Für Mama, Mo, Annika, Sarah, Julia, Helena, Anja, Anja, Anja, Franziska, Franziska, Sandra, Simone, Janine, Janin, Alex, Alex, Marleen, Jana, Steffi, Steffi, Punze, Stefanie, Katherine, Jil, Dani, Britta, Saskia, Elena, Nina, Verena, Denise, Christina, Miriam, Jule, Tanja, Helene, Anna, Anna, Julia, Julia, Melanie, Nicki, Isabel, Isabelle, Silvia, Christin, Jana, Antje, Sonja, Christina, Martina, Birgit, Pia, Denise, Lisa

… und all die wundervollen hochsensiblen Mütter, die ich noch kennenlernen werde.

Und für ihre Töchter, die vielleicht eines Tages Mutter sein werden.

Danke, dass es euch gibt.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1
Hochsensibilität ist keine Krankheit

Auf der Suche nach einer Diagnose: Annette

Hochsensibel geboren

Zwischen Anpassung und dem Gefühl, niemals dazuzugehören

Introvertiert & extravertiert

Der Weg ist das Ziel

Kapitel 2
Hochsensibilität und Mutterschaft

Ein ganz neues Leben: Kathrin

Von der hochsensiblen Frau zur hochsensiblen Mutter

Die Tücken der hochsensiblen Mutterschaft

Kapitel 3
Was ist Hochsensibilität?

Stand der Forschung

Bist du hochsensibel?

Weitere Eigenschaften hochsensibler Mütter

Stress und Hochsensibilität

Hochsensibilität, Filter und Reizverarbeitung

Sinnessensibilität: von allem ein bisschen zu viel

Der Unterschied zwischen einem normalsensiblen und einem hochsensiblen Gehirn

Kapitel 4
Wie du deinem Stress entgegenwirken kannst

Achtsamkeit – Fluch und Segen zugleich

Alles schon probiert – und trotzdem nicht entspannt: Sebastienne

Deine Gefühle sind dein gutes Recht!

Neuroplastizität

Wie du lernen kannst, deine eigenen Ängste zu überwinden

Raum für Veränderung entstehen lassen

Wenn das Notfallprogramm sich einschaltet

Stärke deinen Selbstwert!

Aktive Stressbewältigung

Kapitel 5
Grenzen erkennen und beschützen

Deine Abgrenzung als hochsensibler Mensch

Der Zusammenhang zwischen Abgrenzung und Empathie

Erschaffe deinen Schutzraum

Das zentrale Problem: die Übererregbarkeit

Das optimale Erregungsniveau

Grenzenlose Langeweile: Ingrid

Übererregt oder unteraktiviert?

Ein Leben ohne Überforderung ist möglich!

Kapitel 6
Schatzkiste Hochsensibilität: Wie du aus deiner Veranlagung Ressourcen ziehen kannst

Emotionale Intensität: Gefühle sind zum Fühlen da!

»Ich weiß was, was du noch nicht weißt« – Intuition und Bauchgefühl

Hochsensibilität als Ressource erkennen

Dein inneres Team

Angst ist nicht gleich Angststörung

Hochsensible Angst: Elke

Innere Führung erlangen

Kapitel 7
Du bist genau richtig, wie du bist!

Das Alien-Gefühl hochsensibler Mütter

Immer anders als die anderen: Jana

Soziale Isolation tut weh!

Einen neuen Resonanzraum erschaffen

Kapitel 8
Vertrauen in den eigenen Weg entwickeln – die hohe Kunst hochsensibler Mutterschaft

Alleinerziehend und hochsensibel: Julia

Bedürfnisorientiert Familie leben bedeutet auch das Umverteilen von Zumutungen

Brauchst du ein Konzept, um dein Kind großzuziehen?

Hochsensible Eltern – hochsensibles Kind. Eine Kombination voller Überraschungen!

Das Vermischen der Gefühlswelten

Dir selbst ein Stop zu sagen, verschafft dir Zeit und einen Raum für kreative Lösungen

Kapitel 9
Aus den Fugen geraten: Was hochsensible Mütter bei Erschöpfung tun können

Wenn die Müdigkeit unüberwindbar wird: Kathrin

Wie Schuld und Scham zu Erschöpfung führen können

Sei dir selbst die Freundin, die du brauchst

Wie der innere Kritiker alles erschwert: Samuela

Das Gefühl, hohen Erwartungen nicht standhalten zu können

Kapitel 10
Und jetzt: Sei du selbst!

Sich selbst wohlwollend betrachten lernen

Umgib dich mit Schönheit und tauch ein in die Freude!

