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Dieser eine Typ wurde also von der Schule geworfen.

Das muss man erst mal hinbekommen, dafür muss man schon echte Gesetze brechen. Wir hörten so einige Gerüchte, aber niemand erzählte uns, was wirklich vorgefallen war.

Dieser Typ hieß Jammer und ich bekam seinen Spind.

Keine Ahnung, was er da drin gelagert hatte, aber er muss die Kombination der halben Schule gegeben haben. Ständig machte sich irgendwer an meinem Kram zu schaffen.

Also steckte ich eine Schlange in den Spind. Problem gelöst.

Es war eine Diamant-Klapperschlange, ein ausgewachsenes Exemplar, acht Ringe an der Rassel. Sie machte also ordentlich Krach, als der Spind geöffnet wurde. Die sind richtig ausgeflippt.

Keine Sorge, die Schlange konnte nicht zubeißen. Ich hatte ihr das Maul zugeklebt. Ziemlich schwierig, nichts für Anfänger. Man braucht eine ruhige Hand und keinerlei gesunden Menschenverstand. Ich würde davon abraten, es zu versuchen.

Der Punkt ist: Ich wollte nicht, dass die Schlange jemanden verletzt, ich wollte nur, dass die Leute die Finger von meinem Spind lassen.

Und das tun sie jetzt.

Ich hab die Klapperschlange auf der Grapefruit Road ausgesetzt, ein paar Kilometer die Straße runter, auf demselben Baumstamm, auf dem ich sie gefunden hab. Man muss sich blitzschnell aus dem Staub machen, denn eine ausgewachsene Klapperschlange hat eine ziemliche Reichweite, ungefähr die Hälfte ihrer Körperlänge.

Die wenigsten Leute wissen das – wieso sollten sie auch? Das ist keine sonderlich wichtige Information, wenn man ein halbwegs normales Leben führt.

Aber das tue ich nicht.

»Was macht dein Dad beruflich?«

Die Frage wird mir gestellt, wann immer wir umziehen. Meine Standardantwort: »Er ist selbstständig.«

Aber die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, was mein Vater eigentlich macht. Er schickt einen Scheck und Mom löst ihn ein. Ich hab den Typen nicht mehr gesehen, seit ich drei Jahre alt war. Vielleicht vier. Macht mir das etwas aus? Möglicherweise. Sicher.

Ich hab mir ein bisschen was dazu durchgelesen. Wie es eine Person durcheinanderbringen kann, wenn die Eltern sich trennen, besonders dann, wenn ein Elternteil sich quasi in Luft auflöst. Ich will nicht so ein Problemkind sein, aber ich kann es als Möglichkeit auch nicht ganz ausschließen.

Mom redet nicht gern über Dad. Die Schecks kommen immer pünktlich – jeden Monat am Zehnten –, und sie platzen nie. Wir sind vielleicht nicht reich, aber wir sind sicherlich nicht arm. Es ist unglaublich, wie viele Schuhe meine Schwester besitzt. Oh Mann, gehe ich ihr auf die Nerven.

So wie ich das sehe, verdient Mom aber keinen Freifahrtschein, nur weil sie nicht über meinen Vater sprechen will. Das ist schließlich nicht unbedingt eine gesunde, offene Herangehensweise an ein solches Thema. Also bleibe ich an ihr dran – bin aber nicht zu fies zu ihr.

»Was macht er beruflich?«, frage ich, als hätte ich das noch nie zuvor gefragt.

»Tja, Billy, ich bin mir nicht ganz sicher, was er macht«, fängt sie mit derselben gepressten Stimme wie jedes Mal an, »aber ich kann dir sagen, was er nicht macht.«

Im Laufe der Zeit konnte ich anhand der Kommentare meiner Mutter folgende Berufe von der Phantom-Vater-Liste streichen: Astronaut, Quantenphysiker, Anwalt, Arzt, Heavy-Metal-Gitarrist, Tierarzt, Architekt, Hockeyspieler, Rennfahrer, Jockey, Klempner, Dachdecker, Elektriker, Pilot, Autoverkäufer und Yogalehrer.

Mom sagt, Dad sei zu klaustrophobisch, um ein Astronaut zu sein, zu schlecht in Mathe, um ein Quantenphysiker zu sein, zu schüchtern für einen Anwalt, zu zimperlich für einen Arzt, zu unkoordiniert, um Gitarre zu spielen, zu groß für einen Jockey, zu aufgedreht für Yoga, und so weiter.

Ich mag dieses Spiel nicht besonders, aber ich sammle immer mehr Informationen. Mom ist ziemlich empfindlich bei dem Thema, deshalb versuche ich, es vorsichtig anzugehen. Meine Schwester Belinda tut so, als ob ihr das alles völlig egal wäre, als wäre sie nicht im Geringsten neugierig auf unseren Vater. Diese gespielte Gleichgültigkeit nennt man Abwehrmechanismus, zumindest habe ich das gelesen.

Vielleicht ist mein Vater Psychiater und ich werde eines Tages auf seiner Couch liegen und wir gehen diesen ganzen Kram gemeinsam durch. Oder eben auch nicht.

In der Schule versuche ich, mich unauffällig zu verhalten. Wenn man so oft umzieht wie meine Familie, ist es schlicht nicht praktikabel, Freundschaften zu schließen. Es ist einfacher, wieder zu gehen, wenn man sich von niemandem verabschieden muss. Das habe ich gelernt.

Aber manchmal muss man »interagieren«. Man hat keine Wahl. Manchmal kann man nicht unterm Radar fliegen.

In der letzten Schulwoche drischt ein Typ vom Lacrosse-Team im Flur plötzlich auf einen Jungen ein. Klar, der Junge ist ein Trottel, aber er ist harmlos. Und der Lacrosse-Spieler bringt locker zwanzig Kilo mehr auf die Waage. Trotzdem stehen die Leute einfach nur rum und schauen sich diesen »Kampf« an, der eigentlich eine Demütigung ist. Typen, die viel größer sind als ich, richtige Schränke, jubeln und schreien. Keiner von ihnen rührt auch nur den kleinen Finger, um zu helfen.

