Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie arbeitet als Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Zuvor erschienen von ihr die Romane Mein Sommer mit Mucks sowie Tanz der Tiefseequalle, die beide für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden.
Für Dich, Johanna, später.
Noch bist du da
Wirf deine Angst
in die Luft
Bald
ist deine Zeit um
bald
wächst der Himmel
unter dem Gras
fallen deine Träume
ins Nirgends
Noch
duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da
Sei was du bist
Gib was du hast
Rose Ausländer
Meine erste Erinnerung überhaupt ist die an Ma ganz oben im Baum. Es muss im Herbst gewesen sein, denn um sie herum rollen sich die nicht mehr grünen, aber noch nicht ganz braunen Blätter zu bizarren Formen zusammen, und wenn sie sich bewegt, knistert es trocken wie Feengeflüster bis zu mir hinunter.
Ma steht auf einem Ast ganz oben, dem höchsten, der noch stark genug ist, sie zu tragen, und pflückt die Kastanien wie Äpfel von den Ästen, wirft sie zu mir herunter, ohne hinzusehen, zu schnell, als dass ich sie alle fangen könnte. Manche davon treffen mich an den Armen, an den Schultern, bevor sie sich raschelnd um meine Füße herum sammeln. Vorsichtig schäle ich sie aus ihrer Igelschale und sammle sie in meinem Pullover wie in einer Schürze. Wenn gerade keine Kastanien von oben herunterfliegen, wühle ich meine Hand tief in die rotbraunen Kugeln hinein und streichle sie wie kleine glatte Tiere ohne Gesicht.
Ein paar Schritte weiter stehen die anderen Kinder aus der Straße und schauen nach oben, ihre Augen mit den Händen gegen das Sonnenlicht abschirmend.
Es riecht nach allem, was da ist: nach den halb gerollten, halb getrockneten Blättern, nach der sonnenwarmen Rinde der Kastanie, ein bisschen nach Erde und ein bisschen nach dem Bratfettgeruch, der einem der Kinder in den Haaren hängt. Nur nach Kastanien riecht es nicht. Kastanien haben keinen Geruch.
»Was macht denn deine Mutter da oben?«, fragt ein Junge.
»Kastanien sammeln«, sage ich. »Wir wollen Kastanientiere basteln.«
»Aber die kommen doch von selber runter«, sagt jemand. »Morgen oder übermorgen.«
»Wir wollen aber heute basteln«, sage ich und schaue wieder nach oben.
Mas dreieckiges Gesicht erscheint zwischen den anderen kleinen Dreiecken aus blauem Himmel inmitten der Äste, ihre langen rostroten Haare mit den etwas helleren trockenen Blättern darin umrahmen ihr breites Lachen mit dem leuchtend rot gemalten Mund. Alles an ihr glitzert vor Freude.
Ich bin ungefähr vier Jahre alt, und was ich da sehe, ist der normalste Anblick der Welt.
Am Sonntag, den 1. Oktober, um 7.02 Uhr sah ich zum ersten und einzigen Mal einen Defibrillator in Gebrauch. Zwei Sanitäter benutzten dieses gelbe Gerät, das seit ein paar Jahren in jedem Einkaufszentrum an der Wand hängt und mit dem man versucht, Leute wieder zum Leben zu erwecken. Und genau das versuchten sie gerade bei meiner Mutter.
»Zurück. Jetzt!«
»Nein. Noch mal. Zurück. Jetzt!«, hörte ich, während ich zusah, wie die beiden Männer in ihren leuchtend roten Anzügen sich über Ma beugten, von der ich nur die dunkelrote Haarflut sah, wie ein roter Teppich, auf dem einer der Sanitäter kniete. Ma lag auf dem Boden. Der Defibrillator sah ein wenig aus wie ein aufgeklappter Werkzeugkasten mit Bildschirm, und auf dem Bildschirm zeichnete sich eine leuchtend blaue Gerade ab, die leicht zitterte. Zwischen den Rufen des Sanitäters gab es ein pumpendes Geräusch, dann eine Art Klackern. Dazwischen gespenstische Stille. Rufen, Pumpen, Klackern, Stille. Rufen, Pumpen, Klackern, Stille.
Es dauerte genau drei solcher Zyklen, bevor Pa mich in der Tür bemerkte. Dann kam er herüber und nahm mich wortlos an der Schulter. Seine eiskalte Hand lenkte mich hinaus in den dunklen Flur. Er schaute auf mich herunter und sagte kein einziges Wort.
