Dem toten Vater

Inhalt

Vorwort von Joachim Bauer

Das »Selbst« als der Kern des Menschen

Quellen von Lebenssinn

Moderne Medizin zwischen Sachlichkeit und Menschlichkeit

Editorische Notiz

I. Vom Sinn und Wert des Lebens

I. Vom Sinn und Wert des Lebens

II. Vom Sinn und Wert des Lebens

II. Vom Sinn und Wert des Lebens

Experimentum crucis

Experimentum crucis

Nachwort von Franz Vesely

Anmerkungen

Über Viktor E. Frankl

Weitere Werke von Viktor E. Frankl

Viktor-Frankl-Institut

Dank

Vorwort von Joachim Bauer

Die in diesem Buch wiedergegebenen Texte, Niederschriften dreier im Jahre 1946 von Viktor Frankl gehaltener Vorträge, sind von ungeheurer Wucht und verblüffender Aktualität. Sie geben, in komprimierter Form, das gesamte Denken dieses großen Arztes und Psychotherapeuten wieder, welches er in den nachfolgenden Jahrzehnten in zahlreichen Artikeln und Büchern ausgebreitet hat. Die Tiefe, mit der Viktor Frankl die Conditio humana in diesen drei Texten ausleuchtet, ist unerreicht. Das Verdienst des Beltz Verlags, mit der Herausgabe dieses Bandes das Denken Viktor Frankls dem heutigen Publikum, insbesondere jüngeren Menschen, zugänglich zu machen, ist daher außerordentlich hoch einzuschätzen.

Viktor Frankl war, obwohl er eine solche Bezeichnung aufgrund seines zurückhaltenden, bescheidenen Wesens abgelehnt hätte, ein Gigant. Für mich steht er mit Hippokrates, dem Begründer der ärztlichen Heilkunst im klassischen Griechenland, und dem elsässischen Arzt Albert Schweitzer, der 1954 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, auf einer Stufe. Wie Schweitzer, so hat sich auch Viktor Frankl, über die ärztliche Heilkunst weit hinausblickend, mit anthropologischen, die Grundlagen des Menschseins betreffenden Fragen befasst. Nachfolgend seien drei Aspekte, die mich an den hier publizierten Texten besonders berührt haben, herausgegriffen und etwas näher betrachtet.

Das »Selbst« als der Kern des Menschen

Viktor Frankl war 41 Jahre alt, ein Mann in den besten Jahren, als er die Vorträge hielt, deren Texte wir hier lesen. Doch er hatte bereits Erfahrungen hinter sich, die zum Schlimmsten gehören, was einem Menschen widerfahren kann. Frankl gehörte zu den Millionen von Menschen, die von den entsetzlichen Verbrechen der Nationalsozialisten betroffen waren. Er war zugleich aber auch einer der wenigen, welche die im Konzentrationslager (in seinem Falle in mehreren Konzentrationslagern) erlittene Haft überlebt hatten. Er nahm aus dieser Zeit eine Erfahrung mit, die ihn persönlich erkennen ließ, was den Kern des Menschen ausmacht, wenn ihm alles genommen wurde: die Begegnung mit dem eigenen Selbst. Ein Kennzeichen unserer heutigen Zeit ist, dass viele Menschen zu einer Begegnung mit dem eigenen Selbst angesichts der Hast unseres Lebens keine Gelegenheit mehr haben oder dass sie ihr aktiv ausweichen, indem sie sich ständig ablenken. Warum? Weil eine Selbst-Begegnung mit unangenehmen Gefühlen verbunden oder gar unerträglich wäre.

Häftling in einem Konzentrationslager zu sein ist eine unvergleichliche Ausnahmeerfahrung. Viktor Frankl würde, wie er uns deutlich macht, dies aber nur eingeschränkt gelten lassen: Auch das sozusagen ganz normale Leben hält Situationen bereit, die dem Menschen, ähnlich wie dem Häftling, mit einem Male vieles oder gar alles wegnehmen, was es ihm bis dahin ermöglicht hatte, der Begegnung mit dem eigenen Selbst auszuweichen. Derartige Situationen können jedem Menschen widerfahren: Allein in Deutschland erkranken jährlich 480.000 Menschen neu an Krebs. Schicksalsschläge verschiedener Art, Verluste, Unfälle oder Krankheiten können plötzlich ins Leben einbrechen und einen Menschen in seinen Möglichkeiten einschränken, ihm in manchen Fällen gar schwerste Einschränkungen auferlegen. Was dann?

Viktor Frankls Texte sind eine Ermutigung, dem eigenen Selbst nicht erst dann zu begegnen, wenn durch einen Schicksalsschlag alles Unwesentliche »eingeschmolzen« wurde, wenn »Geld, Macht, Ruhm … fragwürdig geworden« oder verloren gegangen sind (die Zitate geben Frankls Worte wieder). Unser Selbst ist es wert, dass wir uns ihm nicht erst dann zuwenden, wenn uns das Leben keine andere Wahl mehr lässt. Ich habe dem menschlichen Selbst kürzlich ein Buch gewidmet.1 Die zentrale Aufgabe des Lebens besteht nach Frankl darin, innerlich schon früh im Leben gut aufgestellt zu sein. Dies erfordere es, ein »inneres Können« zu entwickeln, um »sein Selbst, sein Eigentlichstes« auch dann bewahren zu können, wenn die ständigen Ablenkungen sowie der materielle Plunder, mit dem wir uns im Alltag umgeben, plötzlich wegfallen.

