Jörg Bernardy, geboren 1982, hat in Philosophie promoviert und beschäftigt sich mit dem kreativen Potenzial von philosophischen Ideen zwischen Theorie und Praxis. Er war mehrere Jahre für DIE ZEIT tätig und lebt als freier Autor in Hamburg. Beim Schreiben hat er sich mal männlich, mal weiblich und meistens gar nicht geschlechtlich gefühlt, sondern verwundert, neugierig und manchmal auch verwirrt.
Nina Meischen, aufgewachsen direkt am Deich auf der Halbinsel Butjadingen, lebt und arbeitet in Hamburg als freiberufliche Illustratorin und Grafik-Designerin.
Kim Salmon, Jahrgang 1999, schreibt Kurzgeschichten, Gedichte und Texte für die Bühne und verbringt den Rest des Tages mit Klettern, Pfannkuchenessen und dem Abreißen von Nazi-Aufklebern.
Karlotta Freier arbeitet als Illustratorin in Hamburg. Neben Aufträgen für u.a. Brigitte oder Zeit Online, arbeitet sie an ihrer ersten Graphic Novel. 2018 wurde sie mit dem ADC Young Ones Award ausgezeichnet.
Merlin Krzemien, geboren 1999, studiert Politik und Philosophie in London. Stammt von der französischen Grenze. Spielt Theater, läuft Halbmarathon. Leidenschaftlicher Kunstgucker. Schreibt, seit er kann.
Lena Gröne studiert Kommunikationsdesign an der HAW Hamburg im Fachbereich Fotografie und Zeichnung und beschäftigt sich mit den Themen des menschlichen Ursprungs sowie der Vergänglichkeit.
Luma von Perfall ist eine deutsch-brasilianische Fotografin. In ihren Arbeiten setzt sie sich mit den Themen Sexualität, Intimität und Heimat auseinander.
Julian Litschko, geboren 1991, studiert Kommunikationsdesign an der Muthesius Kunsthochschule Kiel und bewegt sich zwischen den Bereichen Grafik und Illustration.
Philipp Neudert (*1997) ist Preisträger des Treffens Junger Autoren, Stipendiat des Literaturlabors Wolfenbüttel und der Bayrischen Akademie des Schreibens und studiert Philosophy & Economics in Bayreuth.
Lena Riemer, Jahrgang 2002, ist eine Poetry Slammerin aus dem Düsseldorfer Raum. In ihren Texten beschäftigt sie sich sowohl mit sehr persönlichen als auch mit gesellschaftsbezogenen Themen.
Ein Mensch ist mehr, als man denkt!
IDENTITÄT
IDENTITÄT
Wenn man länger in den Spiegel schaut, wird man sich fremd
Natürlich weiß ich, wer ich bin – oder?
Jeder Mensch hat ein Geschlechtsgefühl
Wie stark wird mein Geschlecht von außen geprägt?
Was mich ausmacht und wie mich andere sehen
Wie männlich oder weiblich bin ich eigentlich?
Nina Meischen: In Natura
Nina Meischen: In Natura
Kim Salmon: Im Büro
Kim Salmon: Im Büro
UMFELD
UMFELD
Man sucht sich nicht aus, wie man aufwächst
Welche Rolle spiele ich?
Verhalten wir uns stereotypisch?
Wer wird wie dargestellt?
Karlotta Freier
Karlotta Freier
Merlin Krzemien: Sechs/Vierzehn
Merlin Krzemien: Sechs/Vierzehn
KÖRPER
KÖRPER
Was ist eigentlich der Körper?
Bloß weg von der Natur?
Wozu eigentlich Ideale, die niemand ganz erfüllt?
Sollen wir uns schämen?
Wollen wir uns ekeln?
Lena Gröne: Körperlichkeiten
Lena Gröne: Körperlichkeiten
LIEBE
LIEBE
Normal bedeutet nicht, dass alle gleich sind
Wer oder was entscheidet, auf wen ich stehe?
Was beeinflusst meine Partnerwahl?
Warum wird man ein Paar?
Kann man sich seine Familie aussuchen?
Leben wie im Porno?
Luma von Perfall: Steffi
Luma von Perfall: Steffi
BERUF
BERUF
Du bist, was du tust
Entscheidet mein Geschlecht, was ich werde?
Wie finde ich den Beruf, der zu mir passt?
Wozu überhaupt arbeiten?
Familie oder Arbeit?
Julian Litschko: Wer bin ich wo?
Julian Litschko: Wer bin ich wo?