»Zurück. Jetzt!«, hörte ich noch einmal, in genau demselben Tonfall wie zuvor, wie eine hängen gebliebene Schallplatte, und dann, kurz bevor mein Vater wieder ins Schlafzimmer hineinging und mich im Flur stehen ließ, ganz leise: »Das wird nichts mehr.«
Im Dunkel des Flurs zeichneten sich die vertrauten Formen ab: die wuchtige ockerfarbene Kommode aus Pas Studententagen, die Ma nur »das Monster« nannte, ein Sammelsurium aus zerfledderten Regenschirmen und ein lebensgroßer, schiefer Ritter, den ich in der ersten Klasse aus Holzresten gebastelt hatte und den mein Vater so witzig fand, dass er seitdem im Flur steht. Nur kam es mir so vor, als hätten diese drei Gegenstände, an denen ich seit Jahren achtlos vorbeigelaufen war, plötzlich ihre Form oder Größe verändert. Als sei ich in einem dieser dämlichen Filme gelandet, in denen jemand geschrumpft wird, sodass ihm plötzlich seine völlig vertraute Umgebung fremd und unwirklich vorkommt.
Neben dem schiefen Ritter stand Krümel. Ein zweiter Ritter, fast genauso regungslos wie der andere, nur drei Köpfe kleiner und im Schlafanzug.
Mein Bruder hat sich, als er noch kleiner war, Krümel genannt, nach dem Hamster von Nils Holgersson, und erst seit Kurzem wollte er plötzlich Karl genannt werden, aber natürlich nannten ihn alle trotzdem weiter Krümel.
Krümel heulte. Wäre Krümel wirklich ein Hamster, würden seine Barthaare vibrieren, wenn er heult, denn seine Oberlippe zuckt dabei unentwegt und regelmäßig wie bei einem mümmelnden Nagetier. Es gibt vielerlei Arten von Krümel-Heulen. Das aggressiv-müde Heulen, das jeder Sechsjährige kann, sowieso, das Ich-möchte-das-aber-haben-Heulen, etwas schriller und auf Kommando, oder das Aufmerksamkeitsdefizit-Heulen. Krümel braucht sehr viel mehr Aufmerksamkeit als ich.
Dieses Heulen aber war anders. Krümel heulte leiser als sonst, fast lautlos, und die Tränen liefen mit beachtlicher Geschwindigkeit seine Wangen hinunter. Er heulte einfach, statt zu atmen. Und er hörte auch nicht damit auf, als ich mich zu ihm hinunterbeugte und versuchte, ihn zu umarmen.
Wenn der eine dasteht wie ein tiefgefrorener Fisch, dann funktioniert das nicht mit der Umarmung. Und deshalb ließ ich Krümel auch gleich wieder los, schob ihn in die Küche und drückte ihn auf seinen heiß geliebten roten Kinderstuhl. Auf einmal fielen mir seine Beine auf, die vom Stuhl baumelten wie bei meinem alten Schlenkeraffen: Krümels Beine kamen mir plötzlich viel zu lang vor, so als sei mein kleiner Bruder über Nacht zwanzig Zentimeter gewachsen. Obwohl es in unserer Küche genug Stühle gibt, setzte ich mich auf den Boden und lehnte mich an den großen Schrank, dessen Türen auf den Druck meines Rückens mit einem leichten Ächzen antworteten. Es klang wie »Jaja«, und das war sozusagen das Erste, was an diesem Morgen jemand zu mir sagte.
Fünf Minuten saßen Krümel und ich schweigend in der Küche und starrten Löcher in die Luft, ich in sechzig Zentimeter und Krümel in einem Meter Höhe. Nur ab und zu zog Krümel die Nase hoch, ein ekliges kleines Schniefgeräusch, das sich in die gleichmäßige Geräuschabfolge von nebenan einreihte: Schniefen, Rufen, Pumpen, Klackern, Stille. Schniefen, Rufen, Pumpen, Klackern, Stille.
Und dann hörten alle Geräusche außer dem Schniefen auf und Pa kam herein.
Wenn mein Vater durch eine Tür kommt, ist das ein Erlebnis, denn er misst stolze 1 Meter 98 und hat so breite Schultern wie ein dreifacher Schwimmweltmeister. Bei jeder gewöhnlichen Tür muss er leicht den Kopf einziehen, und die Schräglage, in die sein ganzer Körper dabei gerät, lässt ihn noch größer erscheinen.