Bevor du weitergehst: Lass hier, was du nicht mehr brauchst

Nachwort

Danksagung

Literaturverzeichnis und Links

Links

Anmerkungen

Vorwort

Als ich noch keine Kinder hatte, stellte ich mir das Leben mit ihnen anders vor, als es in Wirklichkeit ist. Ich erinnere mich noch verdammt gut daran, dass ich vor meinem ersten positiven Schwangerschaftstest dachte, dass es nicht schwer sei, ein Kind zu haben. Ich dachte, das sei das Einfachste auf der Welt, machen ja schließlich fast alle. Ich stellte mir vor, wie ich neben meinem Beruf ein pflegeleichtes Kind bekommen, meine Ehe unverändert weiterführen und selbst meinen Hobbys noch würde nachgehen können. Ich dachte, ein Baby würde all das bereichern, würde einfach überallhin mitkommen und sich schlicht einfügen, irgendwo, in irgendeine Lücke in diesem meinem bestehenden Leben.

Und dann wurde ich Mutter.

Es ist ein kalter Samstag im Dezember. Wir haben Suppengemüse vergessen, und ich spaziere langsam in den Supermarkt hinein. Als ich alles zusammengesammelt und mich in der Schlange an der Kasse angestellt habe, sehe ich sie, einen Gang weiter. Ich sehe eine junge Familie, vielleicht Ende 20, vielleicht genau so alt wie ich, als ich zum ersten Mal Mutter wurde. Die junge Frau ist wunderschön, sie ist geschminkt und gut gekleidet. Sie sieht ausgeschlafen und glücklich aus. Ihr Mann, sportlich, athletisch, schlank, schiebt den Einkaufswagen. Im Aufsatz oben: ein Baby in der Autoschale. Es schläft. Decke, Schnuller, Tuch drüber. Kein Mucks. Seit sechs Jahren bin ich nun Mutter und kann es nicht lassen: Hier, in dieser Schlange, mit dem Suppengrün unterm Arm und der Pudelmütze auf dem Kopf, beginne ich, mich mit denen da zu vergleichen. Neid steigt in mir auf – darauf, dass bei denen da alles so idyllisch, harmonisch, so einfach aussieht. Ich achte auf die Berührungen, die sie austauschen, begutachte ihr Make-up, schaue mir die Gesichtszüge des Mannes an. Ich versuche einzuordnen, was sie für Menschen sind, und durch das Tuch zum Baby zu luken, obwohl ich beides nicht kann. Verzweifelt stehe ich da und suche nach einem sichtbaren Grund, mir selbst ein besseres Gefühl zu geben, herauszufinden, wieso die da trotzdem kein Stück besser sind als ich.

Doch die Wahrheit ist: Still und heimlich kreist in mir der Gedanke, wieso die da mit einem so kleinen Baby um diese Uhrzeit in einem so vollen Supermarkt so unverschämt glücklich aussehen. Wie kriegen die das hin?

Bevor ich selbst ein Baby hatte, hatte ich mir Dinge wie einkaufen gehen leicht vorgestellt. Ich hatte es sogar einige Male probiert, war mit meinem Baby in die Drogerie gegangen, um Windeln zu kaufen, oder zum Bioladen, weil sein Essen natürlich biologisch wertvoll und dann auch noch frisch sein sollte – ich wollte alles richtig machen … Aber mit einem Baby das Haus zu verlassen bedeutete auch, sich auf alle möglicherweise eintretenden Eventualitäten genauestens vorzubereiten, und je häufiger ich es versuchte, umso länger wurde meine Liste. Nie konnte ich mir sicher sein, dass mein Sohn in der Zeit nicht doch Hunger bekam, und ich hasste es, in der Öffentlichkeit zu stillen. Absolut nichts war mit einem Baby berechenbar. Absolut jeder Einkauf wurde zu einer Zerreißprobe für meine Nerven. Während ich mir eigentlich nur wünschte, dass Leichtigkeit einziehen und mich aus meiner Isolation retten würde, funkte ein Baby dazwischen – selbstverständlich am liebsten genau dann, wenn ich es am wenigsten erwartet hatte. Ich ging nur noch in die Drogerie, die dann bald auch meine einzige Anlaufstelle war, denn hier gab es alles, was das Baby in dieser Zeit brauchte, und wenn ich mal etwas vergessen hatte, konnte ich nur hier reagieren. Denn jedes Weinen, jeder Mucks meines Kindes setzte mich in der grellen, lauten Umgebung eines Supermarktes jedes Mal so sehr unter Druck, dass ich es kaum aushalten konnte. Die Blicke der anderen, der andauernde Gedanke, dass ich wahrscheinlich einfach nur zu blöd war, um mit einem Baby einzukaufen, und dann erst das unerträgliche Warten in der Schlange an der Kasse, in der ich am ganzen Körper zitterte und schwitzte, aus nichts weiter als der puren Angst, dass mein Baby gleich beginnen könnte zu weinen … Nein. Einkaufen, das Haus verlassen oder sonstige alltägliche Besorgungen mit einem Baby waren alles andere als leicht. Es war ein Spießrutenlauf, an dessen Ende ich vollkommen erschöpft war.