Also lasse ich meine Tasche fallen, springe von hinten auf Larry Lacrosse und nehme ihn in den Schwitzkasten. Nach kurzer Zeit wird sein Gesicht dunkelrot und er sieht aus wie ein Ochsenfrosch mit Verstopfung. In dem Moment ziehen mich ein paar seiner Mannschaftskollegen von ihm herunter, und einer der Sportlehrer eilt herbei, um die Sache aufzulösen. Niemand wird bestraft, nicht einmal mit Nachsitzen, wie immer.

Der kleine Loser, der verprügelt wurde? Ich kannte nicht mal seinen Namen. Der Lacrosse-Spieler heißt Kyle irgendwas. Wir haben locker sieben Kyles an der Schule, die kann ich mir unmöglich alle merken. Dieser Kyle kommt später zwischen der sechsten und siebten Stunde an und sagt, er werde mir den Arsch aufreißen. Dann packt einer seiner Freunde ihn am Arm und flüstert: »Vorsicht, Alter. Das ist der Psycho mit der Klapperschlange im Spind.«

Ich setze mein bestes Psycho-Lächeln auf und Kyle verzieht sich. Großer starker Supersportler, der gerne Loser verprügelt, die halb so groß sind wie er. Erbärmlich.

Allerdings haben viele Leute Angst vor Schlangen. Das nennt man Ophidiophobie. Experten sagen, es sei eine tief verankerte Urangst. Keine Ahnung.

Während der siebten Stunde werde ich von Officer Thickley aus dem Unterricht geholt. Er ist der Deputy, also der Stellvertreter des Sheriffs, und hängt meistens im Büro rum. Thickley ist für die Sicherheit auf dem Schulgelände verantwortlich. Er ist kräftig, freundlich und auf der Zielgeraden zur Pensionierung.

»Billy, ich frag dich einfach geradeheraus«, sagt er im Flur. »Es gibt Gerüchte, dass du eine Schlange in deinem Spind versteckst. Eine Klapperschlange.«

»Eine lebendige Klapperschlange? Das ist verrückt.«

»Können wir mal einen Blick hineinwerfen?«

»Klar, kein Problem. Wer ist wir

»Ich, nur ich.«

»Sicher, Officer Thickley. Sie müssen doch nicht erst fragen.«

»Oh, ich frage immer«, sagt er. »Siehst du, wenn ich den Schülern Respekt zolle, respektieren sie mich auch. Das ist ein Geben und ein Nehmen.«

»Ich hab nichts dagegen«, sage ich ihm. »Sie können den Spind einfach selbst öffnen, oder?«

»Komm bitte mit.«

»Aber ich darf diese Stunde echt nicht verpassen. Mrs. Bowers wiederholt gerade den Stoff für die Abschlussklausur.«

»Bitte, Billy. Ich bin kein großer Fan von Schlangen.«

Wir laufen den Flur entlang zu meinem Spind. Thickley steht mindestens drei Meter hinter mir, während ich aufschließe.

»Hier, bitte schön.«

»Ach du Scheiße!«

»Die ist nicht echt, Mann.« Ich lasse die Gummischlange baumeln, ihr Schwanz wackelt hin und her. »Sehen Sie? Das ist nur ein Spielzeug.«

Langsam kehrt die Farbe in Thickleys Gesicht zurück. Ich hab die Schlange für knapp drei Dollar in einem Scherzartikelladen gekauft. Sie ist schwarz und dünn und sieht überhaupt kein bisschen aus wie eine Diamant-Klapperschlange. Im selben Gang gab es auch Fake-Kotze und -Hundescheiße.

»Billy, warum hast du dieses Ding in deinem Spind?«

»Weil irgendwelche Typen immer wieder meinen Spind aufmachen und sich an meinem Kram vergreifen. Sie kannten Jammer, oder? Der Spind hat ihm gehört, bevor er geflogen ist.«

»Oh«, sagt Thickley. »Dann sollten wir dir einen anderen Spind zuteilen.«

»Nee, kein Stress.«

»Aber der Spind riecht immer noch nach Jammers … Zeug.«

»Ist das der Grund für diesen fürchterlichen Gestank?«

Thickley sagt: »Ich besorg dir eine Dose Febreze.«

Ihr denkt wahrscheinlich: Das ist ein ziemlich gestörter junger Mann.

Also wegen der Geschichte von mir und der Klapperschlange, oder?

Aber ich fange Schlangen schon, seit ich ein kleines Kind war, und ich weiß, was ich tue. Normalerweise halte ich mich von den giftigen fern, weil schon der kleinste Fehler einen sofort in einen Krankenwagen katapultiert, der in die Notaufnahme rast. Normalerweise stirbt man nicht an einem Biss, aber der Schmerz soll extrem sein.

Zu Hause habe ich zurzeit eine Kornnatter, eine Königsnatter, zwei Erdnattern und eine Südliche Schwimmnatter, alle ungiftig. Ich würde allerdings nicht »harmlos« sagen, denn die Schwimmnatter ist richtig böse. Ganz ehrlich, die Klapperschlange war leichter in der Handhabung.

Ich behalte eine Schlange nie länger als eine Woche oder zwei. Sie bleiben in der Zeit in der Garage, in Terrarien, mit Deckeln, die absolut dicht sind. Meine Mutter ist nicht besonders begeistert, aber sie hat sich daran gewöhnt. Sie sagt, das sei immerhin sicherer als Wakeboarden oder Base-Jumping. Beides steht definitiv nicht auf meiner Liste zukünftiger Hobbys.

Eine frei lebende Schlange wird niemandem etwas tun, solange man ihr etwas Platz lässt. Das gilt für Klapperschlangen genauso wie für andere.

»Was stimmt denn nicht mit dir«, sagt meine Schwester oft. Das ist nie eine Frage. »Das sind keine normalen Haustiere.«

»Es sind keine Haustiere, Belinda. Ich besitze sie nicht.«

»Ein Welpe gibt dir immerhin Liebe. Eine Schlange gibt dir nichts außer einem kalten Blick.« Meine Schwester, die Komikerin.

