«. Big Data, also das Sammeln von großen Datenmengen und riesige Rechenkapazitäten zu deren Verarbeitung, machen dies mittlerweile – zumindest annähernd – möglich. Mit dem sogenannten Social Scoring geht etwa China diesen Weg bereits. Der Staat hortet hier alle möglichen Daten über seine Bürger, um deren gesellschaftskonformes Verhalten festzustellen und es im gewünschten Sinn zu steuern. Was das »richtige Verhalten« ist, entscheidet dabei allein die politische. Mit dieser totalen sozialen Kontrolle will sie letztlich, eine »Mentalität der Ehrlichkeit« schaffen9 – und so ihre eigene Macht absichern.

Ohne Zweifel ist das eine für westliche Demokratien und ihre Bürger beängstigende Methode. Die Idee freilich, moderne Technologien einzusetzen, findet mittlerweile nicht mehr nur in autoritären Staaten Gefallen. Großbritannien etwa benutzt Big Data, um soziale Problemfälle zu identifizieren. Und das österreichische Arbeitsministerium will herausfinden, wer gute und wer schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat und entsprechend gefördert werden sollte.10

Soll das die Zukunft unseres Sozialstaates sein? Um den Preis, dass wir unsere individuelle Freiheit, den Kern unserer Werte, unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und unserer Art zu leben aufgeben müssen? Das kann nicht die Lösung sein. Dieser Preis wäre zu hoch.

Eine andere Möglichkeit wäre, nicht pauschal alle Bürger in ihren Freiheitsrechten zu begrenzen, sondern nur diejenigen, die unmittelbar auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen sind. Etwa indem der Sozialstaat seine Bereitschaft zur Hilfe in Not an eine Pflicht zur Gegenleistung knüpft. Konkret: Staatliche Unterstützung gibt es in diesem Modell nur als Gegenleistung für öffentliche Arbeit.11 Die Logik ist dabei die: Je mehr der Staat an Gegenleistung für seine Fürsorge einfordert, desto größer wird der Anreiz für die Betroffenen, schnell wieder Arbeit im privaten Sektor zu finden. In diesem Modell wird das Sozialstaatsdilemma also letztlich dadurch gelöst, dass der Staat jedem Bürger immer die Möglichkeit gibt, sich selbst zu helfen – entweder im privaten Sektor oder, wenn es dort nicht geht, im Rahmen einer schlecht bezahlten öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

Die radikale Idee, die hinter diesem Ansatz steckt: Wer diese Möglichkeit hat, der braucht am Ende gar keine staatliche Unterstützung. Diese Idee wurde vor Einführung der Hartz’schen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen in Deutschland ernsthaft diskutiert.12 Doch ein in dieser konsequenten Weise fordernder Staat stößt in Deutschland auf breite Ablehnung. Zu Recht, denn mit einer so radikalen Verpflichtung aller, für jede Leistung des Staates eine Gegenleistung zu erbringen, verbaut der Sozialstaat vielen die Chance, entsprechend ihren eigenen Fähigkeiten und Talente wieder für sich selbst zu sorgen.

Andere Ideen weisen in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollen das Dilemma der Sozialpolitik im Spannungsfeld zwischen Eigeninitiative und Fürsorge einfach ignorieren. Der Sozialstaat soll schlicht jedem Bürger das uneingeschränkte Recht zugestehen, Nein! sagen zu können. Mit anderen Worten: Wer nicht arbeiten will, soll es auch nicht müssen.13 Jeder kann dann also machen, was er will – auch sein Leben lang faul sein. Der Staat stünde trotzdem in der Pflicht, ihn zu versorgen.