Die junge Familie hier in diesem Markt hingegen sortiert sich in die Schlange an der Kasse neben mir und lacht. Die ganze Zeit über lachen sie. Langsam nervt mich das. Sie heben das Tuch, rücken den Schnuller zurecht, und verbissen murmele ich, dass sie wahrscheinlich eh nicht stillt, die aufgetakelte Tusse. Sie küssen sich, und ich frage mich, ob mein Mann mich überhaupt noch attraktiv findet, nach zwei Schwangerschaften, dem Bauch, der noch immer aussieht, als sei ich im fünften Monat, und verdammt nochmal ey, wovon rede ich hier eigentlich? Ich bin seit sechs Jahren Mutter, ich muss es doch nun wirklich besser wissen.

Doch dann geschieht es. Der Mann schlägt sich mit der Hand an die Stirn, die beiden diskutieren. Ich sehe, wie er sich höflich durch die Leute hindurchquetscht und den Markt verlässt.

Es betrifft mich nicht im Geringsten, aber ich spüre ein Gefühl der Angst und Anspannung in mir aufsteigen. Ich rechne fest damit, dass ihr Baby gleich weint und alle sich umdrehen werden, dass sie »sch, sch, sch« sagen und dem Kind den Schnuller in den Mund pressen wird, dass sie zu schwitzen beginnt, ihr Make-up verläuft, ihre Haare an der Stirn kleben, und mein Atem beginnt zu rasen, so sehr fühle ich mit. O Gott, wie ich mich erinnere, an all diese Momente in meinem Leben als junge Mutter, die mich so oft völlig verzweifeln ließen …

Ich bin an der Reihe und lege mein Gemüse aufs Band. Ich muss zahlen, mit der Frau an der Kasse reden, mich bedanken, alles einpacken, nichts vergessen, weitergehen, nicht stolpern, höflich sein, Blickkontakt halten, das Piepsen der Kasse aushalten … Für wenige Sekunden verliere ich die Bilderbuchfamilie aus den Augen und ärgere mich. Wo ist er hin? Was tut er? Wieso lässt er sie allein? Ist das okay für sie? Wieso weint das Baby nicht? Hilft ihr jemand, alles aufs Band zu legen?

»Schönen Abend noch«, wünscht mir die Kassiererin, ich stammele etwas Freundliches und gehe langsam zum Ausgang. Der kalte Wind peitscht mir ins Gesicht, ich ziehe die Jacke ein Stück zu und drehe mich noch einmal um. Die da sind an der Reihe. Aber er ist noch nicht zurück. Ihr Baby ist gerade wenige Wochen alt, und sie steht ganz allein an der Kasse. Sie legt jedes einzelne Teil aus dem Wagen aufs Band, ich sehe, wie ihr Mund sich zu einem Lächeln formt und sie Worte mit der Kassiererin austauscht, den Wagen zu ihr dreht und ihr Baby präsentiert. Wie die Dame an der Kasse die Hände an ihre Wangen hält und »Ooooooh!« formt, wie die Mutter daraufhin lächelt, ständig lächelt, sich niemand hinter ihr beschwert und die Welt sich einfach weiterdreht.

Wie schafft sie das alles gleichzeitig? Wieso sieht sie dabei so unverschämt gut aus, und wo verdammt nochmal ist ihr Mann?

Da sehe ich ihn. Er sprintet über den Parkplatz in Richtung Eingang, mit einer Kiste in der Hand, die er im Auto vergessen hatte. Kein Beinbruch. Absolut nicht dramatisch. Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Und doch drehe ich mich erneut um, sehe, wie er im richtigen Moment wieder zurück ist, das glückliche, frisch geduschte, geschminkte und athletische Paar seinen Einkauf in den Korb verräumt, zwischendurch verträumt und verliebt das gemeinsame Glück in Person ihres Babys anhimmelt, die Kassiererin damit ansteckt, und es fehlt nicht mehr viel, bis hier Herzen durch die Luft fliegen. Sie zahlen, packen ein, nicken sich lächelnd zu und verlassen dann, glücklich bis unters Kinn, einfach den Laden. Ganz so, als wäre absolut nichts dabei, mit einem Baby einkaufen zu gehen.

Ich schüttele den Kopf und senke den Blick. Ich denke an ihre frische Färbung, an die Konturen ihres Kajals und das Glück dieser drei Menschen, dieser kleinen Familie. An die Leichtigkeit. Das war nur ein ganz kleiner Ausschnitt, tröste ich mich, du weißt nicht, wie das da sonst abläuft. Vielleicht schlafen sie trotzdem nicht durch, vielleicht konnte sie nur duschen, weil er früher Feierabend gemacht hat. Vielleicht war sie ja auch verunsichert, als er kurz rausgehen musste – du kannst ihr nur vor den Kopf gucken. Vor diesen Kopf, der meine Aufmerksamkeit nur darum so angezogen hat, weil ich so einen niemals besitzen werde.

Als ich noch keine Kinder hatte, stellte ich mir das Leben mit Kindern anders vor, als es dann Wirklichkeit geworden ist. Doch damit lag ich falsch. Die Wahrheit ist: Es gab ein Leben vor meinen Kindern und es gibt eines mit ihnen. Ich dachte, ein Kind zu haben sei das Einfachste auf der Welt. Doch es ist die schwierigste Herausforderung, der ich mich jemals gestellt habe.

