Alexander Emmerich

Little Germany

Deutsche Auswanderer in Nordamerika

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Mitte des 19. Jahrhunderts setzten regelrechte Auswanderungswellen aus Deutschland ein, deren Ziel Nordamerika war. Ganze Dörfer, Großfamilien und Vereine verließen aus Armut, wegen Hungersnöten, aufgrund politischer oder religiöser Verfolgung ihre Heimat. Viele der Neuankömmlinge identifizierten sich in den ersten Jahrzehnten noch stark mit der deutschen Kultur, behielten die deutsche Sprache bei und siedelten sich in eigenen Stadtteilen an, etwa »Little Germany« in New York; andere wiederum fühlten sich bald der Kultur der Vereinigten Staaten zugehörig. Dieses Buch zeichnet die faszinierende Geschichte der 5,5 Millionen deutschen Migranten und die Spuren des deutsch-amerikanischen Lebens in den USA nach, die der Prozess der Akkulturation bis heute hinterlassen hat.

Vita

Alexander Emmerich promovierte in Neuerer Geschichte an den Universitäten Heidelberg und Yale. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur deutschen und amerikanischen Geschichte.

Inhalt

Einleitung

Zusammenleben in der Fremde

Phasen der Auswanderung

Die ersten Auswanderer

Die Deutschen in Pennsylvania

Ein »Deitscheschteddel«: Germantown

Nicht nur »Palatines«: Die Auswanderung im 18. Jahrhundert

Deutsch, die Landessprache der USA?

»Wie bischt?«: Die Amish

Die Besiedlung des Mittleren Westens

Große Erwartungen

Die Deutschen in Missouri

Auf Entdeckungsfahrt: Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied

Bier her!: Eberhard Anheuser und Adolphus Busch

Die Deutschen in Wisconsin

Die Deutschen in Chicago

Die Deutschen in Texas

»Auswanderung von oben«: Der Mainzer Adelsverein

Die Stellung gegenüber der Sklaverei

New York und »Little Germany«

Anfänge in New York

»Little Germany« entsteht

Sprache und Religion

Arbeiter und Handwerker

Tasten für Amerika: Steinway & Sons

Die größte Brücke der Welt: Johann August Röbling

Händler und Kaufleute

Der erste Millionär: John Jacob Astor

Ebenfalls steinreich: Die Rockefellers

Parteien und Politik

Deutsche in der Politik

Aus der Heimat vertrieben: Die Revolution von 1848 und die Folgen

Freigeister aus Baden: Friedrich Hecker und Gustav Struve

Die Deutschen und die Republikaner

Revolutionär in Deutschland, Innenminister in den USA: Carl Schurz

Politik als Karikatur: Thomas Nast

Ein Deutsch-Amerikaner im Weißen Haus: Herbert C. Hoover

»Die Tramps aus der Pfalz«: Donald Trumps Vorfahren

Ausländerfeindlichkeit und Nativismus

Deutsche im Militär

Der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg

Ein Baron unter Republikanern: Friedrich Wilhelm von Steuben

Der Amerikanische Bürgerkrieg

Die beiden Weltkriege

Flugzeuge am Himmel: William E. Boeing

Wie deutsch ist Amerika?