In ein paar Monaten wird sie aufs College gehen – Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York. Mordsmäßig tolle Schule. Gut für sie.

Belinda sagt, sie freut sich auf den Winter im Norden, aber sie hat nicht die geringste Vorstellung von der Kälte da oben. Genau wie ich hat sie ihr gesamtes Leben in Florida verbracht, dem Ort, an dem jeder aus dem Norden jeden Januar sein möchte.

Von der Klapperschlange wusste sie natürlich nichts. Genauso wenig wie Mom. Sie halten sich von den Terrarien in der Garage fern.

Ich halte gerade die Königsnatter, als Mom ihren Kopf durch die Tür steckt und sagt: »Was ist heute in der Schule passiert, Billy? Tu das unheimliche Ding zurück und komm rein.«

Es stellt sich heraus, dass der Loser – mit Nachnamen heißt er Chin – meiner Mutter eine Freundschaftsanfrage bei Facebook geschickt hat. Wer, bitte, macht denn so was? Er hat ihr geschrieben, dass er sich bei mir bedanken möchte, weil ich verhindert habe, dass er im Flur zusammengeschlagen wurde. Er sagt, es habe sich noch nie jemand für ihn eingesetzt.

Deshalb hab ich kein einziges Social-Media-Profil. Viel zu viel menschlicher Kontakt.

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragt Mom.

»Weil es keine große Sache war.«

»Schlägereien sind definitiv eine große Sache. Es ist noch eine Woche bis zu den Sommerferien. Kannst du bitte versuchen, bis dahin nicht von der Schule zu fliegen?«

»Sie werden mich nicht von der Schule werfen. Ich hab überall Einsen.«

»Aber was, wenn du den anderen Jungen verletzt hättest?«

»Das Einzige, was ich verletzt habe, war sein leuchtendes blondes Ego.«

Sie seufzt. »Wir haben darüber schon gesprochen, Billy.«

»Was? Soll ich mich umdrehen, wenn ich sehe, dass etwas Schlimmes passiert?«

»Nein, natürlich nicht. Du sollst es sofort einem Lehrer melden. So soll mit Mobbing-Fällen umgegangen werden, das steht auch in der Schulordnung.«

Ich muss kurz auflachen. Es ist nicht so, dass ich meine Mutter nicht respektiere, aber im Ernst – die Schulordnung? Kyle der Lacrosse-Star hat dem armen Jungen ins Gesicht geschlagen. Also echt mal.

Am nächsten Tag sehe ich, wie Chin alleine im Pausenraum sitzt und isst. Er hat ein blaues Auge und einen weißen Verband über einem Ohr. Er schaut nicht von seinem Essen hoch, deshalb sieht er mich nicht.

Ich laufe geradewegs zum Tisch der Lacrosse-Typen, setze mich neben Kyle und beginne, mein Schinken-Sandwich zu essen. Er starrt mich nur an. Nicht gerade ein Augenblick der Verbrüderung.

Einer von Kyles obercoolen Freunden sagt zu mir, ich solle mich an einen anderen Tisch setzen.

»Och, aber ihr seid so cool!«, sage ich. »Ich möchte wie ihr sein. Dieselben coolen Klamotten tragen. Mit denselben coolen Mädels abhängen. Es ist wirklich eine Ehre, mit euch hier an diesem supercoolen Tisch zu sitzen. Ganz im Ernst, dieses Mittagessen ist der Höhepunkt meines gesamten Lebens.«

Und die dachten, sie wären Sarkasmus-Profis.

»Verzieh dich, Schlangenjunge«, sagt einer von Kyles Bodyguards.

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen. So nennen sie mich also?

»Ach, mögt ihr Reptilien auch so gern?«

Ich lasse das Sandwich sinken, hole mein Smartphone heraus.

Kyle ist sauer, aber auch sichtlich nervös. Er sagt kein Wort. Ich google das Bild eines Wildschweinjägers, der von einer Diamant-Klapperschlange gebissen wurde, in der Nähe von Yeehaw Junction – den Ort gibt es wirklich, schaut es nach. Der Arm des Jägers ist so dick angeschwollen wie ein Kiefernstamm. Seine Finger sehen aus wie gekochte lila Würstchen.

Ich halte das Smartphone hoch, sodass Kyle und seine Supercrew das Foto sehen können. »Das kann passieren«, sage ich, »wenn man nicht vorsichtig genug ist.«

Kyle wird blass und rückt mit seinem Stuhl von mir weg. »Alter, du bist ein totaler Psycho.«

»Kann ich deine restlichen Doritos haben?«, frage ich freundlich.

Sie stehen alle auf, nehmen ihre Tabletts und gehen, Kyle vorneweg. Nur zur Info: Der Wildscheinjäger ist nicht am Schlangenbiss gestorben. Einen Monat später war er zurück im Wald – aber viel vorsichtiger.

Ich hab das Gefühl, dass Kyle Chin von jetzt an in Ruhe lassen wird.

Am Abend vor dem letzten Schultag sitzt Mom in der Küche an der monatlichen Haushaltsabrechnung. Sie hat einen gelben Notizblock, zwei gespitzte Bleistifte und einen Taschenrechner vor sich. Außerdem sehe ich den monatlichen Scheck meines Vaters auf dem Tisch liegen. Sein Name ist darauf abgedruckt, aber keine Adresse.

Mom ist es egal, dass wir den Scheck sehen, aber den Briefumschlag zerschneidet sie immer in kleine Schnipsel und wirft sie weg. Später hole ich die dann aus dem Müll und versuche, sie wieder zusammenzusetzen. Normalerweise ist das unmöglich, weil es das reinste Konfetti ist, aber diesmal muss Mom mit der Schere in Eile gewesen sein. Als sie nicht hinguckt, schnappe ich mir die Schnipsel des Umschlags und schmuggle sie in mein Zimmer. Diesmal passen sie zusammen wie Puzzleteile, und man kann die Absenderadresse klar und deutlich in der linken oberen Ecke lesen.