Vielleicht hast du aus genau diesem Grund zu diesem Buch gegriffen: Die Zeit nach der Geburt deines Kindes ist nicht, wie du sie dir vorgestellt hattest. Für dich sind Kleinigkeiten oft ein Problem – zumindest wird dir das von außen so gespiegelt. Du fühlst dich nicht recht wohl in deiner Haut, und alltägliche Situationen, wie beispielsweise einzukaufen, strengen dich schnell an. Du fühlst dich erschöpft und bist gleichzeitig umgeben von Menschen, die das, was du leistest, mit links schaffen und dabei auch noch gut aussehen. Du vergleichst dich, findest keine gemeinsamen Nenner und keine Parameter, anhand derer du lernen könntest, jemand anderes zu sein. Jemand, dem die Mutterschaft, die Zeit mit Kindern, das Leben mit einer Familie, der eigene Kopf nicht zu viel wird.

Ganz egal, was deine situativen Beweggründe waren, nach diesem Titel zu greifen – ich denke, wir sind uns beide in einem einig: Du spürst intuitiv, dass du nicht aus deiner Haut herauskannst. Und auch nicht aus deinem Kopf. Und ganz tief verborgen in dir selbst willst du das auch gar nicht.

Du und ich und viele Millionen andere Frauen haben eine Gemeinsamkeit, die sich Hochsensibilität nennt, und es ist nicht verwunderlich, dass du vor deiner Rolle als Mutter kaum einen Gedanken an diese spannende Veranlagung verschwendet hast. Denn fast alles, was sie braucht, um nicht das Steuer an sich zu reißen und dein Leben zu bestimmen, ist Erholung, Entspannung und Ruhe. Kurzum: Ungefähr genau das, was du seit der Geburt deiner Kinder nicht mehr ohne Weiteres hast. In diesem Dilemma stecken du und ich und diese vielen Millionen Mütter, die sich – wie ich – im Supermarkt junge, gut aussehende Pärchen anschauen und fast überschäumen vor Wut und Neid auf ein scheinbar ganz normales, unspektakuläres Leben ohne »sie«. Ohne Hochsensibilität.

In den letzten fünf Jahren habe ich mein berufliches und einen Teil meines privaten Lebens meiner Faszination für dieses Persönlichkeitsmerkmal gewidmet, das ich mehr als alles andere lieben gelernt habe. Was zunächst ein bloßes Interesse war, wurde zu einem autodidaktischen Studium, zu Recherchearbeit, zu wissenschaftlichem Arbeiten und letztendlich zu einer ausgebauten Beratungs- und Coachingpraxis.

Auf den kommenden Seiten möchte ich dich mitnehmen in die Welt hochsensibler Mütter – in deine Welt. Deine ganz persönliche Reise beginnt heute – oder zumindest hier. Du hast dich getraut und dieses Buch aufgeschlagen. Vielleicht, weil du nicht länger neidisch sein wolltest auf Mütter, für die alltägliche Banalitäten keine Herausforderung sind. Ganz sicher aber, weil du spürst, dass du es wert bist, dir die Zeit mit diesem Buch zu schenken. Hochsensibilität zeichnet dich aus, sie ist dein schönstes Accessoire und für nichts auf der Welt solltest du dir wünschen, sie wieder loswerden zu wollen.

Stattdessen wollen wir in diesem Buch gemeinsam üben, auf Vergleiche zu verzichten. Das beinhaltet nicht nur, im Supermarkt nicht mehr nach den anderen Familien zu schielen, sondern auch, sich von Äußerungen und Meinungen deines Umfeldes nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Es bedeutet, bei dir selbst anzukommen und für dich selbst das beste Leben zu kreieren, das du leben kannst. Es bedeutet, dein altes Leben abzustreifen wie einen Mantel, der dir viele Jahre treue Dienste geleistet hat und nun zu eng geworden ist, und ein neues zu begrüßen, in dem deine Schwächen, deine Defizite und all das, was du dachtest, nicht mehr besitzen zu wollen, zu deinen schillernden Farben werden.

Denn so sehr, wie ich in den letzten Jahren auf Gedankenreise und in Veränderungsprozesse habe gehen müssen, so sehr habe ich auch gelernt, dass es eben zwei Leben gibt: ein Leben, in dem ich ohne das Wissen über meine Hochsensibilität auch so einigermaßen klarkam, und eines, in dem genau dieses Wissen alles veränderte. Ein Leben, ohne dass Hochsensibilität eine Rolle spielte, und eines mit ihr auf meinem Schoß. Dort sitzt sie, begleitet mich, und auch wenn ich noch lange nicht am Ziel bin, so kann ich dir versprechen: Sie ist mir eine treue und wohlwollende Begleiterin geworden, und ich freue mich darauf, mit dir zu teilen, was uns geholfen hat, so gute Freundinnen zu werden.

Willkommen, liebe Leserin, auf deinem Weg in ein Leben im Einklang mit deiner Hochsensibilität.