Die mit diesem Ansatz verknüpfte Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) hat seit einiger Zeit Hochkonjunktur und durch die Corona-Krise sogar noch neue Anhänger gefunden. Schon kurz nach dem Beginn des Lockdowns etwa hatten über 460.000 Unterstützer eine Online-Petition für die (zumindest vorübergehende) Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens unterzeichnet.14

Es ist klar: Selbsthilfe wird in diesem Modell nicht mehr eingefordert. Aber ein Recht auf Faulheit zu gewähren ist lebensfern, und zur Finanzierung gibt es mehr als riesengroße Fragezeichen, wie ich später noch zeigen werde. Für mich disqualifiziert sich das bedingungslose Grundeinkommen daher selbst.

DAS UNTERSTE SICHERHEITSNETZ STÄRKEN

Mehr Überwachung, radikales Fordern oder bedingungslose Fürsorge: Der deutsche Sozialstaat hat in den letzten 70 Jahren keinen dieser Ansätze verfolgt. Stattdessen hat der von ihm eingeschlagene Weg eine Erfolgsgeschichte begründet mit immer weitreichenderer sozialer Absicherung eines immer größeren Anteils der Bevölkerung. Neben unseren Sozialversicherungen – also Arbeitslosen-, Unfall-, Renten- und Unfallversicherung – bietet dabei vor allem die steuerfinanzierte Grundsicherung für existenziell in Not geratene Bürger besonderen Schutz. Sie ist das unterste Netz, das auch diejenigen auffängt, die von den Sozialversicherungssystemen nicht oder nur unzureichend unterstützt werden.

Soll dieses Netz den Ansprüchen eines starken, zukunftsfähigen Sozialstaates gerecht werden, muss es bei drohender Arbeitslosigkeit, sinkenden Einkommen, explodierenden Mieten, rasant wachsenden Ausgaben für Kinder und drohender Altersarmut die bestmögliche Absicherung bieten – und zwar genau dann, wenn alle anderen vorgelagerten Sicherungssysteme versagen.

Genau das ist heute nicht der Fall. Denn auch wenn der deutsche Sozialstaat in vielem eine Erfolgsgeschichte ist: Gerade jetzt, wo die Bewältigung dieser Schutzaufgaben vor dem Hintergrund der Krise und großer Veränderungen wie Globalisierung und Digitalisierung immer drängender wird, klaffen im untersten Auffangnetz große Löcher.

Dabei ist es gerade dieses Auffangnetz, die Grundsicherung, das wir am dringendsten brauchen. Wer arbeiten kann, soll sich möglichst selbst helfen – das klassische Prinzip der Sozialstaatsidee. So muss der Sozialstaat auch heute so viel Eigeninitiative wie möglich fördern. Aber die, die sich nicht helfen können, werden wir nur dann sicher auffangen können, wenn die sozialstaatliche Grundsicherung wieder tragfähig ist. Welche Reformen dafür nötig sind, zeige ich in diesem Buch.

Ich werde dazu zunächst einmal den Fragen nachgehen, was einen modernen Sozialstaat ausmacht und warum dabei die Grundsicherung, das Herz des fürsorglichen Staates, so wichtig ist. Hier geht es um das soziokulturelle Existenzminimum, darum, ein Dach über dem Kopf zu haben, um die Unterstützung von Kindern und ein Minimum an sozialer Teilhabe.

Anschließend zeige ich, wie mit den Hartz’schen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der fürsorgliche Sozialstaat zunächst fordernder wurde, diese Forderungen aber im Zuge vieler irreführender Debatten oft wieder zurückschraubte. Die Folge war eine Schwächung der Grundsicherung für die wirklich Bedürftigen.

Mit dieser Bestandaufnahme im Gepäck stelle ich die Frage, wo wir im Kern ansetzen müssen, um die Grundsicherung neu aufzustellen. Dabei unterscheide ich unter anderem zwischen Alleinstehenden, Alleinerziehenden und (Ehe-)Paaren mit Kindern und betrachte die Unterschiede bei den Wohnorten.