Aurora und Teutonia: Das Vereinsleben

Beergarden und pretzel: Die alte und die neue Sprache

Arbeitswelten

Meerrettich und Ketchup: Henry John Heinz

Der Erfinder der Jeans: Levi Strauss

Im Kindergarten: Margarethe Meyer-Schurz

Der »Kaiser von Kalifornien«: Johann August Sutter

Gemälde aus dem Wilden Westen: Albert Bierstadt

Ein Schwabe erfindet Hollywood: Carl Laemmle

Kerwe und Weihnachten: Die Festkultur

Winnetou und Old Shatterhand: Karl May

Das Ende der Auswanderungswelle

Angst vor Überfremdung

Das Ende der Einwanderungsströme

Der Untergang der »General Slocum«

Politischer Druck und öffentliche Verfolgung

Die Deutsch-Amerikaner im 20. Jahrhundert

Jüdische Flüchtlinge und Exildeutsche

Die Hollywood-Connection

Mickeys Väter: Walt Disney und Ub Iwerks

Der Raketenmann: Wernher von Braun

Der Erfinder der Shopping Mall: Victor Gruen

Erinnerungen an Deutsch-Amerika

Anhang

Karte

Zeitleiste

Literatur

Register

Einleitung

Eberhard Anheuser und Adolphus Busch, zwei nach Nordamerika ausgewanderte Deutsche, gründeten die größte US-amerikanische Bierbrauerei. Das Dollarzeichen entwarf ein Einwanderer aus der Pfalz, Thomas Nast. Der erste Millionär der Moderne, der in den USA reich gewordene John Jacob Astor, stammte aus Walldorf bei Heidelberg. Der Erfinder der Jeans war Franke, der Erbauer der New Yorker Brooklyn Bridge wurde in Thüringen geboren. Auf den Schwaben Carl Laemmle geht »Universal Pictures« zurück, das erste große Filmstudio in Hollywood, wo man in den Gründerjahren hauptsächlich Deutsch sprach. Ub Iwerks, ein Nachfahre ostfriesischer Einwanderer zeichnete Mickey Mouse. Und auch die Weltunternehmen Boeing, Heinz und Steinway haben deutsche Wurzeln.

Diese berühmten Deutsch-Amerikaner schufen auf der anderen Seite des Atlantiks etwas, was ihnen in der deutschen Heimat wahrscheinlich verwehrt geblieben wäre. In Deutschland litten sie unter politischer Unterdrückung, einem geografischen Flickenteppich, der den Handel erschwerte, und unter der Politik der Fürsten selbst. Aber im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, wie der Deutsche Ludwig M. Goldberger 1903 die Vereinigten Staaten beschrieb, konnten sie sich entfalten und eine für sie zuvor undenkbare Karriere machen.

Ihr erfolgreiches Leben strahlte auf die »daheim Gebliebenen« aus. Es motivierte unzählige weitere Auswanderungswillige, den Schritt zu wagen, nach Nordamerika auszuwandern. Sie wollten es ihren Vorbildern gleichtun und ebenso selbstbestimmt, in politischer, wirtschaftlicher und politischer Freiheit leben. Doch die Lebensleistungen vieler Deutsch-Amerikaner sind heute nahezu vergessen. Niemand bringt sie mehr mit den eingewanderten Deutschen zusammen. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten sie zum Teil schlichtweg als »typisch amerikanisch«.

Zusammenleben in der Fremde

Für die Zusammensetzung der Gesellschaft der USA gibt es verschiedene Erklärungsmodelle: Amerikanisierung, Assimilation, Integration, »Melting Pot« und »Salad Bowl«. Die Begriffe beschreiben alle – mit unterschiedlichem Gewicht – eine zweite Sozialisation der ehemaligen Einwanderer, die sie zu Amerikanern machte. Die Idee des Zusammenschmelzens verschiedener, vorwiegend europäischer Einwanderer geht ursprünglich auf den französischen Adligen J. Hector St. John de Crèvecoeur zurück, der 1782 in seinem Buch »Letters from an American Farmer« die USA als ein Land beschrieb, in dem zum Wohle der Menschen alle Nationen miteinander »verschmelzen« würden. Die Amerikaner sollten gleichberechtigte Bürger einer neuen Nation sein und die positiven Traditionen ihrer Heimat in die neue, amerikanische Kultur einfließen lassen. Der Begriff »Melting Pot« wurde im Oktober 1908 durch die Welturaufführung des gleichnamigen Stückes von Israel Zangwill weltberühmt. Der jüdische Autor sah in Amerika eine friedliche harmonische Zukunft für alle Einwanderer. Er entzog sich allerdings der schwierigen Frage, wie der Amerikanisierungsprozess der Einwanderer in ihrem Alltag vonstattengehen solle und was Staat und Gesellschaft dafür tun könnten. Stattdessen stellte er Gott als allein handelnde Kraft des Verschmelzens dar.

Die Idee des »Zusammenschmelzens« erlebte seit 1782 im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Bedeutungsveränderung. Das Zusammenwachsen der einzelnen Kulturen wich dem Wunschdenken der Amerikaner, die neuen Einwanderergruppen würden in einen amerikanischen Schmelztiegel einfließen, der auf einer amerikanischen Leitkultur der »White Anglo-Saxon Protestants« beruhte. Man nahm also nicht mehr an, dass in einem Schmelztiegel neue Menschen einer neuen Nation geboren würden, sondern dass es dafür eine Vorgabe benötigte, eine Leitkultur – oder zumindest eine »Empfängerkultur« (»host culture«), an der man sich orientieren sollte.