Also laufe ich zurück in die Küche und frage: »Mom, wie viel kostet ein Flugticket nach Montana?«

»Wovon redest du da?«

Ich zeige ihr den zusammengeflickten Umschlag.

Sie runzelt die Stirn. »Wir können diesen Sommer nicht wegfahren. Ich hab den neuen Job, das weißt du doch.«

»Es gibt auch in Montana Uber-Taxen.«

»Das bezweifle ich«, sagt Mom. »Höchstens Uber-Traktoren.«

Meine Schwester und ich sind nicht besonders glücklich darüber, dass sie für Uber arbeitet, denn es ist gefährlich auf den Straßen. Florida hat möglicherweise die schlechtesten Autofahrer des Universums – und die aggressivsten. Aber Mom meinte, sie sei die Arbeit als Buchhalterin leid und wolle einen Job, in dem sie täglich neue Leute trifft.

»Lass mich alleine fliegen«, schlage ich vor. »Ich hab ein bisschen was gespart und kann das selbst bezahlen.«

»Und wo wirst du übernachten?«

»Bei Dad, wo denn sonst?«

»Aber er hat dich nicht eingeladen, Billy.«

»Ich lade mich selbst ein.«

Mom sieht traurig aus.

»Er hat ein komplett neues Leben, Schatz.«

»Das ist Quatsch. Nur weil du eine neue Postleitzahl hast, bekommst du noch lange kein neues Leben. Schau dir uns an!«

Sie schließt die Augen für einen Moment. »Ich wünschte, ich könnte dich hinfliegen lassen, aber das ist keine gute Idee. Er hat wieder geheiratet.«

»Fragt er nicht mehr nach mir und Belinda?«

»Ich schicke ihm Fotos.«

»Das ist alles?«

»Lass uns jetzt nicht mehr darüber sprechen, Billy.«

Zurück in meinem Zimmer, checke ich online meinen Kontostand: 633,24 Dollar. Das sind meine Ersparnisse. Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke und der Nebenjob bei Publix, bis ich ihn nach fünf Wochenenden nicht mehr ausgehalten habe. Einkaufstüten zu packen erfordert auch freundlichen Small Talk mit Fremden – und darin bin ich nicht besonders gut.

Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass ich so viel Geld auf dem Konto habe. Eine Reisewebsite bietet Flüge von Orlando nach Bozeman, Montana und zurück für 542 Dollar an, also schreibe ich Mom einen Scheck und stecke ihn in ihre Handtasche, nachdem sie ins Bett gegangen ist. Dann »leihe« ich mir ihre Kreditkarte, um das Flugticket zu buchen.

Der letzte Schultag ist kurz, da ich nur noch eine letzte Klausur habe, in Mathe. Mittags bin ich fertig und Mom wartet auf dem Parkplatz auf mich. Sie hat den Scheck in der Handtasche gefunden und ist sauer.

»Du fliegst nicht nach Montana«, sagt sie.

»Das Ticket kann man nicht umtauschen.«

»Spiel dich nicht so auf, Billy. Ich hab nicht mal die Nummer deines Vaters!«

»Woher weißt du dann, dass er wieder geheiratet hat?«

»Er hat es mir in einem Brief geschrieben. Vor ein paar Jahren.«

»Warst du sauer?«

»Ich bin sauer, weil er euch nie anruft. Das ist alles.«

»Und du hast wirklich keine Ahnung, was er beruflich macht?«

Mom seufzt. »Er sagt, er arbeitet für die Regierung – was auch immer das bedeutet.«

»Wieso hast du mir nie etwas davon gesagt?«

»Es war mir peinlich, dass ich nichts Genaueres wusste.«

Ich schaue ihr in die Augen und lege meine Hand auf ihren Arm. »Falls er mich nicht sehen will, komme ich sofort nach Hause. Versprochen!«

Sie sagt: »Das ist alles meine Schuld.«

»Bitte weine nicht. Es ist nur ein Flug.«

Aber sie weiß, dass das nicht stimmt. Genau wie ich. Zu viel Zeit ist vergangen. Ich muss mit dem Mann reden.

An diesem Abend nehme ich die Schlangen aus den Terrarien und stecke sie in Kissenbezüge, deren offene Enden ich sorgfältig verknote. Meine Mutter fährt mich die Grapefruit Road hinunter, bis ich einen geeigneten Ort zum Anhalten sehe. Sie bleibt im Auto, wie es jede normale Person tun würde, während ich zwischen die Bäume laufe, die Kissenbezüge öffne und die Schlangen freilasse.

Ich hab bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet, sodass sie sich in Sicherheit bringen können. Die meisten Falken jagen nachts nicht. Noch eine Information, die ihr wahrscheinlich nie mehr brauchen werdet.

Am nächsten Morgen bringt Mom mich zum Flughafen. Ich habe ihr gesagt, ich habe mit meinem Vater gesprochen und er sei begeistert von meinem Besuch.

Eine Lüge. Ich habe eine Stunde lang das Internet durchforstet, aber konnte nirgendwo eine Nummer finden. Alles, was ich habe, ist die Absenderadresse auf dem Briefumschlag. Und nun setze ich mich in ein Flugzeug und fliege quer durch das Land, um einen Mann zu treffen, der mich vielleicht nicht einmal sehen möchte.

Großartig.

2

Meine Familie zieht so oft um, weil Mom eine seltsame Regel hat: Wir müssen in der Nähe eines Weißkopfseeadlerhorsts leben – und mit »in der Nähe« meint meine Mutter eine Entfernung von höchstens fünfzehn Minuten. Sie ist vollkommen besessen von diesen Vögeln, die zugegebenermaßen ziemlich beeindruckend sind. Trotzdem ist das eine seltsame Art, sein Leben auszurichten.

Man kann online alle aktiven Adlerhorste des Bundesstaats nachschauen. Mom sucht sich immer einen in der Nähe einer guten Schule aus und kauft dort ein Haus. Sonntag ist unser Adler-Tag. Sie bauen ihr Nest, ihren Horst, normalerweise auf der Spitze hoher, toter Bäume. Mom, Belinda und ich haben jeweils ein eigenes Fernglas dabei – wie gesagt, wir sind nicht arm – und sitzen eine Stunde oder zwei auf der Motorhaube des Autos und schauen zu den Vögeln hoch.