Wer mit seinem Selbst nicht in Kontakt ist, durch das Schicksal aber plötzlich gezwungen ist, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was das eigene Leben wesentlich, wertvoll und sinnvoll macht, der unterliegt der Gefahr, in der Not in Apathie abzugleiten. Viktor Frankl erkannte, dass »das seelische Sich-fallen-Lassen … auch zu einem leiblichen Verfall führt«. Hier spricht der ganzheitlich denkende Arzt Viktor Frankl und nimmt vorweg, was heute den Kern der Psychosomatischen Medizin bildet und unter anderem auch Stand der Wissenschaft in der modernen Psychoonkologie ist: Menschen, denen die Selbstkräfte ausgehen, erleiden eine Schwächung ihres Immunsystems und damit auch ihrer Widerstandskraft gegen eine Erkrankung, Tumorerkrankungen eingeschlossen.2

Quellen von Lebenssinn

Großartig ist, wie Viktor Frankl uns die Quellen aufzeigt, die unserem Leben Sinn spenden können. Was heute weltweit immer mehr Menschen umtreibt (und sie dazu bringt, sich immer stärker verschiedenen spirituellen Angeboten zuzuwenden), ist die Erkenntnis, dass materieller Wohlstand per se keine sinnstiftende Veranstaltung ist. »Lust an sich«, so Frankl, »ist nichts, was dem Dasein Sinn zu geben vermöchte. … Glück soll und darf und kann nie ein Ziel sein, sondern nur das Ergebnis.« Von hier aus entwickelt Viktor Frankl nun den entscheidenden Gedanken, der den Kern des von ihm entwickelten existenzphilosophischen Konzeptes bildet: »Die Frage [kann] nicht mehr lauten: ›Was habe ich vom Leben zu erwarten‹, sondern darf nur mehr lauten: ›Was erwartet das Leben von mir?‹« Das Leben ist es, so Frankl, das Fragen an uns richte, auf die wir zu antworten haben. Nur indem wir darauf antworten, biete sich die Möglichkeit zur Sinnerfüllung.

Als Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, um auf die durch das Leben an uns gerichteten Fragen zu antworten, nennt Viktor Frankl das tätige Handeln, die Zuwendung zum anderen Menschen und das Erleben schöner Eindrücke (einschließlich der Schönheiten der Natur). Wem die Möglichkeit, tätig zu sein, genommen sei, dem bleibe das Erleben, einschließlich der Erfahrung, geliebt zu werden. Dem Menschen sei es möglich, »jenseits vom Tätigsein, im passiven Aufnehmen der Welt in das Selbst die Sinngebung des Lebens … zu vollziehen«.

Beim Nachdenken über potentielle Sinnquellen führt Viktor Frankl seine Leserinnen und Leser in tiefste Tiefen: Auch ein dem Menschen auferlegtes, nicht zu behebendes Leiden könne zu einer Sinnquelle werden. Die Art und Weise, wie der Mensch zu seinem Leiden innerlich Stellung nehme, könne ein sinnstiftender Akt sein. »Dem Sinn, der sich aus Kranksein und Sterben ergeben mag, [kann] alle äußere Erfolglosigkeit und alles Scheitern in der Welt nichts anhaben.« Frankl spricht hier von einem »inneren Erfolg«. Der Sinn unseres Lebens bestehe zu einem nicht geringen Teil darin, »wie wir uns zu unserem äußeren Schicksal einstellen«.

Hier ergeben sich hochaktuelle Bezüge zu Fragen, die uns heute in der Traumaforschung beschäftigen. Krankheit und erlittene Traumata können dann, wenn die Betroffenen eine hinreichende soziale oder therapeutische Unterstützung erhalten, nicht nur Belastungen erzeugen, sondern auch zu etwas führen, was heute als »Posttraumatisches Wachstum« (Posttraumatic Growth) bezeichnet wird. Die Seele des Menschen könne, »zumindest bis zu einem gewissen Grad und innerhalb gewisser Grenzen«, auch dadurch gefestigt werden, dass sie eine Belastung erfahre. »Vom Menschen und nur von ihm«, so Frankl, »ist es abhängig, ob sein Leiden einen Sinn hat oder nicht.«

Moderne Medizin zwischen Sachlichkeit und Menschlichkeit

Zu den ganz starken Elementen der in diesem Buch veröffentlichten Frankl-Texte gehören für mich seine Ausführungen zum Arzt-Patienten-Verhältnis. Der Patient (oder die Patientin) findet in einer seelischen Krise, die eine schwere Erkrankung meistens mit sich bringt, in der Regel nicht aus eigenen Kräften den Weg zu einer Wiedererlangung seiner Selbstkräfte. Um den verborgenen Sinn einer Erkrankung zu entdecken und zurückzufinden zu verloren gegangenen Selbstkräften, braucht der Patient den guten Arzt.