Die tonangebenden Schichten des 19. Jahrhunderts waren Verfechter der in der Amerikanischen Revolution geschaffenen Ideologie der freien politischen Institutionen. Sie waren zugleich Gegner des europäischen Katholizismus, der europäischen Monarchien und vieler europäischer Gepflogenheiten. Europäische Erblasten, die Bündelung von Macht in einer Dynastie und die Unfreiheit der Bevölkerung, waren ihnen ein Dorn im Auge. Sie forderten von den Einwanderern, sich zügig an die amerikanischen Werte und die amerikanische Kultur, Religionsauslegung und Politik anzupassen.

Während man aus amerikanischer Sicht die Verschmelzung der Kulturen beziehungsweise die nachbarschaftliche Existenz verschiedener Einwanderungskulturen beobachtete und analysierte, fiel der Blick seltener auf die einzelnen Einwandererkulturen, zum Beispiel auf die Einwanderer aus Deutschland. Neben den Iren und den Engländern sind die Deutschen diejenige Einwandererkultur, die die USA bis heute am stärksten geprägt haben. Doch wenig ist darüber bekannt, wie aus Bayern, Schwaben und Friesen deutsche Einwanderer, aus diesen Deutsch-Amerikaner und schließlich Amerikaner wurden. Wie verlief die Integration der Deutschen? Verschmolzen Sie wirklich im »Melting Pot« zu Amerikanern?

Beim US-amerikanischen Zensus, der dortigen Volkszählung, aus dem Jahr 2010 gaben über 50 Millionen Amerikaner an, die Nachfahren der nahezu sechs Millionen deutscher Einwanderer zu sein, die von 1820 bis zum Ersten Weltkrieg in die USA emigrierten. Das ist bei einer Gesamtbevölkerung von 300 Millionen ein beachtlicher Anteil. Diesem Zensus zufolge sind die Deutsch-Amerikaner noch vor den Irish-Americans, den Hispanics und den African-Americans die größte ethnische Gruppe in den USA. In 24 amerikanischen Bundesstaaten – in Alaska, Colorado, Florida, Idaho, Illinois, Indiana, Iowa, Kansas, Michigan, Minnesota, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, North Dakota, Ohio, Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, South Dakota, Washington, Wisconsin und Wyoming – gab die Mehrheit der Bevölkerung an, die Nachkommen deutscher Vorfahren zu sein.

Doch während man heute »Chinatown«, »Little Italy« und »Little Japan« kennt, in den USA den Puerto Rico Day und den St. Patrick’s Day feiert und sich überall in den USA Stadtteile und Straßenzüge finden, in denen sich eine bestimmte Einwanderergruppe angesiedelt hat, sind die Spuren der eingewanderten Deutschen nur schwer zu finden. Warum ist das so? War das deutsch-amerikanische Leben so unbedeutend, dass davon heute nichts mehr zu finden ist, oder passten sich die deutschen Einwanderer schnell der amerikanischen Kultur an? Und gab es vielleicht tatsächlich auch ein »Little Germany«?

Die Antwort lautet: Ja! Es gab ein »Little Germany«. Es gab sogar viele »Little Germanies« in vielen Großstädten der USA. Das »Little Germany« im New Yorker Stadtteil Manhattan war in den 1840er Jahren das erste ethnische Viertel der USA überhaupt und die weltweit drittgrößte Ansiedlung von Deutschen – hinter Berlin und Wien, und größer als Hamburg, Köln oder München. Im 19. Jahrhundert gab es ein buntes und vielfältiges deutsch-amerikanisches Leben in vielen Teilen der USA. Wenngleich die Deutschen durch ihre Kleidung und Sprache fremd wirkten, so fielen sie durch ihr Äußeres den Amerikanern dennoch nicht so sehr auf die Einwanderer aus Asien. Auch war die Gruppe der eingewanderten Deutschen keineswegs so heterogen wie beispielsweise die der Italiener. Die Deutschen in den USA übten die unterschiedlichsten Berufe aus: Sie waren Ärzte, Arbeiter, Kaufleute, Journalisten, Handwerker und Farmer und stammten aus den unterschiedlichen deutschen Kleinstaaten, aus Elsass-Lothringen, aus der deutschsprachigen Schweiz, aus Preußen und aus Österreich. Sie sprachen verschiedene Dialekte, gehörten unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Gesellschaftsschichten an und brachten die diverse Bräuche und Traditionen mit in die Neue Welt. Zudem gab es einen Teil unter ihnen, der sich auch in Nordamerika weiterhin mit der Heimat identifizierte; andere wiederum folgten der neuen Identität und fühlten sich der neuen Kultur zugehörig. Wiederum andere definierten sich in Nordamerika immer noch ausschließlich über ihre Religionszugehörigkeit oder über die Region, aus der sie in Deutschland stammten.