»Sie bleiben ein Leben lang mit ihrem Partner zusammen«, flüstert Mom oft.

Viele tun das, manche aber auch nicht. Das Thema spreche ich lieber nicht an.

Die Weißkopfseeadler in Florida fliegen normalerweise nicht mehr in den Norden, sobald sie einen Partner gefunden haben. Nachdem ihre Babys flügge geworden sind und ihrer eigenen Wege ziehen, fliegen Mutter und Vater manchmal weg. Ich hab Mom schon erklärt, dass sie oft mehr als einen Horst bauen, aber sie macht sich sofort Sorgen, wenn die Adler nach ein paar Tagen nicht zurück sind. Sie befürchtet, dass sie krank geworden sind, weil sie Fisch aus verseuchtem Gewässer gefressen haben, oder dass jemand auf sie geschossen hat. Diese Dinge passieren, aber manchmal fliegen Adler auch einfach nur weg, weil sie Lust haben, neue Gebiete zu erkunden.

Dann fällt das Nest auseinander und bald sieht man nur noch ein paar tote Äste. Kurz darauf tippt Mom dann auf ihrem Laptop herum und sucht nach einem neuen Adlerhorst, um den sie sich kümmern kann. Dann wird unser Haus verkauft, ein Umzugswagen biegt um die Ecke und schon sind wir unterwegs in die nächste Adler-Stadt. Seit mein Vater uns verlassen hat, haben wir in Key Largo, Clearwater, Everglades City, Punta Gorda und nun in Fort Pierce gewohnt.

Von all diesen Orten hat mir Everglades City am besten gefallen, weil es von Wildnis umgeben ist – oder von dem, was man heutzutage in Florida noch am ehesten als Wildnis bezeichnen kann. Wir haben dort zwei Jahre und drei Monate gelebt, bis das Nest von einem Tornado weggeblasen wurde. Der Adlerhorst war innerhalb weniger Minuten mit dem Boot von unserem Haus aus zu erreichen. Ein Nachbar lieh uns jeden Sonntag seines, um die Adler beobachten gehen zu können. Sie hatten gewöhnlich zwei Babys, die spätestens Mitte des Sommers flügge wurden und verschwanden. Es war am ersten Wochenende im Oktober, als sich aus einem Gewitter an der Chokoloskee-Bucht ein Tornado entwickelte, der das Nest in tausend Teile zerlegte.

Danach haben wir Mutter- und Vateradler nicht mehr gesehen, allerdings bezweifle ich, dass sie im Sturm ums Leben gekommen sind. Seeadler sind hart im Nehmen. Sie haben wahrscheinlich einfach an einer anderen Stelle einen neuen Horst gebaut. Mom wollte nicht darüber sprechen – sie war so geknickt.

Ich überlegte, wie ich sie aufheitern könnte, damit wir in Everglades City blieben, aber das ging irgendwie nach hinten los und sie verkaufte das Haus trotzdem. An dem Tag, als wir das ZU VERKAUFEN-Schild abnahmen, packte ich meine Schlangen ein und ließ sie an einem Schotterweg seitlich des Tamiami-Trails frei.

Mom wartete im Auto mit verriegelten Türen. So machen wir es immer.

Am Morgen, als ich aufbreche, um meinen Vater zu treffen, sagt sie als Letztes am Flughafen: »Billy, bring bitte nichts Lebendiges mit zurück.«

»Du meinst Schlangen?«

»Ich meine alles, was einen Käfig oder ein Terrarium benötigt«, sagt sie und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

Es gibt keine Direktflüge von Florida nach Montana, also muss ich in Atlanta umsteigen. Ein dürrer Typ mit einem Namensschild der Airline erwartet mich und bringt mich zum Gate, obwohl ich ihm sage, dass ich mich allein zurechtfinde (was auch nicht stimmt, der Flughafen ist fürchterlich groß und verwirrend).

Der Flieger nach Montana ist größer als der erste. Neben mir sitzt eine Frau, die riecht wie der Bacon-Cheeseburger, den sie verschlungen hat, während wir auf den Start gewartet haben. Ihr Mann liest ein Buch über den Zweiten Weltkrieg auf seinem Tablet.

Ich verbringe den gesamten Flug mit dem Gesicht am Fenster. Es fühlt sich an, als flöge ich mitten durch einen Kinofilm. Wir überfliegen den Mississippi, der sich breit und schlammig unter uns windet. Danach geht es über die Great Plains, ein Schachbrettmuster aus Gold und Grün. Manche der Felder sind angelegt wie gigantische Kreise.

Aber am meisten, mit Abstand, beeindrucken die Rocky Mountains. Vom Himmel aus fallen zunächst die Ausläufer auf, die aussehen wie die braunen Fingerknöchel eines Riesen. Dann tauchen plötzlich diese unfassbaren Gipfel auf. Hell und zerklüftet, mit Wolken, die sich an die steilen Bergrücken schmiegen. Sogar im Juni sind die Gipfel noch weiß! Ich bin völlig aus dem Häuschen, weil ich noch nie Schnee gesehen habe.

Der Flughafen von Bozeman grenzt an eine hoch aufragende Reihe weiß getünchter Bergkämme. Nach der Landung bittet mich eine Flugbegleiterin, sitzen zu bleiben, bis die anderen Passagiere ausgestiegen sind. Ich hab keine Ahnung, was ich gemacht habe, aber anscheinend bin ich in Schwierigkeiten. Als das Flugzeug leer ist, bringt mich die Flugbegleiterin die Treppe hinunter ins Terminalgebäude.

»Dein Onkel wartet dort drüben«, sagt sie und zeigt auf einen jungen Typen mit Bart, der schwarze Jeans und einen Hoodie trägt. Ich hab ihn noch nie zuvor gesehen. Sie lässt ihn einen Wisch unterschreiben und nickt mir dann zum Abschied zu.