Viktor Frankl, der bereits Facharzt für Neurologie war, bevor er von den Nationalsozialisten verhaftet und interniert wurde, leistet sich keine billige Kritik an der Schulmedizin. Vielmehr beschreibt er eine der modernen Medizin inhärente Gefahr, den Patienten zu einem »Fall« und zu »Kranken-Material« zu machen. Wer meint, diese von Frankl zitierten Begriffe seien aus einer anderen, früheren Zeit, der irrt. Ich habe viele Kollegen so über Patienten und über Mitarbeiter (»Mitarbeiter-Material«) reden hören. Diese Begriffe kennzeichnen, um es in Frankls Worten auszudrücken, »wie tief und weit die Distanzierungstendenz seitens des Arztes [und] dessen Verdinglichung von Menschen geht«. Wie eine an unsere heutige Medizin adressierte Botschaft hört es sich an, wenn wir bei Frankl lesen: »Der gute Arzt wird … immer wieder aus der Sachlichkeit in die Menschlichkeit zurückgerufen.« Es wäre interessant zu wissen, wie Viktor Frankl sich gegenüber denen äußern würde, die heute meinen, die Allgemeinheit habe das Recht, vom Einzelnen im Dienst der Medizin etwas zu fordern, wie zum Beispiel die zum Standard erklärte Bereitschaft zur Organspende. Jeder Leser und jede Leserin möge nach Lektüre der Frankl'schen Texte diese Frage selbst entscheiden.

Für mich gehören zu den besonders bewegenden Passagen seiner Ausführungen Frankls Hinweise darauf, dass der einzelne Patient vom Arzt gespiegelt und in einem tieferen Sinne »gesehen« werden müsse. Es sei die »Menschlichkeit im Arzt, [die] das Menschliche im Kranken überhaupt erst entdeckt … und, darüber hinaus, das Menschliche im Kranken erweckt«. Was für ein Satz! Spiegelung und Gesehen-Werden braucht der Mensch, und hier insbesondere der vom Schicksal geschlagene oder von Krankheit betroffene Mensch, nicht nur vom Arzt, sondern ganz allgemein. Um im Leiden einen Sinn finden zu können und um den Versuch unternehmen zu können, in einer gegebenen schwierigen Situation eine angemessene Haltung zu entwickeln, bedarf es des Anderen. Jeder der Lagerhäftlinge »wusste …, dass irgendwie, irgendwo, irgendwer da war, der unsichtbar auf ihn sah«. Mehrfach betont Frankl »die Existenz der Anderen, das Sein der Anderen«, ohne die es dem Menschen nicht möglich sei, sein Selbst zu bewahren und sich den Aufgaben des Lebens zu stellen. Hier zeigt sich die ganze Wucht der Aktualität der Frankl'schen Texte. Dass wir der zwischenmenschlichen Resonanz bedürfen, um unser Selbst zu gewinnen, zu entwickeln und zu bewahren, ist modernstes Denken.3

Ich wünsche den Texten dieses Buches viele interessierte Leserinnen und Leser. Dass die Lektüre von Viktor Frankls Schriften mit einem riesigen persönlichen Gewinn verbunden ist, ist gewiss.

Berlin, im Sommer 2019

Univ.-Prof. Dr. med. Joachim Bauer

Univ.-Prof. Dr. Joachim Bauer ist Internist, Psychiater, Psychotherapeut und Autor vielbeachteter Sachbücher. Er war lange auch in der neurowissenschaftlichen Forschung tätig. Prof. Bauer lebt, lehrt und arbeitet in Berlin. www.psychotherapie-prof-bauer.de

Editorische Notiz

Die hier abgedruckten Vorträge hielt Viktor Frankl im März und April 1946 an der Volkshochschule des Wiener Arbeiterbezirks Ottakring. Sie erschienen im selben Jahr als Buch unter dem Titel »… trotzdem ja zum Leben sagen«. Drei Vorträge. Für die vorliegende Neuausgabe musste ein neuer Titel gewählt werden, weil Frankl den obigen Haupttitel – ein Zitat aus dem berühmten »Buchenwaldlied« – später noch einmal verwendete, als er sein Buch Ein Psycholog erlebt das KZ zusammen mit dem Drama Synchronisation in Birkenwald neu veröffentlichte.

Für die Neuausgabe wurden die Texte der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst. Ebenfalls behutsam angepasst wurden einzelne Termini Frankls, die zum Zeitpunkt der Entstehung der Vorträge selbstverständlicher Bestandteil des allgemeinen und des medizinischen Wortschatzes waren, heute jedoch nicht mehr zeitgemäß sind, wie »Irrenanstalt«, »Neger«, »Geisteskranker«, »Vertilgung«, »idiotische, geistig zurückgebliebene Kinder«.

I. Vom Sinn und Wert des Lebens