Doch heute sind die Spuren der deutschen Einwanderung nicht mehr auf den ersten Blick auszumachen. Die »Little Germanies« in amerikanischen Städten existieren nicht mehr, viele deutsche Siedlungsgründungen und Städte wurden umbenannt. Nur wer genauer hinschaut, findet viele Elemente, die auf die Deutsch-Amerikaner hinweisen und die gleichermaßen Teil der deutschen wie der US-amerikanischen Geschichte sind. So entstammt der Feder des Karikaturisten Thomas Nast aus Landau in der Pfalz, der als Kind mit seinen Eltern nach Nordamerika ausgewandert war, nicht nur das Dollarzeichen, sondern auch der amerikanische Weihnachtsmann sowie die grafischen Symbole der beiden großen amerikanischen Parteien: der Esel für die Demokraten und der Elefant für die Republikaner. Auch das Bild der New Yorker Schönen und Reichen, der Multimillionäre wäre ohne einen deutschen Einwanderer heute ein anderes. John Jacob Astor aus Walldorf bei Heidelberg schaffte als erster die traumhafte Karriere vom Tellerwäscher zum Multimillionär, bevor dieser Mythos als solcher betitelt wurde und sich der ursprünglich französische Begriff »millionaire« in der englischen Sprache herausgebildet und etabliert hatte.

Vereinzelt gab es in den USA bereits Brauereien, doch durch den Bedarf der Deutsch-Amerikaner gründeten Landsleute die großen Brauereien mit nationalem Vertrieb. Die größte Brauerei ist noch heute Anheuser-Busch aus St. Louis (Missouri), die die Biermarke Budweiser in Nordamerika vertreibt. Eberhard Anheuser wurde im pfälzischen Bad Kreuznach geboren, sein Schwiegersohn Adolphus Busch stammte aus Mainz. In Nordamerika erkannten beide das Potential hinter der großen Nachfrage der Deutschen nach Bier, das nicht nach englischer Brauart hergestellt wurde. Beim genaueren Blick auf die amerikanische Geschichte und Gesellschaft finden sich viele solcher Beispiele. Ur-amerikanische Symbole gehen auf die Deutsch-Amerikaner zurück: Die ersten Jeans wurden von dem Franken Levi Strauss hergestellt, der bekannteste Ketchup-Hersteller ist das Unternehmen des Deutsch-Amerikaners Henry John Heinz, die Shopping Malls entsprangen dem Konzept des Wiener Städteplaners Victor Grünbaum, der bekannteste Wursthersteller ist »Oscar Mayer Wiener« des Schwaben Oscar F. Mayer, der noch heute amerikanische Kinderherzen höher schlagen lässt. Sie alle und viele weitere drückten den Vereinigten Staaten ihren Stempel auf und brachten ein »deutsches Element« mit in die fremde Kultur.

Dass sie sich als einen Teil ihrer neuen Heimat empfanden, zeigten viele Deutsche, indem sie für ihre neue Heimat in den Krieg zogen. Die Deutschen kämpften nicht nur im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, sondern auch im Amerikanischen Bürgerkrieg. Die historischen Umstände verlangten, dass sie in beiden Fällen auf beiden Seiten stritten und nicht selten gegeneinander antreten mussten. Bei genauerer Betrachtung wird in der vermeintlich fremden Kultur das Eigene greifbar, sodass eine neue Sichtweise auf eine gemeinsame (trans-)atlantische Geschichte entsteht.