Die Analyse der heutigen Grundsicherung und einiger Reformideen führt schließlich zu meinem eigenen, umfassenden Vorschlag: den einer wirklich solidarischen Grundsicherung. Die neue Grundsicherungsarchitektur, wie ich sie nenne, wird getragen von drei starken Pfeilern und schafft eine neue Balance von staatlicher Fürsorge und Stärkung der Eigeninitiative – vor allem (aber nicht nur) bei Familien mit Kindern und bei denen, deren Existenz von rasant steigenden Mieten bedroht ist.

Damit dieses neue System auch nachhaltig funktionieren kann, muss der Zugang zu den Grundsicherungsleistungen klar geregelt sein. Dabei gibt es vieles zu bedenken. Welche Ansprüche sollen Migranten haben? Wie lässt sich verhindern, dass der deutsche Sozialstaat ausgebeutet wird? Wie lassen sich Reformen und Lösungen mit EU-Bestimmungen wie etwa dem Recht auf Freizügigkeiten vereinbaren? Auch auf solche Fragen werde ich eingehen. Hier sind kreative Lösungen gefragt. Schließlich zeige ich im letzten Kapitel, wie auch Rentner, die immer mehr von Altersarmut betroffen sind, in die Absicherung durch die neue Grundsicherungsarchitektur einbezogen werden können und müssen.

Zum Nachschlagen zwischendurch finden Sie die wichtigsten im Text vorgestellten Begriffe, Regeln und Leistungen auf einem Blick erklärt im Glossar am Ende des Buches.

Die neue, solidarische Grundsicherung, wie ich sie vorschlage, setzt auf die doppelte Verantwortung des Einzelnen für sich selbst und die Gemeinschaft. Der starke Sozialstaat zeigt: Mehr soziale Sicherheit für die wirklich Bedürftigen zu gewährleisten wird umso besser gelingen, je mehr Eigeninitiative ermöglicht wird. Das Buch zeigt, wie das gehen kann.

Es ist Zeit, die Reform der Grundsicherung anzugehen und unseren Sozialstaat zukunftsfest zu machen. Wie nötig das ist, hat uns nicht nur die Corona-Pandemie mit ihren Folgen deutlich vor Augen geführt. Denn wir wissen: Die nächste Krise kommt bestimmt.

Kapitel 1
Was einen modernen Sozialstaat ausmacht

SOLIDARITÄT, FÜRSORGE, EIGENVERANTWORTUNG

Wir leben in einem reichen Land. Viele Menschen besitzen aber weder Vermögen noch hinreichende Möglichkeiten, mit ihrer Arbeit ausreichend Geld zu verdienen. Sie sind auf Hilfe angewiesen.

Bis ins späte Mittelalter ging man davon aus, dass Armut selbst verschuldet sei. Armenhilfe war daher meistens verbunden mit repressiven Disziplinierungsmaßnahmen. Menschen, die unverschuldet in Not gerieten, wurden ebenso wie Bettler bis ins 18. Jahrhundert hinein in Arbeitshäuser eingewiesen, in denen die Beschäftigung geregelt und kontrolliert werden konnte. Wer die Einweisung ablehnte, verlor jeden Anspruch auf Unterstützung.1

EINE ALTE IDEE: SOLIDARITÄT STATT ALMOSEN

Die Zeiten haben sich geändert. Wer heute alles verliert und in Not gerät, wird durch den Sozialstaat aufgefangen. Moderne demokratische Gesellschaften sehen den Staat in der Pflicht, seinen »unglücklichen Bürgern« zu helfen.