Kapitel 1

Hochsensibilität ist keine Krankheit

Auf der Suche nach einer Diagnose: Annette

Annette ist Ende 20 und aufgrund ihrer Unsicherheit beim Stillen zu mir gekommen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das alles so richtig macht, ob das, was sie tut, ihrem Baby reicht. Sie hat Angst und will das Beste für ihr Kind.

Nachdem ich mit ihr ein paar Werte und den Tagesablauf durchgegangen bin, sie mir von der Geburt und der ersten Zeit mit ihrem Baby zu Hause erzählt hat, sage ich ihr, dass es nicht den kleinsten Verdacht gibt, dass ihre Milch nicht reichen oder dem Baby gar etwas zustoßen könne. Ich spüre, dass sie das nicht zufriedenstellt, und so lege ich ihr in Zahlen dar, in greifbaren Werten, was pathologisch wäre und wie weit ihr Baby davon entfernt ist. Annette ruft mich in den nächsten Wochen trotzdem noch regelmäßig an, wenn sie unsicher wird, und erzählt dann, irgendwann in einem Nebensatz, dass sie an einer Angststörung leide und sich sicherlich deshalb so fertigmachen würde. Ich lade die junge Mutter in meinen Babykurs ein, nachdem sie mir erzählt, wie lang und oft am Tag ihr Kind schreit. Nach der ersten Kursstunde ist mir klar: Annette ist hochsensibel.

Wir vereinbaren einen Termin, bei dem wir uns über ihr Leben unterhalten. Sie schildert mir ihre Geschichte, und auf meine Frage, wie lange sie denn ihre Angststörung schon habe, antwortet sie:

»Also wenn du mich so fragst … eigentlich war ich so, seit ich denken kann.«

Bis zu diesem Tage hatte Annette noch niemals etwas von Hochsensibilität gehört und sich darum auch nicht damit befasst. In unserem Gespräch weint sie – aus Erleichterung darüber, dass ihr überhaupt mal jemand zuhört und sie reden kann. Denn tatsächlich ist es genau dieses Gefühl, das sie ihr Leben lang begleitet: Sag lieber nichts. Dich versteht sowieso niemand. Und falle niemandem zur Last, du Mimose. Annette wächst auf mit der Überzeugung, ihre Gefühle könnten so, wie sie sind, nicht normal sein – ja, tatsächlich ist sie fast ihr ganzes bisheriges Leben lang der festen Überzeugung, dass sie krank sein müsse. Ihre Ängste, ihre tiefen Gefühle, die ständige Trauer, die schnelle Überforderung … das kann nicht normal sein. In ihrem Umfeld ist sie die Einzige, die so empfindet. Bis auf eine: ihre eigene Mutter, die selbst so ängstlich und gefühlsstark ist, dass Annette schnell Strategien entwickelt, ihr nicht noch zusätzlich eine Belastung zu sein und sie zu schützen.

Annette, deren Freunde über ihre Ängste und Zweifel stets die Nase rümpfen, sie abwerten oder einfach nicht nachvollziehen können, sucht diverse Ärzt*innen und Therapeut*innen auf, um sich von Kopf bis Fuß durchchecken zu lassen. Nach vielen Jahren, in denen sie der festen Überzeugung war, krank zu sein, gibt es endlich Entwarnung. In einem großen Check-up stellt man fest, dass sie kerngesund ist. Keine Tumore, keine Entzündungswerte, ein gesundes Herz und überhaupt – alles in bester Ordnung. Doch anstatt darauf anzustoßen und sich zu freuen, dass sie ein gesundes Leben führen kann, bricht die nächste Verzweiflung aus: Warum, wenn ich gesund bin, bin ich dann so anders? Wie kommt es, dass ich so tief fühle, ständig eine solche Angst habe, mich tief hineinsteigere und an manchen Tagen nicht einmal das Haus verlassen kann? Annette gibt keine Ruhe und reiht einen Arztbesuch an den nächsten. Sie sucht nicht nach einer Bestätigung ihrer Gesundheit, nein: Sie sucht nach einer Diagnose. Nach einem tröstenden Etikett, das ihr endlich sagt, dass sie nicht verrückt ist und sich das alles auch nicht einbildet. So dringend braucht sie eine Krankheit, die sie endlich verstehen lässt, wieso sie ist, wie sie ist. Annette findet schließlich einen Neurologen, der ihr die Diagnose »Angststörung« ausstellt, ihr eine therapeutische Begleitung nahelegt und eine Therapie anordnet.