Phasen der Auswanderung

Das deutsch-amerikanische Leben begann 1683, als die erste größere deutsche Gruppe nach Pennsylvania auswanderte und sich in der Nähe von Philadelphia niederließ. Sie gründete dort die erste deutsche Siedlung in Nordamerika, Germantown, die heute ein Stadtteil Philadelphias ist. Vereinzelt ließen sich in der Folge deutsche Kaufleute in den neuen Handelsstädten an der Atlantikküste nieder. Doch bereits in den Jahren 1709 und 1710 kam es zur ersten großen Auswanderungswelle aus dem Südwesten Deutschlands über London nach New York. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts überquerten Hunderttausende Deutsche den Atlantik. In den USA wurden sie gemeinhin als »Palatines« bekannt, weil die Mehrheit der Immigranten aus dem deutschen Südwesten, aus der Pfalz, stammte. Die überwiegende Anzahl der Einwanderer dieser Zeit emigrierte aus weltanschaulichen Gründen. In Nordamerika konnten sie, die in der Regel einer verfolgten Gruppierung einer neuen protestantischen Religionsgemeinschaft angehörten, ihre Religion frei ausüben und sich ohne Sorge vor Verfolgung durch die Obrigkeit niederlassen. Zu diesen Glaubensgemeinschaften gehörten beispielsweise die Herrnhuter, die Mennoniten und die weitaus bekannteren Amish.

Im 19. Jahrhundert stieg die Zahl der Auswanderer sprunghaft an. Dabei lassen sich fünf Phasen hervorheben. Die erste dieser Phasen ist die Zeit von 1816 bis 1830, die einer Anlaufperiode glich. Die zweite Phase reichte von 1831 bis 1841. Die Zahl der Migranten stieg im Gefolge der Juli-Revolution von 1830, besonders im Jahr 1832, deutlich an. Das gesamte Jahrzehnt wurde zum Vorboten der wirtschaftlichen und sozialen Strukturkrise des Pauperismus. Sie ließ den Umfang der Auswanderung sprunghaft anwachsen. In der dritten Phase von 1842 bis 1857 erreichte die Auswanderung erstmals größere Ausmaße. Sie konnte in dieser Dimension erst stattfinden und zu einem Massenereignis werden, weil in den deutschen Einzelstaaten durch die Gründung von Auswanderervereinen und die Aufklärung der Bevölkerung durch Zeitungen, Pamphlete und Bücher eine wirkungsvollere Infrastruktur für die Emigration geschaffen wurde als zuvor. Die Zahl der Auswanderer überschritt in dieser Phase erstmals die Millionengrenze.

Charakteristisch für diese drei Phasen war die Familienauswanderung selbstständiger Kleinbauern und Kleinhandwerker aus dem südwestdeutschen und zu einem geringeren Teil aus dem westdeutschen Raum, die in dieser Zeit den größten Anteil der Auswanderer ausmachten. Die Auswanderung fand überwiegend im Familienverband statt. Die Auswanderer wollten in den Vereinigten Staaten Land erwerben und dort Landwirtschaft betreiben.

Zwischen den Auswanderern aus dem Südwesten und dem Westen gab es feine Unterschiede: Die meisten der südwestdeutschen Auswanderer waren Kleinbauern, die aufgrund des durch die Realerbteilung entstandenen Landmangels ihre Heimat verlassen hatten. Die Emigranten aus dem Westen Deutschlands waren hauptsächlich Angehörige der unterbäuerlichen Schichten, Heimarbeiter und Handwerker. Sie hofften, in Amerika endlich eigenes Land zu besitzen. Allen Gebieten Deutschlands gemein waren der sprunghafte Anstieg der Bevölkerung und der gesellschaftliche und ökonomische Wandel, der mit der einsetzenden Industrialisierung in Deutschland um sich griff. Die Zahl der Menschen, die auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches lebten, stieg von etwa 20 Millionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf 33,7 Millionen im Jahr 1850 an. Im Zuge der ab der Mitte des Jahrhunderts florierenden Industrialisierung veränderte sich die Arbeitswelt – weg von der heimgewerblichen Wirtschaftsweise, hin zur fabrikindustriellen Maschinenarbeit. Die Heimarbeiter produzierten dadurch ihre Waren nur noch zum Selbstkostenpreis. Sie konnten mit der effektiveren, weil schnelleren Maschinenproduktion nicht konkurrieren. Zeitgenössische Quellen deuteten bereits damals darauf hin, dass diese Erscheinung keine vorübergehende sein würde, sondern dass es sich um eine permanente Veränderung von Arbeitskräften, Arbeitsorten und Arbeitsvorgängen handelte. Dadurch ging für die Landwirtschaft eine bedeutende Nebeneinnahmequelle, für Teile des Handwerks die Haupteinnahmequelle verloren.

Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) kam es zu neuerlichen Auswanderungsströmen. Nicht zuletzt verkürzte damals die Einführung der Dampfschifffahrt die Reisedauer zur Überquerung des Atlantiks von wenigen Monaten auf einige Wochen. Von 1866 bis 1872 sowie von 1880 bis 1893 schnellte die Auswanderung aus Deutschland auf neuerliche Spitzenwerte. Die demografische Entwicklung zeigte eine Veränderung der Auswanderung in dieser Phase: Waren zuvor meist Menschen im Familienverbund oder als Verein gemeinsam ausgewandert, traten nun die ländlichen Unterschichten zunehmend in den Vordergrund. Im Zuge der letzten großen Auswanderungswelle zwischen 1880 und 1893 rückte das ostelbische Preußen an die erste Stelle, was das Herkunftsland der Auswanderer betraf. Der Anteil derjenigen Auswanderer aus dem städtisch-industriellen Milieu, die allein auswanderten, überholte den der familienwandernden Gemeinschaft. Diese Arbeitswanderung war zum großen Teil ursprünglich nur auf Zeit gedacht, endete aber meistens in der dauerhaften Emigration. In den frühen 1890er Jahren fand die Massenauswanderung dann ihr Ende. Ursächlich hierfür waren das stark wachsende Angebot an Arbeitsplätzen in der Hochindustrialisierungsphase und die im Deutschen Reich über kurze Krisen hinweg bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs andauernde wirtschaftliche Wachstumsperiode. Die wirtschaftliche Notlage, die die meisten zur Auswanderung bewogen hatte, war vielerorts nun nicht mehr gegeben. Dadurch brach der Auswandererstrom ab 1893 rapide ab. Dem deutsch-amerikanischen Leben in Nordamerika fehlte es in der Folge an Nachwuchs. Neue Impulse zum Erhalt der eigenständigen Kultur blieben aus. Hinzu kam, dass die Krise des Ersten Weltkrieges, in dem die USA gegen das Deutsche Reich in den Krieg zogen, die Deutsch-Amerikaner vor die Frage stellte, ob sie Amerikaner oder Deutsche seien. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, der Politik und der Kriegspropaganda amerikanisierten sich die Deutsch-Amerikaner schnell: Sie änderten ihre Familiennamen und machten zum Beispiel aus Schmidt »Smith«, aus Kreissler »Chrysler«, aus Weißhaupt »Whitehead« und aus Müller »Miller«. Auch Alltagsgegenstände wurden umbenannt: Die Frankfurter Würstchen verkauften sich besser als »Hot Dog«, das Sauerkraut als »Liberty Cabage«.

Ein heute allgemein anerkanntes und greifbares Modell, um zu erklären, warum und wie sich die verschiedenen ethnischen Gruppen in den Vereinigten Staaten angepasst haben, ist der Prozess der Akkulturation. Mit ihm können auch die Spuren der Deutschen in der amerikanischen Kultur herausgearbeitet werden. Neben den offensichtlichen Zeugnissen deutscher Einwanderer in den USA bringt er auch die kleinen, alltäglichen Hinterlassenschaften in Kultur, Wirtschaft, Politik und Religion zum Vorschein. Die Akkulturation bezeichnet immer einen gegenseitigen Anpassungsprozess zwischen einer eingewanderten Gruppe und der Empfängerkultur: Sowohl die Kultur der Einwanderer wie auch die Aufnahmegesellschaft verändern sich im Zuge der Akkulturation gleichermaßen und bilden danach eine gemeinschaftliche, neugeformte Kultur. In ihr kann es zur Bildung von Subkulturen und zu Fremdenfeindlichkeit kommen, wenn sich bestimmte Gruppen der Akkulturation entgegenstellen. Der Akkulturationsprozess verläuft stets in der Spannweite zwischen einer totalen Separation einer Gruppe und deren vollständiger Assimilation.