Ich schaue den bärtigen Typen an und sage: »Ich wusste gar nicht, dass ich einen Onkel habe.«

Er grinst. »Spiel einfach mit.«

Anscheinend dürfen Jugendliche in meinem Alter nicht alleine reisen, außer ein Erwachsener nimmt sie nach der Landung in Empfang. Mom hat einen Freund, dessen Neffe auf die Montana State geht – und der hat am Flughafen auf mich gewartet. Sie hat mir nichts davon gesagt, vermutlich, weil sie nicht wollte, dass ich mich verweigere. Ich brauch ganz bestimmt keinen Babysitter.

Der Typ heißt Kurt und erzählt mir, dass er auf Lehramt studiert.

»Perfekt«, sage ich.

»Also, ich bringe dich nach Livingston?«

»Ist das weit weg?«

Kurt lacht. »In Montana gibt es kein weit weg. Die Leute fahren sechs Stunden, um ein Baseball-Nachwuchsspiel anzuschauen, ohne mit der Wimper zu zucken. Bis nach Livingston sind’s nur dreißig Minuten über die Interstate.«

Der erste Teil der Autofahrt ist fast so irreal wie der Flug. Die Straße klettert Berghänge hinauf und taucht in Täler voller leuchtend grüner Wälder ein. Jedes dritte Wort aus meinem Mund ist »Wow!«, für Kurt dürfte es daher ziemlich offensichtlich sein, dass ich Florida noch nie verlassen habe. Wir fahren im Zickzack durch die tiefe Schlucht des Bear Canyon, und wie ein Idiot frage ich ihn, ob es dort Bären gebe.

»Ähm, ja, ziemlich viele sogar«, antwortet er.

»Ich würde gern mal einen Grizzly sehen.«

»Ha, du und zwei Zillionen andere Touristen. Ich kenne viele Leute, die hier aufgewachsen sind und noch nie einen gesehen haben.«

»Und du?«

»Nope.«

»Vielleicht hab ich ja mehr Glück«, sage ich.

Kurt erzählt mir von einer Touristenattraktion mit eingesperrten Grizzlybären. Der größte der Showbären hat sogar schon in Kinofilmen mitgespielt. »Das ist nur ein paar Kilometer von hier«, sagt er. »Das sind unglaubliche Viecher. Sollen wir da vorbeifahren?«

»Danke, aber ich würde lieber einen wilden sehen.«

»Na ja, die hängen aber nicht in Livingston rum.«

»Aber im Yellowstone Nationalpark«, sage ich.

»Sicher, das ist ein echter Grizzly-Hotspot.«

»Mein Vater wird mit mir dahin fahren. Wenn wir Bären sehen, schicke ich dir ein Foto.«

»Ja, bestimmt«, sagt Kurt.

Das Haus ist in der Geyser Street. Es ist blassgrau mit marineblauen Fensterläden. Vor dem Haus umrahmt ein Lattenzaun einen akkurat bepflanzten Garten und auf der Terrasse steht eine Holzschaukel. Ich bin wirklich weit weg von Florida.

Zwei Fahrräder lehnen am Zaun. Ich frage mich, ob Kurt mich an der falschen Adresse rausgelassen hat, und kontrolliere noch mal die Adresse auf dem Briefumschlag meines Vaters. Die Hausnummer stimmt mit der auf dem Briefkasten überein.

Ich rolle meinen Koffer zur Haustür und klopfe. Ein Mädchen öffnet. Sie hat lange, glatte braune Haare und dazu passende Augen und sie ist ein bisschen größer als ich.

»Ich suche Mr. Dickens«, sage ich. »Dennis Dickens.«

Das Mädchen seufzt. »Oh, Bruder, komm rein.«

»Was ist los?«

»Ich sagte, komm rein, Bruder.«

Ich ziehe meinen Koffer ins Haus. Das Mädchen heißt Summer Chasing-Hawks. Tatsächlich bin ich ihr Stiefbruder. Sie sagt, mein Vater hat ihre Mutter vor einigen Jahren irgendwie geheiratet.

»Er ist nicht da«, informiert mich Summer.

»Wann kommt er zurück?«

»Willst du ein Glas Limonade? Mom ist auf dem Fluss drüben bei Billings. Sie wird nicht vor dem Abendessen zurück sein.«

Summer geht in die Küche und kommt mit zwei Dosen Pepsi zurück. »Keine Limonade mehr da, sorry«, sagt sie und wirft mir eine der Dosen zu. »Wir sind Absarokee-Indianer. Wahrscheinlich hast du noch nie davon gehört. Heutzutage nennt man uns Crow, Krähen. Meine Mom hat deinen Dad im Reservat kennengelernt. Seine Drohne ist auf unserem Wohnwagen abgestürzt.«

»Sind die Crow nicht diejenigen, die General Custer fertiggemacht haben?«

»Nö, unser Stamm war auf der anderen Seite der Geschichte – wir haben Späher geschickt, die den US-Soldaten geholfen haben.« Sie zuckt mit den Schultern. »Damals hatten wir ziemliche Probleme mit den Lakotas.«

Ich sitze neben einer orange getigerten Katze auf dem abgenutzten Sofa. Der Stubentiger ist alt und leicht reizbar und er hat eine kahle Stelle auf dem Rücken. Außerdem schnüffelt eine seltsame Promenadenmischung im Raum herum. Er sieht aus wie halb Labrador und halb Windhund, eine schlechte Kombination von albern und schnell. Summer sagt, er hieße Satan.

»Früher nannten wir ihn Sparky«, fügt sie hinzu, »bis er Moms Lieblingsstiefel gegessen hat.«

»Ich würde wirklich gern meinen Vater sehen. Weißt du, wo er ist?«

»Ich hab vorausgesagt, dass du eines Tages hier auftauchen würdest, Billy.«

»Ist er deshalb weg?«, frage ich. »Weil er herausgefunden hat, dass ich komme?«

»Er reist viel für seinen Job. Irgendetwas Dringendes stand plötzlich an.« Summer trinkt ihre Pepsi aus und zerdrückt die Dose.