Philipp Neudert: Du bist jetzt ein Mann
Philipp Neudert: Du bist jetzt ein Mann
ZUSAMMENLEBEN
ZUSAMMENLEBEN
Wer entscheidet über die Bedeutung von Begriffen?
Wie funktioniert soziale Ausgrenzung?
Kann man mit Sprache die Gesellschaft verändern?
Wie gleich oder unterschiedlich wollen wir sein?
Rollenbilder sind eine Frage der Gewohnheit!
Lena Riemer: Ich – Ein Mensch
Lena Riemer: Ich – Ein Mensch
Frau oder Mann, alt oder jung, dick oder dünn, selbstbewusst oder schüchtern – nach diesen und vielen anderen Merkmalen sortieren wir Personen jeden Tag unbewusst ein. Auch uns selbst ordnen wir bestimmten Gruppen zu. Aber welche Bedeutung haben diese Kategorien eigentlich für unsere Persönlichkeit? Was würde sich ändern, wenn man zum Beispiel ein anderes Geschlecht hätte? Würde man sich anders fühlen und anders verhalten?
Ja, in diesem Buch geht es um Identität. Aber es ist kein Ratgeber, der einem sagt, wie man schöner, klüger und erfolgreicher wird. Es geht darum, zu verstehen, wodurch man die Person wird, die man ist. Die menschliche Identität lässt sich wissenschaftlich schwer fassen. Weder im Gehirn noch sonst wo im menschlichen Körper lässt sich so etwas wie eine Persönlichkeit oder ein Ich nachweisen. Unsere Identität ist vor allem ein Gefühl, das sich meist gar nicht so richtig oder nur schwer in Worte fassen lässt.
Das, was wir Identität oder Individualität nennen, ist auch das Ergebnis eines sozialen Prozesses. Denn niemand kommt als fertiges Ich auf die Welt. Von der Kindheit bis zur Berufswahl haben andere Menschen und die Gesellschaft einen Einfluss darauf, wie wir denken, fühlen und entscheiden: Die eigene Geschlechtsidentität zum Beispiel entwickelt sich in der Kindheit, und erst ab einem bestimmten Alter fühlen sich Kinder einem Geschlecht zugehörig. Aber: Wie fühlt es sich an, ein bestimmtes Geschlecht zu haben?
Unser Körper mag uns als naturgegeben erscheinen, und das ist auch nicht falsch. Andererseits sind unsere Wahrnehmung von Körpern oder auch die Regeln, wie man seinen Körper zeigen darf, gesellschaftlich geprägt. Genauso entsteht der individuelle Geschmack nicht unabhängig von anderen Menschen, selbst bei der Berufs- und Partnerwahl werden wir durch gesellschaftliche Vorstellungen und Ideale beeinflusst. Wäre ich unter anderen Bedingungen und in einer anderen Gesellschaft ein anderer Mensch? Und bin ich wirklich zu hundert Prozent die Person, die ich sein will?
Auch wenn wir es uns nur selten bewusst machen, beeinflusst das Geschlecht, wie wir andere Menschen wahrnehmen und wie wir selbst uns verhalten. Wir brauchen solche Kategorien, um im Alltag handlungsfähig zu sein. Aber manchmal verändern und verstellen sie auch den Blick auf die Wirklichkeit. Das betrifft uns alle. In genau diesem Moment lebt jeder Mensch, egal an welchem Ort dieser Welt, unter bestimmten sozialen Bedingungen: mit einem Körper, einem Geschlecht, einem Charakter und einem Umfeld. Die eigene Identität ist nicht nur biologisch bedingt, sondern auch durch die Regeln und Gesetze der Gesellschaft, in der man lebt.
Wer sich seiner Identität bewusst ist und offen zeigt, was ihn ausmacht, ermutigt auch andere dazu, sich so zu zeigen, wie sie sind. Insofern ist die eigene Identität nicht nur Privatsache – denn wer sich nicht davon einschränken lässt, was als »normal« gilt, der verändert damit auch ein bisschen die gesellschaftlichen Vorstellungen von Normalität.
Wenn man in den Spiegel schaut, sieht man direkt in sein Gesicht. In meinem Fall ist es ein männliches Gesicht, meistens mit ein paar Bartstoppeln. Der Dreitagebart ist in unserer Kultur ein typisches Zeichen für Männlichkeit. Ich schaue weiter und sehe grün-braune Augen mit dunklen Augenbrauen. In der Mitte eine eher große als kleine Nase und einen Mund mit geschwungenen, vollen Lippen. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich um die Augen herum ein paar Lachfalten. Und dann passiert, was mich immer wieder aufs Neue erstaunt, wenn man jedes Detail seines Gesichts im Spiegel betrachtet. Die einzelnen Gesichtspartien verflüssigen sich.