Mein Freund Janus sagt, das erste Mal, als er mich zu Hause besuchte, habe er Angst vor meinem Vater gehabt. Und Janus ist nicht gerade der Inbegriff eines Angsthasen.
An diesem Sonntagmorgen sah mein Vater allerdings überhaupt nicht imposant aus. Sein Gesicht war unnatürlich blass, als hätte jemand es nachkoloriert, um das, was an seinem Gesicht dunkel war, stärker zu betonen: die schmalen Falten, die sich von der Nase zu den Mundwinkeln zogen, die Schatten unter seinen tief liegenden Augen, den Dreitagebart. Dieses Schwarz-Weiß-Gesicht ließ ihn älter aussehen, viel älter. Als ich ihn so sah, wusste ich, dass es keine Überraschung geben würde, keine Umkehrung dessen, was ich vorhin im Schlafzimmer gesehen hatte. Keine plötzliche Rettung. Stille. Stille. Stille. Stille.
»Ben.«
Pa sah mir ins Gesicht, als käme er gerade aus einer anderen Welt und müsste sich an meinem Blick festklammern, um nicht wieder gewaltsam in sie hineingezogen zu werden, wie der Held in einem Science-Fiction-Film. Er atmete ein und aus und ein und aus, bevor er weitersprach.
»Sie konnten eure Ma nicht mehr zurückholen.«
Krümel rutschte vom Stuhl, und ich stand unwillkürlich auf, sodass wir alle drei, Krümel, Pa und ich, uns wie drei verzögert reagierende Magnete in der Mitte des Raumes trafen. In Zeitlupe fuhr Pa seine langen Arme aus wie ein Mähdrescher und zog uns beide hinein in eine Umarmung.
Ich wusste nicht, wann er mich das letzte Mal umarmt hatte. Vielleicht, als ich in der dritten Klasse ausgelacht wurde, weil ich aus Versehen auf einem Hundehaufen ausgerutscht war. Da hat mich Pa in den Arm genommen, obwohl er danach selbst überall mit Hundescheiße beschmiert war. Womöglich ist es insgesamt untypisch, dass Väter und Söhne sich umarmen. Oder aber mein Vater hob seine Umarmungen für Ausnahmesituationen auf.
Genau daran dachte ich, als ich mein Gesicht an seinen Bauch drückte und seinen Geruch einatmete, diesen leichten Geruch nach Tabak, der sogar in seinem Schlafanzug sitzt. Aber ich dachte auch daran, wie viel öfter Ma mich umarmte, jedes Mal gegen meinen Widerstand, mit der ihr eigenen Technik, fest und gleichzeitig doch irgendwie lose, und wie sich ihre Umarmung anfühlte, mit ihren kitzelnden langen Haarsträhnen in meinem Gesicht und dem leichten Klirren ihrer Glasarmreifen hinter meinem Rücken.
Mas Todestag war ein strahlender Oktobertag. Wenn in einer Geschichte jemand stirbt, dann meistens an einem Regentag. Oder an einem nebelverhangenen Tag, an dem kein Sonnenstrahl die Wolkendecke durchdringt. Das passt besser zum Tod, unterstreicht die düstere Stimmung.
Ich will aber nicht, dass das hier nach einer düsteren Geschichte klingt. Ich weiß selbst gar nicht, ob ich die Geschichte düster finde. Ich weiß nicht einmal, ob das hier eine Geschichte wird. Aber falls es eine wird, dann soll sie erzählen, wie das ist, wenn jemand plötzlich stirbt. Wie die ersten Tage vergehen, wie man damit klarkommt. Oder wie man eben nicht damit klarkommt.
Jedenfalls glaube ich, dass es für so eine Geschichte wichtig ist, dass ich die Wahrheit erzähle, und das gilt sogar für das Wetter. Und die Wahrheit ist: Der Tag, an dem meine Mutter plötzlich und völlig unerwartet starb, war ein strahlender Herbsttag. So ein Tag, an dem die Äpfel an den Bäumen so reif und süß riechen, dass man sogar dann Lust auf einen Apfel bekommt, wenn man Äpfel eigentlich hasst. Natürlich kam ich an diesem Tag an keinem einzigen Apfelbaum vorbei, oder wahrscheinlich doch, aber ich habe es nicht bemerkt. Denn an diesem Tag war nichts so wie sonst, sondern ganz anders. Und danach sowieso.