Die Fenster sind offen und die Luft fühlt sich kühl und trocken an. An einer Wand hängen ein paar gerahmte Fotos, auf denen mein Vater und seine neue Familie zu sehen sind. Dads Haare sehen heller aus als meine und auf manchen Fotos trägt er ein wirres Ziegenbärtchen. Ich finde nicht, dass ich aussehe wie er, aber Summer sagt, sie sähe auf jeden Fall eine Ähnlichkeit.

»Ich wusste sofort, wer du bist, als ich die Tür aufgemacht habe«, sagt sie und nickt.

»Scheiße, dass er nicht da ist. Ich bin extra aus Florida hergeflogen.«

»Dann müssen deine Arme ja richtig müde sein.« Sie zuckt mit den Schultern und lächelt. »Alter Witz. Schlechter Witz. Sorry dafür.«

»Kann ich hier warten, bis deine Mom nach Hause kommt? Ich muss ihr ein paar Fragen stellen.«

»Klar kannst du, Billy. Wo solltest du auch hingehen?«

Wir laufen runter zum Yellowstone River. Ich kann ihn schon aus großer Entfernung hören, was verrückt ist. Die Flüsse in Florida sind so träge und ruhig, dass man kaum merkt, dass sich das Wasser bewegt. Summer sagt, der Yellowstone ist gerade hoch und schlammig wegen der Schneeschmelze in den Bergen. Vom Ufer aus sehe ich die Kraft der rasenden Strömung. Ich werfe einen Stock und schaue ihm hinterher, als er flussabwärts verschwindet.

Die Sonne versinkt hinter den Bergen und die Luft wird kälter. Zurück im Haus stapelt Summer ein paar Holzscheite im Ofen und lässt ihn mich anfachen.

»Was genau macht mein Vater?«, frage ich. »Sein Beruf, meine ich. Meine Mutter hat gesagt, er macht irgendetwas für die Regierung, aber sie weiß nicht, was genau.«

»Du hast ihn nie gefragt?«

»Ich hab den Mann nicht mehr gesehen, seit ich ein kleines Kind war.«

Summer sieht ehrlich überrascht aus. »Er hat wirklich nie angerufen?«

»Nein. Aber er schickt immer einen Scheck.«

»Pünktlich jeden Monat zum Zehnten, richtig? Fünftausend Dollar.«

Es fühlt sich seltsam an, über diesen Kram zu sprechen – über das Geld, das meine Familie bekommt –, mit einem Mädchen, das ich kaum kenne.

»Dad muss es dir also gesagt haben.«

Summer Chasing-Hawks lehnt sich nach vorne und hält ihre Hände näher ans Feuer.

»Billy Boy«, sagt sie, »ich bin diejenige, die die Schecks ausstellt.«

Ich wollte Everglades City nicht verlassen. Belinda sagte, sie sei bereit für eine Veränderung, bereit für eine Stadt mit einem Outlet-Shoppingcenter.

Ich nicht. Es gab zwar nicht viele Schlangen in den salzigen Mangroven, aber ich konnte mit dem Fahrrad an viele Orte fahren, an denen es von ihnen nur so wimmelte. Einmal hab ich beim Fischen an einem Kanal gesehen, wie ein Python und ein Alligator sich gegenseitig auffressen wollten. Der Kampf zog sich gefühlte drei Tage hin, bevor sie beide aufgaben und wegschwammen.

Echt wahr. Ich hab das alles auf Video.

Nachdem der Tornado den Adlerhorst zerstört hatte, entwickelte ich einen Plan, um meine Mutter zu beruhigen, sodass wir nicht umziehen mussten. Das war der Plan, der nach hinten losging.

Eines Nachmittags fragte ich sie, ob ich ihren Laptop leihen könne.

»Warum, Billy?«

»Du wirst schon sehen.«

Ein paar Klicks später schauten wir einer Weißkopfseeadlermutter dabei zu, wie sie ihren Nachwuchs mit winzigen Stücken eines angenagten Welses fütterte. Das Ganze wurde live von einem Adlerhorst im National Arboretum in Washington, D. C. gestreamt. Laut der Website befand sich der Horst auf einer Pappel.

Plötzlich tauchte der Adlerpapa mit einem weiteren Fisch auf, den er neben der Mutter ins Nest fallen ließ. Der Babyadler war klein und flaumig, ein grauer Flusenball.

»Hey, schau mal, da ist noch ein Ei!«, rief Mom.

Tränen liefen ihre Wangen herab, so aufgeregt war sie. Wir bemerkten einen Haarriss im anderen Ei.

»Der fängt an zu schlüpfen«, sagte ich.

»Ich weiß, ich weiß! Das ist so unglaublich!«

»Siehst du, Mom. Wir müssen nicht wieder umziehen. Es gibt diese Adler-Kameras überall im Land. Du kannst sie jederzeit beobachten.«

»Wirklich?«

»Und du kannst so viel mehr sehen als mit einem Fernglas. Das ist fast so, als ob du im Adlerhorst drin wärst. Als wärst du selbst ein Adler!«

Ihre Augen starrten gebannt auf den Bildschirm des Laptops. »Billy, ich mache mir Sorgen um das andere Ei.«

Oh nein, dachte ich. Jetzt geht das wieder los.

»Die schlüpfen nicht immer gleichzeitig«, erinnerte ich sie. »Manchmal braucht eins einfach ein bisschen länger. Entspann dich, Mom, ich hab mir alles dazu durchgelesen.«

Sie schlief tagelang nicht und verließ das Haus nicht mehr. Man konnte ihr den Laptop nicht entreißen. Belinda kochte, ich machte die Wäsche. Mom kaute ihre Fingernägel so weit ab, dass sie Pflaster brauchte.

Ich war in der Schule, als das zweite Adlerbaby endlich schlüpfte. Als ich nach Hause kam, schnarchte Mom auf dem Sofa, den Laptop fest umklammert. Belinda und ich brachten sie ins Bett. Abends kaufte sie frische Steinkrabben und schmiss eine kleine Party, nur für uns drei. Wir prosteten dem kleinen Adler mit Limo zu.

Am nächsten Nachmittag weinte Mom wieder. Sie sagte, das größere Adlerbaby sei gemein zum frisch geschlüpften.