Der Prozess der Akkulturation der Deutschen in Nordamerika fand vor allem im Alltag statt, im Schul-, Vereins- und Pressewesen. Besondere Bedeutung haben dabei die Geschwindigkeit und Dynamik, mit der die Deutschen die englische Sprache und neue Traditionen, Feste und Bräuche angenommen haben. Gegenläufig ist dabei zu beobachten, wie sehr die Deutsch-Amerikaner an den alten Gewohnheiten festhielten und was sie schließlich davon abbrachte – denn heute sprechen beispielsweise nur wenige Amerikaner von Hause aus Deutsch.

Die ersten Auswanderer

Für viele Menschen in Deutschland ist es heute erstaunlich, dass so viele Deutsche ausgerechnet nach Amerika ausgewandert sind. In weiten Teilen der deutschen Gesellschaft herrscht ein Anti-Amerikanismus vor, der in den vergangenen Jahren eher noch größer geworden ist. Dass es ausgerechnet in den USA einmal besser gewesen sein soll als in Deutschland, stößt auf Unverständnis. Die gemeinsame Geschichte beider Länder ist vielen jedoch unbekannt.

Für viele Millionen Deutsche gab es handfeste Gründe, warum sie sich zu einer Auswanderung nach Nordamerika entschlossen. Beinahe 90 Prozent aller Auswanderer dieser Zeit zogen nach Nordamerika, nur wenige emigrierten nach Südamerika, Namibia oder nach Ozeanien. Im 18. Jahrhundert spielte das Recht, seine Religion frei ausüben zu können, für die Auswanderung eine große Rolle. Dies war nur in Amerika möglich, dies war der Hauptgrund für die Anfänge der Auswanderung in die USA. Diese geschah zwar noch in einem vergleichsweise geringen Ausmaß, dennoch wurde hier der Grundstein für die Auswanderungsströme des 19. Jahrhunderts gelegt. Doch die Auswanderer hatten neben der freien Ausübung der Religion noch weitere Motive, ihre Heimat in Richtung Nordamerika zu verlassen.

Mit der Verlagerung der Seefahrt vom Mittelmeer in den Atlantikraum zu Beginn der Neuzeit stieg auch das britische Imperium endgültig zu einer Weltmacht auf. Wie viele andere europäische Mächte wandten sich die Briten Nordamerika zu. Doch die Expansionspläne der englischen Krone gestalteten sich anders als bei den anderen europäischen Mächten. Sie gründete weder Vizekönigreiche noch wurden Eroberungskriege – zumindest nicht im Namen der Krone – geführt. Das Königshaus stellte lediglich Freibriefe für die Kolonisation der Neuen Welt durch private englische Handelsgesellschaften aus, die das Risiko der Besiedlung in eigenem Interesse und auf eigene Kosten unternahmen. Auf dieser Grundlage begann die englische Besiedlung Nordamerikas. Im Süden wurde die Handelskolonie Virginia gegründet, im Norden siedelten sich die Pilgerväter, die »Pilgrim Fathers«, im heutigen Massachusetts an und dienten vielen anderen europäischen Religionsflüchtlingen als Vorbild. Schon unter den ersten Kolonisten waren auch einige deutsche Handwerker, Bauern und Kaufleute aus Brandenburg, Schlesien, Nürnberg und der deutschsprachigen Schweiz.

Die Pilgerväter hatten sich von der anglikanischen Kirche abgespalten und mussten daher aus England fliehen. Nach einigen Jahren im niederländischen Exil entschlossen sie sich, in der Neuen Welt einen neuen Anfang zu wagen. Am 6. September 1620 brachen sie auf der »Mayflower« nach Amerika auf, wo sie am 21. November landeten. Sie waren keinesfalls die ersten englischen Siedler in der Neuen Welt, jedoch spielt ihr Auszug nach Amerika in der Erinnerung und der Alltagskultur der Amerikaner eine große Rolle. Die Pilgerväter waren es nämlich, die von den in der Region lebenden Wampanoag unterstützt wurden, da sie sonst den harten Winter nicht überlebt hätten. Zum Dank dafür veranstalteten die neuen Siedler im nächsten Jahr ein Erntedankfest, aus dem das heutige »Thanksgiving« hervorging.