»Die Apfelbäume bleiben stehen.«
Ma steht breitbeinig mitten auf dem Spielplatz und hat die Hände in die Hüften gestützt. Der Mann mit der blutorangenfarbenen Arbeitsweste schaut erst Ma ratlos an, dann mich. In der rechten Hand hat er eine Kettensäge, auf dem Kopf eine alberne kleine weiße Mütze, zum Schutz gegen die Sommersonne. Er sieht sich um, aber da ist niemand, nur ein paar Kinder, die hinter dem Absperrband stehen und sich nicht herübertrauen. Und Ma, die ihm den Weg versperrt, direkt vor ihm, mich an der Hand. Hinter ihm liegen große Haufen aus Blättern und Ästen von der Hecke, die den Spielplatz umrandet und die nun eckig und kahl geschoren dasteht. Außerdem die zwei großen Buchen, jetzt in kleine Rädchen geschnitten, die wie dicke Wurstscheiben auf der Wiese aufgereiht liegen.
»Ich soll die alten Bäume wegmachen und dann im Herbst neue …«, fängt der Mann an, seine Stimme klingt kratzig, und vielleicht hätte er sich selbst unterbrochen, wenn Ma es nicht tun würde, einfach, weil Ma dasteht, wie sie dasteht, und ihn ansieht, wie sie ihn ansieht.
»Der Apfelbaum ist ein Hartholz, der wächst langsam. Wenn Sie die Apfelbäume auch noch fällen, dann gibt es auf diesem Spielplatz keinen Schatten mehr«, sagt Ma mit lauter Stimme. Und dann nimmt sie den Mann an der Hand, zieht ihn mit, und weil ich an ihrer anderen Hand hänge, bilden wir nun eine Kette, Ma, ich und der Mann, der zu überrascht ist, um sich zu wehren.
»Fühlen Sie mal«, sagt Ma, jetzt leiser, und lässt meine Hand los, um ihre an den Stamm zu legen. Ich mache dasselbe. Der Stamm des alten Apfelbaums liegt knorrig unter meiner Handfläche. Aus der Nähe sieht er aus wie ein versteinertes, in Falten gelegtes Tuch, und auch die Farbe ist von Nahem ein wenig wie Stein – nicht braun, wie wir die Bäume im Kindergarten malen, sondern eher grau, irgendwie uralt.
Der Mann legt als Letzter seine Hand an den Stamm, und mir fällt auf, wie ähnlich seine Hand und die Baumrinde aussehen: knotig, rau, in trockene Falten gelegt. So bleibt er eine Weile stehen, seine raue Hand auf dem rauen Stamm, die müden Augen auf Ma gerichtet.
Ma hat ihre eigene Hand wieder vom Baumstamm gelöst und meine genommen, sodass wir jetzt nur dastehen und dem Mann beim Nichtstun zusehen. Zwischen ihrer und meiner Hand kleben kleine brüchige Rindenstücke, und ich höre Ma atmen, ganz ruhig, bevor sie aus dem Augenwinkel zu mir heruntersieht und zwinkert, noch bevor der Mann die Hand vom graubraunen Stamm nimmt, seufzt, seinen lächerlichen Hut zurechtrückt und seine Kettensäge nimmt und dann verschwindet. Von oben fällt ein Blatt aus dem verschonten Apfelbaum wie ein Gruß und legt sich auf meine Schulter. Ich lasse Ma los, pflücke es mir vom Pullover und stecke es in meine Hosentasche.
Die Apfelbäume stehen immer noch auf dem Spielplatz. Und noch heute denke ich daran, wenn ich sie sehe: Der Apfelbaum ist ein Hartholzgewächs. Vielleicht hat es damals angefangen, dass mich Ma angesteckt hat mit ihrer komischen Baum-Besessenheit.
Die Stille in der Küche wurde von einem Saxofon unterbrochen. Ein lang gezogener Ton sägte sich gnadenlos durch unsere Umarmung, und ich spürte, wie Pa nach Luft schnappte, und hörte drüben im Schlafzimmer einen der Sanitäter erschrocken sagen: »Was ist das denn?«
Strange Fruit, Mas Lieblingssong und seit Jahren die Weckmelodie auf ihrem Handy. Automatisch wartete ich darauf, dass Billie Holiday ihren Gesang nach der ersten Zeile unterbrechen und ein leiser Fluch meiner Mutter folgen würde, die ein Morgenmuffel ist. Zehn Minuten später würde Billie noch mal aufjaulen, weil Ma immer nur auf den Slumber-Knopf drückt, um doch nicht ganz zu verschlafen. Wie jedes Wochenende hatte sie vergessen, den Wecker am Samstagabend auszustellen.