Wenige Jahre später wird sie Mutter und erlebt die gleichen Ängste, die gleichen Sorgen, die gleichen Gefühle – nur tausendfach verstärkt. Denn jetzt hängt da ein Baby mit dran, ein Kind, das sie sich so sehr gewünscht hat und das ihr neben all der Angst und Sorge auch diese überbordende Liebe, die überschwängliche Freude, die explosive Euphorie und die unendliche, tiefe Verbundenheit schenkt. Und das schreit. Das den ganzen Tag schreit, sich kaum beruhigen lässt, dem alles zu viel ist, das ständig irgendetwas braucht und das Annette einfach nicht versteht. Und obwohl sie alles richtig macht, ihr Kind liebt, schützt und pflegt, aufmerksam und liebevoll ist, sich gleichwohl schützend vor es stellt und loslassen kann, keimt ein Gedanke auf, der ihr Leben schon immer bestimmte und der der einzige Grund für diese Misere sein kann:

»Ich mache etwas falsch!«

Als ich Annette erkläre, was in ihrem Gehirn passiert, was Hochsensibilität ist und dass die Möglichkeit besteht, dass sie vielleicht gar keine Angststörung hat oder diese zumindest mit ihrer Hochsensibilität zusammenhängt, fängt sie erneut an zu weinen. Sie kann nicht glauben, dass sie ihr halbes Leben nach einer Krankheit gesucht hat, die man heilen könnte, und nun erfährt, dass es da womöglich gar nichts zu heilen gibt. Leicht fühlt sich das gerade nicht an, im Gegenteil. Wie erleichternd kann es denn auch schon sein zu hören, dass man das, was man an sich am meisten hasst, niemals wieder loswird?

Annette verlässt den Beratungsraum und steigt in meine wöchentliche Gruppe für hochsensible Mütter und Mütter hochsensibler Kinder ein. In den nächsten Wochen wird sie drei weitere Frauen kennenlernen, die ihr Leben mit »Angststörung« meistern. Sie wird auf Frauen treffen, die eine ähnliche Geschichte hinter sich haben, die ihre Gedanken teilen, die ihre Gefühlswelt verstehen, die sogar selbst Schreibabys haben. Sie wird weinen über die Freude, verstanden zu sein, und lachen über die vielen verrückten Gemeinsamkeiten, die sich ergeben. Sie wird fragen »Kennt ihr das auch?« und oft ein Nicken ernten. Sie wird Geschichten lauschen und »Genauso ist es bei mir auch« denken.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wird Annette aufhören, zu suchen, und ankommen – begleitet von Menschen, unter denen sie kein Alien ist.

Hochsensibel geboren

Mein Sohn Peter wurde hochsensibel geboren. Genau wie ich selbst und viele andere Menschen in meiner Familie. So wie auch Annette. Und wie du vermutlich auch. Denn deine Hochsensibilität ist Veranlagung, ein Persönlichkeitsmerkmal – etwas, das wir mit deiner Augen- oder Haarfarbe vergleichen könnten, mit deinem Temperament, deiner Stimmfarbe, deiner Körpergröße, die von Anfang an in deinem genetischen Material festgelegt war. Du kamst mit deiner Hochsensibilität auf die Welt und lerntest doch nicht von Beginn an, mit ihr zu leben. Tatsächlich prallten Welten aufeinander: die feinfühlige, sensible Welt in deinem Inneren, in der Werte, Gefühle, Gedanken und Träume eine maßgebliche Rolle spielen, und die Welt im Außen, die auf Leistung, gesellschaftliche Anpassung und Zielsetzung ausgerichtet ist. Für hochsensible Menschen wie dich ergibt sich nicht selten ein Spagat, der sich anfühlt, als wäre er nicht zu bewältigen.

Und so bist du vielleicht bisher durch dein Leben spaziert und immer wieder an Grenzen gestoßen. Zum Beispiel, weil du einen ganz besonderen Blick auf die Welt und ihre Schönheit hast. Oder weil du dich besonders gern mit Künstlerischem beschäftigst, dich tagelang mit Musik oder deiner Malerei einschließen und die Welt vor der Tür lassen kannst. Vielleicht hast du nicht viele Freunde und willst auch gar nicht unbedingt jeden Tag jemanden um dich herum haben. Oder es ist das genaue Gegenteil: Du liebst es, Menschen um dich zu haben, und fühlst dich trotzdem oft einsam und unverstanden. Etwa, weil du sehr hohe Ideale hast, die für dich weitaus wichtiger und dringender sind als Freundschaft. Oder weil du dich gar nicht wirklich traust, dich zu zeigen, wie du wirklich bist, aus Angst, deine besonders feinen Antennen und Gedanken könnten dazu führen, dass man dich auslacht, nicht ernst nimmt oder mit Missachtung straft. Und tatsächlich hast du so etwas auch schon am eigenen Leibe erfahren. Im Großen oder Kleinen. Du fühlst und denkst, was andere nicht empfinden. Und die meiste Zeit fühlt es sich an, als seist du damit allein.

In vielen Lebensbereichen fühlst du dich darum unwohl. Du eckst an oder gehst unter. Und du bist aller Wahrscheinlichkeit nach oft müde davon, dich zu erklären, nicht verstanden zu werden oder die anderen nicht verstehen zu können. Es ist, als regne sich eine dunkle Wolke dauernd über deinem Kopf ab. Bestimmt hast du schon einige Versuche gestartet, um dieses Gefühl loszuwerden, um nicht mehr so viel fühlen zu müssen. Aber lass mich dir gleich zu Beginn dieses Buches sagen, dass du deine Gefühle, auch jene, die du gerade als negativ wahrnimmst, vermissen würdest, wenn sie nicht mehr da wären.