»Das ist ganz normal. Sie zanken sich nur«, sagte ich. »Keine Sorge, die Adlermama wird nicht zulassen, dass etwas Schlimmes passiert.«

»Aber Billy, sie ist nicht immer im Nest. Wenn sie zusammen mit Adlerpapa jagen geht, hat sie die Babys nicht im Blick.«

»Lass mich mal sehen.« Ich nahm ihren Laptop und lief in die Küche, wo ich ihn aus Versehen absichtlich auf den Boden fallen ließ.

Mein schlauer Plan war ein Reinfall. Ich hätte wissen müssen, dass Mom wie besessen werden würde. Als ihr Laptop von der Reparatur zurückkam, manipulierte ich die Kindersicherung des Browsers, um alle Adler-Kameras zu blocken. Ich hab das für sie getan. Ansonsten hätte sie Tag und Nacht auf diese Websites gestarrt – quasi ein Vögel beobachtender Zombie.

Kurz darauf zogen wir nach Fort Pierce, also dorthin, wo wir jetzt wohnen. Der Adlerhorst, den sie hier gefunden hat, befindet sich in einem Kängurubaum am Ufer der Indian-River-Lagune. Das Gute war, dass man vom Boden aus die Babyadler nicht sehen konnte, bevor sie größer waren als die Ränder des Nests. Zu der Zeit waren sie schon ziemlich groß und stark, sodass Mom nicht zu nervös werden konnte. Das Beste ist, dass die Adlereltern in der Gegend geblieben sind, nachdem der Nachwuchs flügge wurde. Das heißt, wir müssen erst mal nicht umziehen, außer ein weiterer Sturm würde den Adlerhorst zerstören.

»Es gibt hier Weißkopfseeadler, oder?«, frage ich Summer Chasing-Hawks.

»Sicher, und Steinadler. Die sind noch krasser als die Weißköpfe.«

»Ich würde gern ein Foto von einem machen, für meine Mutter.«

»Vielleicht hast du Glück.«

»Außerdem will ich einen wilden Grizzly sehen.«

Summer lacht leise und sagt: »Montana ist nicht Disney World. Man zahlt nicht einfach den Eintritt und stellt sich für die Show an.«

»Jemals einen gesehen?«

»Einen Grizzly? Jap.«

»Wirklich? Wo? Im Yellowstone Park?«

»Er lag tot in einem Flussbett.« Summer zuckt entschuldigend mit den Schultern. »Es war nicht viel von ihm übrig.«

Sie legt ein weiteres Holzscheit aufs Feuer.

»Was ist mit ihm passiert?«

»Wer weiß«, sagt Summer. »Vielleicht hat ihn ein größerer Bär erwischt, vielleicht war er auch einfach alt. Überleben des Stärkeren, Billy.«

Im Moment spreche ich lieber über Bären und Adler als über meinen Vater. Summer hat mir erzählt, dass er ihr die Kontrolle über seine Finanzen überlassen hat, weil sie sehr gut in Mathe ist. Sie hat gesagt, er habe eine Menge Geld und sei sehr großzügig zu ihr und ihrer Mutter.

Er hat ihnen gesagt, er arbeite für eine Sicherheitsabteilung der Regierung, ein Drohnenprogramm, über das er nicht reden dürfe. Für mich klingt das nach großem Schwachsinn.

Und selbst wenn es stimmte, warum sollte man ein Kind all seine Schecks unterzeichnen lassen?

Ich erwähne Summer gegenüber meine Zweifel nicht, aber mein Kopf ist voller wilder Theorien darüber, was Mr. Dennis Dickens tatsächlich beruflich macht. Er könnte ein Bankräuber sein, oder ein Hacker. Vielleicht sogar ein Drogendealer!

»Wo leben Steinadler?«, frage ich Summer.

»Hoch oben an Felswänden. Sie essen Taschenratten und Präriehasen.«

»Auch Schlangen?«

»Mit Sicherheit.« Im Schein des Feuers sieht sie deutlich jünger aus als ich, ihr Gesicht ist rund und glatt wie das einer Puppe. Die räudige Katze und der albern aussehende Hund rollen sich zu ihren Füßen zusammen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Summer. »Dein Dad ist ein guter Typ. Wenn er das nicht wäre, hätte meine Mom ihn schon lange verlassen.«

»Hat er gesagt, wohin er gegangen ist?«, frage ich.

»Sagt er nie. Seine Aufträge sind immer geheim – top secret.«

»Aber wundert dich das nicht?«

»Er kommt immer nach Hause. Das ist alles, was zählt.«

3

Summers Mutter sagt, ihr Crow-Name ist Little Thunder-Sky.

»Aber alle nennen mich Lil«, fügt sie hinzu. »Nimm dir noch Kartoffelpüree.«

Ich hab einen Mordshunger, also inhaliere ich praktisch alles, was auf dem Teller liegt. Mein Magen ist noch auf Florida-Zeit eingestellt, wo es jetzt schon halb elf abends ist. Lil hat Buffalo Sliders gemacht, möglicherweise die besten Burger aller Zeiten.

Am Tisch wird nicht ein einziges Wort über meinen Vater verloren.

Lil trägt ihr langes Haar in Zöpfen, und ihr Gesicht hat Waschbärenstreifen, weil sie immer eine Sonnenbrille trägt. Sie sieht ungefähr so alt aus wie meine Mutter. Summer hat mir erzählt, dass sie ein professioneller Forellenguide ist, das heißt, sie fährt mit Touristen in einem Ruderboot die Flüsse rauf und runter.

»Hast du heute irgendwas gefangen?«, frage ich.

»Sechs schöne Regenbogen- und eine fette Cutthroat-Forelle.«

»Wow, schmecken die gut?«

Lil lacht. »Die schwimmen alle im Fluss. Ich lasse sie immer wieder frei.«

»Nur Fliegenfischen«, fügt Summer stolz hinzu. »Keine Würmer oder so.«

Ich weiß nicht, wie man eine künstliche Fliege auswirft, aber ich hab es schon öfter in Videos gesehen und wollte es schon immer lernen.