Aber heute durfte Billie weitersingen. Keiner kam auf die Idee, sie zu unterbrechen. Die lang gezogenen Töne von Strange Fruit untermalten als morbide Filmmusik die nächsten drei Minuten des Geschehens.
Ich habe nie verstanden, was Ma an Jazz so toll findet. Schon bevor ich in der Schule Englisch lernte und zu verstehen begann, dass meine Mutter sich von einem Lied über Sklaven, die blutig am Baum hängen, aufwecken ließ, fand ich, dass einem diese Musik absolut die Laune verderben konnte.
Billie jammerte immer noch, als einer der beiden Sanitäter den Kopf zur Küchentür hereinstreckte.
»Wir gehen dann jetzt«, sagte er. Seine Stimme klang unsinnig vorsichtig, so als könne er jemanden aufwecken. »Wir haben Ihren Hausarzt gerufen. Er kommt, um …«
Der Sanitäter stockte. »… um den Rest zu klären«, fügte er dann hinzu. Die zweite Hälfte des Satzes klang wie falsch montiert. Der Sanitäter stand unschlüssig auf der Türschwelle.
»Ach ja. Und dann haben wir auch noch die Polizei informiert. Ist Vorschrift.« Er war bei den letzten Worten immer leiser geworden. Pa nickte minimal. »Blood on the leaves and blood at the root«, sang Billie Holiday. Der Sanitäter verschwand, und ich stellte mir vor, wie er draußen aufatmete, als die Wohnungstür ins Schloss fiel. Wenige Augenblicke später öffnete Tante Gerda sie wieder.
Tante Gerda sieht aus wie Pa, nur zwei Köpfe kleiner, was ziemlich komisch wirkt, wenn beide nebeneinanderstehen, etwa so, als hätte man bei ihr ein Stück von den Beinen abgesägt, um sie bei Pa wieder einzufügen, denn weder bei Pa noch bei seiner älteren Schwester stimmen die Proportionen. Besonders Tante Gerdas Hände sind viel zu groß für ihre kleine Statur. Meine Tante kam alle paar Tage zu uns, mal kochte sie und mal putzte sie das Badezimmer. Natürlich hätten wir das genauso gut selbst machen können, aber alle schienen die Idee gut zu finden. Außerdem hatte sie selbst keine Familie.
Wie immer begrüßte mich Tante Gerda, indem sie ihre Hand ganz kurz auf meine Schulter legte, was sich anfühlte, als würde sich ein sehr kleiner, sehr leichter Vogel sekundenlang darauf niederlassen. Krümel hingegen schüttelt sie sehr ernsthaft die Hand. »Karl«, sagt sie dann knapp, wie um sich zu vergewissern, dass er wirklich so heißt. Ich glaube, Tante Gerda ist die Einzige, die Krümel den Wunsch erfüllt, ihn Karl zu nennen. Nur Pa wurde von Tante Gerda anders begrüßt als sonst. Sie umarmte ihn lange, und dabei drückte sie ihre Finger so fest in Pas Rücken, dass ihre Fingerkuppen weiß wurden. Wie um zu verhindern, dass er abhebt oder hinfällt, eines von beidem. Keiner von beiden sagte etwas. Dann hörte Billie Holiday auf zu singen. Und dann klingelte es.
»Das wird der Arzt sein«, murmelte Pa.
Ich erwartete, Doktor Gräber zu sehen, unseren Hausarzt, aber es war ein dünner, jüngerer Mann mit pechschwarzen, etwas wirren Haaren und fragendem Blick, der schüchtern in der Küchentür lehnte. Als er sich vorstellte, sah er keinem von uns in die Augen.
»Hagemann. Ich bin Doktor Gräbers Vertretung. Wo …?« Er unterbrach sich, sah aber weiter vor uns auf den Boden. Ungefähr dort, wo sein Blick hinfiel, entdeckte ich eine handflächengroße Staubflocke. Staubratten, sagt Ma immer. Das sind keine Wollmäuse mehr, sondern Staubratten. Ma hasst Staubsaugen. Das Geräusch macht sie wahnsinnig.