Hochsensibilität ist ein Merkmal, das viele negative Eigenschaften mit sich bringen kann, und ich will nicht so tun, als wäre das nicht so. Nein, wir beide wissen genau, wie sehr du oft unter deinem inneren Kritiker, deinen dominanten, oft negativen und starken Gefühlen und deinem hohen Anspruch an dich selbst zu leiden hast. Und wir beide wissen auch, dass die Welt gut darin ist, dich zu bewerten. Bewertung wird schnell zu Abwertung, zum beißenden Gefühl, den Anforderungen wieder einmal nicht entsprechen zu können. Es ist der wichtigste und erste Schritt in ein gutes Leben mit deiner Hochsensibilität, zu verstehen, dass sie alles sein kann, die ganze Palette – aber auf keinen Fall ein Defizit.

Zwischen Anpassung und dem Gefühl, niemals dazuzugehören

Genau diese Herausforderung spürte Annette schon als kleines Kind. Sie fühlte und grübelte viel, war oft traurig und in sich gekehrt – eben so ganz anders als andere Kinder ihres Alters. Die kleinsten Unberechenbarkeiten erzeugten in ihr eine Angst, die so stark war, dass sie in Panikattacken, Atemnot und dem Gefühl, gar nicht richtig da zu sein, endeten. Schon als Kleinkind war in ihr so die Überzeugung entstanden, dass es nur eine Krankheit sein kann, die das aus ihr macht. Normal jedenfalls, da war sie sich schon in jungen Jahren sicher, kann das nicht sein.

Was Annette ihr halbes Leben hat durchmachen müssen, kennen viele hochsensible Frauen auch von sich selbst: Freundschaften und andere zwischenmenschliche Beziehungen empfinden sie tief und innig, sind aber auch gleichwohl schon bei kleinen Konflikten oder unerwarteten Reaktionen des Gegenübers massiv enttäuscht und gekränkt. Harte Worte der Chefin oder des Arbeitskollegen streifen sie nicht so einfach ab, und ein noch so unbedeutender Streit mit dem Partner fühlt sich an wie die totale Ablehnung der eigenen Person. Wenn dann noch ein Kind dazukommt, ist die Herausforderung perfekt. Eine hochsensible Mutter ist mit Schlafmangel, Fremdbestimmung und vollkommen unkontrollierbaren Gefühlsausbrüchen konfrontiert und das, ohne eine Bedienungsanleitung für dieses neue Leben zur Hand zu haben. Typische Anlaufstellen für junge Eltern fühlen sich nicht immer richtig an, denn nicht selten sind Babys hochsensibler Eltern selbst ausgeprägt sensibel. Die dort gängigen Ratschläge, aus teilweise längst vergangenen und überholten Erziehungskonzepten, passen weder zu ihnen noch zum Kind und lassen sie rat- und hilflos dastehen. Auch klassische Krabbel- oder Spielgruppen können sich »falsch« anfühlen, weil hochsensible Eltern sich selbst als anders oder speziell wahrnehmen oder das eigene sensible Baby die unruhige Situation nicht aushalten kann. In solchen Situationen fühlen sich ausgeprägt feinfühlige Familien vollkommen fehl am Platz und nicht selten überfordert mit der Frage, wieso bei ihnen denn alles so anders ist. Und selbst, wenn das Kind derartige Gruppen problemlos über sich ergehen lässt, können es genau diese Menschengruppen sein, die die feinfühlige Mutter gerade über den Rand ihrer Grenzen treiben. Hier trifft sie auf Frauen, die mit alltäglichen Krisen spielerisch und glücklich umgehen, und auf Ratschläge der Gruppen- oder Kursleitung, die nicht dem eigenen Empfinden für diesen kleinen Menschen entsprechen wollen. Ihr Körper ist hormonellen Veränderungen ausgesetzt, auf die sie keinen Einfluss nehmen kann, und als wäre das nicht schon genug, verändert sich jetzt auch noch die Partnerschaft.

Ein Kind zu bekommen ist ein einschneidendes Erlebnis in der Biografie eines Menschen, und ganz egal, wie gut es geplant ist – es bringt Risiken und Unvorhergesehenes mit sich. Und nicht selten befinden sich Menschen, ganz gleich ob hochsensibel oder nicht, nach der Geburt des ersten Kindes in einer akuten Lebenskrise. Auch ohne ausgeprägte Feinfühligkeit können sich postnatale Depressionen, Unruhen, Panikattacken, Erschöpfungssyndrome oder Angstgefühle ausbreiten, wenn ein Mensch lernt, mit der neuen Situation als Verantwortlicher für ein Baby klarzukommen. Besonders viel von alledem zu fühlen, führt hochsensible Menschen in dieser so zerbrechlichen, neuen, ungewohnten Lebensphase oft in die Isolation und in den totalen Rückzug aus der Gesellschaft – ganz besonders häufig, kurz nachdem sie ein Kind geboren haben. Denn neben den vielen, diffusen Ängsten und dem Wissen, sich so wahnsinnig schlecht einfügen zu können, kommt ja nun auch noch die Angst davor, mit dem Baby anzuecken oder es in eine Situation zu führen, in der es sich möglicherweise selbst furchtbar unwohl fühlt.