Plötzlich sehe ich nicht mehr das mir vertraute Gesicht. Es ist auch kein eindeutig männliches Gesicht mehr, sondern die Gesichtszüge könnten ebenso die einer Frau sein. Die Lippen wirken irgendwie weiblich und die Augen sind nicht mehr dem einen oder anderen Geschlecht zuzuordnen. Und am Ende erkenne ich gar keine klaren Umrisse mehr. Ich habe mein Gesicht so lange angeschaut, bis ich mich selbst nicht mehr wiedererkenne. Ein Blick in den Spiegel reicht also, um zu erleben, dass die eigene Identität nicht so selbstverständlich ist, wie man meint.
Wonach hält man Ausschau, wenn man im Restaurant oder im Club die Toilette sucht? Nach Schildern mit einer Damen- oder einer Herrenfigur oder etwas Ähnlichem. Richtig? Und wenn nur ein »WC« ausgeschildert ist, wird man sich vor der Tür automatisch noch einmal vergewissern, ob es wirklich keine Männlichkeits- oder Weiblichkeitssymbole gibt, bevor man hineingeht. Im ICE ist es wiederum normal, dass es nur eine Toilette gibt, und nicht eine für Männlein und eine für Weiblein. Im Zug achtet man in der Regel nur darauf, ob es sich um eine normale Toilette oder um ein Behinderten-WC handelt. Normal? Manche Dinge sind eben so selbstverständlich, dass wir sie gar nicht mehr hinterfragen. Das trifft auf unser Ich und auf unser Geschlecht zu.
Jeder Mensch hat ein ungefähres Gefühl davon, wie und wer er ist. Aber wie fühlt es sich eigentlich genau an, dieses »Ich« zu sein? Gar nicht so leicht zu beschreiben. Das Gefühl mag vielleicht da sein, aber treffende Worte, um es zu auszudrücken, fehlen uns meist. So wie wir unser Ich für normal halten, so meinen wir vielleicht auch, unser Geschlecht sei selbstverständlich. Welches Geschlecht man hat, steht in der eigenen Geburtsurkunde und im Personalausweis. Es wird anhand körperlicher Merkmale festgelegt. Aber wenn man darüber nachdenkt, ist nicht so eindeutig, was das für das eigene Empfinden bedeutet. Können wir genauer erklären, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir männlich oder weiblich sind? Gibt es so etwas wie ein bestimmtes Geschlechtsgefühl? Oder andersherum gefragt: Ist es für mein Ich-Gefühl überhaupt wichtig, ob ich mich männlich oder weiblich fühle? Denn eines steht fest: Unser Geschlecht ist nicht einfach nur natürlich, auch wenn die meisten Menschen mit einem klar definierbaren Geschlecht geboren werden. Das Geschlecht ist keine rein biologische Angelegenheit. Denn nur weil man als Mann geboren ist, heißt das ja noch nicht, dass man männlich ist. Oder?
Die Beschreibung des eigenen Geschlechts ist auch deshalb so schwierig, weil jeder Mensch nicht nur ein Geschlecht hat. Genau genommen hat nämlich jeder zwei Geschlechter, ein biologisches und ein soziales. In der englischen Sprache gibt es dafür sogar zwei verschiedene Begriffe: Sex bezeichnet das biologische Geschlecht, das durch die Geschlechtsorgane sichtbar wird. Gender meint dagegen das soziale Geschlecht, also die kulturellen und psychologischen Merkmale. Für das soziale Geschlecht zählen Wahrnehmung, Gefühle und Verhalten des Menschen. Wie wirkt zum Beispiel ein Junge, der nach dem Rollerfahren den Helm abnimmt und mitten auf der Straße intensiv seine Haare bürstet und mit Haarspray zurechtstylt? Er könnte auch noch viele andere Dinge tun: Blumen für sich kaufen, mit Schürze kochen (sogar ziemlich gut!), Schmuck tragen, vielleicht sogar Ringe am kleinen Finger. Außerdem könnte er auf seine Figur achten, sehr auf Hygiene bedacht sein und gern Liebesfilme schauen. Würde man sagen, das sei eine weibliche Art, sich zu verhalten? Wäre sein soziales Geschlecht also weiblich oder interpretieren wir sein Verhalten lediglich so, weil wir diese Eigenschaften vor allem bei Frauen erwarten?