Als Pa den Arzt ins Schlafzimmer führte, bemerkte ich den stämmigen, grauhaarigen Mann, der im Flur stand und geduldig darauf wartete, dass ihn jemand wahrnahm.
»Tut mir leid, dass ich einfach hereingekommen bin, aber die Türen standen offen«, sagte er jetzt. Sein Blick war ruhig, aber scharf, und traf mich genau im Gesicht. Seine Augen unter den dichten, borstigen Brauen hatten die Farbe einer Regenpfütze.
»Gneist, von der Kriminalpolizei.« Er streckte seine Hand aus und ich gab ihm meine. Er drückte sie so schnell und fest zusammen, dass ich kurz zurückzuckte. Er bemerkte es sofort. »Entschuldigung«, sagte er und lächelte. »Berufskrankheit.«
Es war das erste Lächeln, das ich an diesem Morgen sah, und ich erwiderte es unwillkürlich. Ich sah mich nach Tante Gerda um, aber sie war verschwunden. Vermutlich versuchte sie, Krümel abzulenken.
»Ich bin Ben«, sagte ich dann und wunderte mich beinahe, dass ich noch sprechen konnte.
»Der ältere Sohn der Toten«, ergänzte Herr Gneist. Er hielt meinen Blick fest, und deshalb muss er auch wahrgenommen haben, wie mein Atem für genau den Moment aussetzte, in dem er meine Mutter als »Tote« bezeichnete.
Mir fiel die Leiche vom Tatort letzte Woche ein und das übertrieben viele Blut. An Strange Fruit dachte ich. Und an Ma, wie sie gestern Abend mit klirrenden Armreifen die Spülmaschine ausgeräumt hatte. Ein Teller war ihr auf den Boden gefallen, wie so oft, und sie hatte laut geflucht, und Krümel und ich mussten lachen, was sie noch wütender gemacht hatte. Sie hatte nicht so ausgesehen, als sei sie dem Tod besonders nah.
»Mein Vater und der Arzt sind da drin«, informierte ich den Kommissar und zeigte auf die geschlossene Schlafzimmertür, »und meine Tante …« Ich brach ab.
»Wäre es in Ordnung, wenn ich zuerst dir einige Fragen stellen würde?« Sein Blick hielt meinen immer noch fest, als wolle er sichergehen, dass ich nicht flüchten konnte, nicht einmal mit den Augen.
Ich konnte plötzlich das dämliche Stammeln der Tatverdächtigen nachvollziehen, das ich im Tatort immer so unglaubwürdig fand. »Okay«, sagte ich.
Wir gingen ins Wohnzimmer. Herr Gneist sah sich flüchtig um, während er seinen massigen Körper auf das Sofa sinken ließ, und ich fragte mich, woran sein Blick hängen bleiben würde. An die gegenüberliegende Wand waren Fotos von unserer Familie gepinnt. Auf fast jedem war Ma zu sehen. Ma auf dem Fahrrad, leuchtend gelber Pullover, Krümel hintendrauf. Ma beim Pilzesammeln im Wald, blauer Regenmantel, rote Gummistiefel. Ma und ich am Strand, als ich klein war. Auf jedem einzelnen Bild lachte sie mit ihrem großen, rot geschminkten Mund und beherrschte das ganze Bild.
Auf dem Boden unter dem Fenster lag ein Berg zerknüllter Zeitungsseiten. Ma hat die Angewohnheit, gelesene Seiten zu zerknüllen und die so entstandenen Papierkugeln auf einen Haufen zu werfen. Abends wirft sie den Papierberg mit Genugtuung in den Müll. Aber diesmal hatte sie es offenbar vergessen.
»War sie gestern müde?«, begann Herr Gneist. Es war klar, dass er Ma meinte.
»Nein, ich glaube nicht.« Nur schlecht gelaunt, dachte ich.
»Was habt ihr denn gestern Abend gemacht, du und deine Familie?«
»Gestritten«, antwortete ich spontan und erschrak sofort über meine eigenen Worte.
»Also, mein Bruder, meine Mutter und ich. Sie hatte ziemlich schlechte Laune gestern. Und wir hatten nicht aufgeräumt«, ergänzte ich schnell. Es klang beschwichtigend, ohne dass ich es beabsichtigte. Herr Gneist lächelte wieder. Vermutlich kam ich ihm ohnehin nicht besonders verdächtig vor.