Zu behaupten, es läge einem hochsensiblen Menschen nichts daran, dazuzugehören, weil er sich so bewusst zurückzieht oder Müttergruppen meidet, ist unwahr. Die Wahrscheinlichkeit, dass es gerade einer hochsensiblen Mutter wichtig ist, sich in die Gesellschaft einzufügen, dass gerade sie soziale Kontakte mehr braucht als alles andere, dass gerade ihr der Zusammenhalt einer Gruppe von hohem Wert ist, ist viel höher.

Und schon haben wir das Dilemma.

Denn mit der sozialen Interaktion müssen wir auch auf zwei uns innewohnende Fähigkeiten zugreifen, die besonders für Hochsensible wirkliche Herausforderungen sind: Anpassungsfähigkeit und Kooperation. In einer Gruppe mit fremden, aber auch bekannten Menschen passen wir uns an – und zwar zwangsläufig. Viele Bedürfnisse treffen an einem Ort zusammen, und je weiter diese auseinandergehen, umso schwieriger wird es, Kompromisse zu finden. Die Zahl der Hochsensiblen beläuft sich nach aktuellen Schätzungen und aktueller Studienlage auf einen Bereich zwischen 15 und 25 Prozent der Menschheit.1 In einer – sagen wir mal – Krabbelgruppe also, in der zehn Teilnehmer*innen sind, haben wir mit viel Glück zwei bis vier Hochsensible. Mit viel Pech sitzt du da aber als Einzige, der die Geräusche, die dein Magen macht, peinlich sind, die auf Kleinigkeiten extrem achtet, die schnell Angst hat oder anfängt zu weinen oder sich nicht so recht traut, das Gespräch mit der Sitznachbarin zu beginnen, während alle anderen um dich herum scheinbar keine Schwierigkeiten haben, sich über den Windelinhalt oder das Schlafverhalten ihres Babys auszutauschen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir alle keine Labels auf der Stirn tragen, auf denen wir uns direkt erkennen. Wie gesagt, man kann den Leuten schließlich nur vor den Kopf gucken und nicht hinein. Wäre dies möglich, so ergäben sich in den klassischen Gruppensituationen, die Hochsensible erfahrungsgemäß meiden wie der Teufel das Weihwasser, viel seltener beklemmende Situationen. Instinktiv wüsste man, dass sich jemand im Raum befindet, der ähnlich fühlt und denkt und froh wäre zu sehen, dass es der Mutter gegenüber genauso unangenehm ist, ein Lied mitsingen zu müssen, das sie noch nie gehört hat, oder ihr Kind zu trösten, während die übrigen Teilnehmer*innen sie dabei beobachten. Tatsächlich empfinden hochsensible Mütter solche Zusammenkünfte nicht selten als Bloßstellung, Demütigung oder Peinlichkeit.

Über die Jahre entwickelt eine hochsensible Frau mitunter die Empfindung, gar nicht fähig zu sein, sich anzupassen. Ständig kehren Situationen wieder, in denen sie keinen Zweifel hat, nicht ganz normal zu sein: Wenn sie darauf verzichtet, sich in dieser Runde zu äußern, weil es für alle so einfach aussieht. Oder sie jetzt lieber den Mund hält, weil alle anderen schon geantwortet haben und sie nichts Kluges ergänzen kann. Oder die 20 Minuten, die sie eher da ist, weil sie die Parkplatzsituation so über alle Maßen verunsichert und in denen sie lieber noch um den Block spaziert, weil sie niemandem zur Last fallen will mit ihrer bloßen Anwesenheit. All diese Situationen lassen immer wieder eine Frage aufkeimen:

»Bin ich ein Alien?
Bin ich denn für alle ein Problem, eine Belastung?«

Gleichbedeutend mit der Erkenntnis, anders zu sein, schleicht sich die Überzeugung ein, nicht dazuzugehören. Isolation und Abgeschiedenheit sind die Folge. Vor allem, wenn eine hochsensible Frau Mutter geworden ist. Denn ein Baby ist vollkommen unberechenbar. Seine Reaktionen, seine Stimmung, sein Schreien – nichts davon lässt sich zuverlässig voraussagen. Elternschaft ist »trial and error«: Wir versuchen etwas, vielleicht klappt es sogar mal für eine Weile, doch die nächste Phase oder der nächste Entwicklungsschub wartet schon um die Ecke. Pure Unsicherheit und das begleitende Gefühl, dass sowieso nichts richtig ist, was man tut, werden zum neuen Lebensgefühl. Das, begleitet von dem Gedanken, in einer sozialen Gruppe immer die Andere zu sein, treibt hochsensible Mütter in die Einsamkeit. Und in die Zerrissenheit – denn eigentlich ist es gerade ihnen wichtig, mit anderen zu interagieren, sich auszutauschen, sich selbst zu verstehen, sich in einer Gruppe festhalten und fallen lassen zu können.