Das soziale Geschlecht zu definieren ist gar nicht so einfach, weil es keine Tatsache, sondern vielmehr ein Prozess ist. Das soziale Geschlecht ist die Summe aller Eigenschaften, die uns erlauben, einen Menschen einem Geschlecht zuzuordnen. Es umfasst also all die Dinge, die eine Person sagt oder tut, um sich selbst als Mann oder Frau auszuweisen. Wie man sich kleidet, spricht, bewegt und vor anderen verhält, aber auch wie man sich selbst beschreibt. Diese Eigenschaften und Verhaltensweisen erfindet nicht jeder neu, sondern sie werden davon beeinflusst, welche Erwartungen man gesellschaftlich mit einem Geschlecht verbindet: Man nimmt eine soziale Rolle ein.
Jeder lässt sich bewusst oder unbewusst von gesellschaftlichen Vorstellungen leiten, wenn man sich und anderen Eigenschaften zuschreibt. Man stelle sich ein komplett unaufgeräumtes Zimmer mit leeren Chipstüten und vergammelten Joghurtbechern vor. Gehört das Zimmer einem Jungen, sagen wir wahrscheinlich: Typisch Jungs, absolutes Chaos! Ist es ein Mädchenzimmer, fragen wir uns vielleicht: Was ist denn da los? – Mit diesen Reaktionen hat man bereits beiden Geschlechtern bestimmte Eigenschaften unterstellt. Woher aber kommt die Annahme, dass Mädchen ordentlicher sind als Jungen? Ist ein Geschlecht wirklich ordentlicher als ein anderes? Oder gehen wir dabei von gesellschaftlichen Vorstellungen aus, die auf eine konkrete Person gar nicht zutreffen müssen?
Während das biologische Geschlecht mehr oder weniger vorgegeben ist, entwickelt sich das soziale Geschlecht unter dem Einfluss von Gesellschaft, persönlichem Umfeld und Erziehung. Sein soziales Geschlecht erlernt man im Laufe seines Lebens und es kann sich auch ein ganzes Leben lang verändern. Dabei steht es jedoch in enger Verbindung mit dem eigenen Körper. Biologisches und soziales Geschlecht sind zwei Seiten derselben Medaille.
Wie lange dauert es eigentlich, bis ein Kind weiß, dass es ein Junge oder ein Mädchen ist? Bevor man sich einem Geschlecht zuordnen kann, muss man sich selbst wahrnehmen und über sich nachdenken können. Dazu muss sich zunächst überhaupt erst mal ein Ich-Bewusstsein entwickeln. Bis zum 14. Monat erkennen sich Kinder nämlich noch nicht im Spiegel. Erst in der Zeit zwischen dem 15. und 24. Monat verstehen Kleinkinder, dass ihr Spiegelbild sie selbst zeigt. Beim ersten Mal kann das ziemlich unheimlich oder auch besonders witzig sein, denn viele Kinder beginnen Grimassen zu schneiden, wenn sie sich das erste Mal im Spiegel sehen. In der Psychologie spricht man hierbei auch vom Spiegelstadium, in das ein Kind nun eintritt. Es ist die spannende Entwicklungsphase, in der sich das Ich entfaltet.
Interessanterweise findet parallel dazu eine erste entscheidende Entwicklungsstufe der geschlechtlichen Selbstwahrnehmung statt. Denn spätestens bis zum zweiten Lebensjahr bildet sich bei Kindern eine sogenannte Kerngeschlechtsidentität heraus. Psychologen meinen damit die innere Überzeugung, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Das subjektive Erleben, also wie wir selbst unser Geschlecht wahrnehmen, spielt eine entscheidende Rolle dafür, zu welchem Geschlecht wir uns zählen. Normalerweise wird dieses Gefühl gar nicht bewusst wahrgenommen. Erst wenn es vom biologischen Geschlecht abweicht, fällt es besonders auf. In den meisten Fällen stimmen das biologische, soziale und gefühlte Geschlecht zwar mehr oder weniger überein, aber eben nicht immer. Das bestätigen Menschen, deren Körper von ihrem subjektiven Geschlechtsgefühl abweicht. Obwohl sie biologisch gesehen vielleicht eindeutig Frau oder Mann sind, fühlen sie sich einem anderen Geschlecht zugehörig.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt beginnen wir also, unser Geschlecht als männlich oder weiblich wahrzunehmen. Auch wenn uns dafür noch die Worte fehlen, entsteht nun das Gefühl, das wir als insgesamt eher männlich oder eher weiblich abspeichern. Das Ich-Bewusstsein und unser Gefühl für das eigene Geschlecht entstehen also beide in der frühen Kindheit. So wie wir ein Identitätsgefühl haben, genauso entwickeln wir ein Gefühl für das eigene Geschlecht.