Dieser Sozialstaatsgedanke findet sich bereits 1793, nur wenige Jahre nach der Französischen Revolution, in der ersten Verfassung der Französischen Republik, die ich in der Einleitung bereits zitiert habe:

»Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Bürgern den Unterhalt, sei es, dass sie ihnen Arbeit verschafft, sei es, dass sie denen, welche zu arbeiten außerstande sind, die Existenzmittel gewährt.«

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bekennt sich ebenfalls, wenngleich allgemeiner formuliert, zum Sozialstaatsprinzip: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.«2

Beide Verfassungen haben die gleiche Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit und einem daraus abgeleiteten Ausgleich zwischen Arm und Reich. Die französische Verfassung von 1793 sah in der Gesellschaft eine Solidargemeinschaft aller Bürger, die ihre »glücklichen« Mitglieder dazu verpflichtet, den »unglücklichen« zu helfen. Nach Schuld wird nicht gefragt. Dafür wird bestimmt, wie geholfen werden soll. Möglichkeiten zur Selbsthilfe müssen geschaffen werden für die, die arbeiten können. Zuvorderst wird damit die Eigenverantwortlichkeit eingefordert. Denen, die nicht arbeiten können, soll aber das Existenzminimum zugesichert werden. Daraus leitet sich die Fürsorgepflicht der Gemeinschaft ab.

Diese Vorstellung von einem Sozialstaat ist heute so modern wie vor über 200 Jahren. Sie sieht im Sozialstaat eine Art Versicherung, die von allen Versicherten einen Beitrag einfordert, um diejenigen, die Schaden erleiden, zu unterstützen. Die eigentliche Aufgabe des Sozialstaates geht weit darüber hinaus, nur den Unglücklichen zu helfen. Was ihn eigentlich ausmacht, ist, dass er allen Bürgern hilft, indem er ihnen Sicherheit verspricht, das beruhigende Gefühl, in der größten Not nicht im Stich gelassen zu werden. Je mehr sich die Bürger auf dieses Versprechen verlassen können, desto stärker ist der Sozialstaat. Leider ist diese bedeutsamste Aufgabe des Sozialstaates in Vergessenheit geraten. Es ist jedoch wichtig, dass wir uns darauf wieder besinnen.

Der Staat schützt uns auf vielfältige Weise. Er reguliert und kontrolliert viele Lebensbereiche, sodass wir uns um viele Dinge des Alltagslebens keine Sorgen machen müssen. Er schreibt vor, was in unsere Lebensmittel hineindarf, und gibt uns damit Sicherheit beim täglichen Einkauf. Mit den Kündigungsschutzregelungen stellt der Staat sicher, dass wir nicht von einem Tag auf den anderen unsere Arbeit und damit unsere Existenzgrundlage verlieren, und er mischt sich ein, wenn es um den Schutz am Arbeitsplatz geht. Die Liste an regulierenden Eingriffen ließe sich noch beliebig lange fortsetzen.

Sicherheit schafft der Staat auch durch die gesetzlichen Sozialversicherungen. Sie schützen uns heute vor den finanziellen Folgen von Krankheit, Berufsunfällen und Arbeitslosigkeit und helfen uns bei der Altersvorsorge. Und wenn all das nicht ausreicht, unterstützt er uns mittels seines Steuer- und Transfersystems, das Einkommen von Besserverdienern zu Geringverdienern umverteilt. Er tut dies, weil er davon ausgeht, dass Erfolg nicht nur mit Leistung, sondern auch viel mit Glück zu tun hat.3 Staatliche Umverteilung wirkt dann wie eine Versicherung zwischen den »Glücklichen« und den »Unglücklichen«, die uns gegen unsere Karriere- und Lebensrisiken, die sich ansonsten nicht versichern lassen, absichert. Dessen sollten wir uns bewusst sein!

Die Grundsicherung ist dabei eine Art Basisversicherung für alle Bürger. Sie ist das unterste soziale Auffangnetz, das uns immer auffängt, wenn alle anderen Stricke reißen. Sie verhindert, dass wir unsere Existenzgrundlage verlieren. Wir dürfen sie aber nicht als Almosen des Staates oder der Gesellschaft gegenüber den Bedürftigen interpretieren. Wir sollten sie als solidarische Grundsicherung verstehen, die wie eine Versicherung auf Gegenseitigkeit klar definierte Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder festlegt, sodass alle von dem gegenseitigen Schutz vor Armut profitieren können. Genau dies hat der moderne, der starke Sozialstaat zu leisten.