Aljoscha Long / Ronald Schweppe

Die

  Bucht

am Rande

der Zeit

Dieses Buch wurde erstmals 2013 unter dem Titel
»Die Buch am Ende der Zeit« veröffentlicht

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1. Auflage
© 2017 Kailash Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Layout: Daniela Hofner,
ki 36 Editorial Design, München
Umschlagmotive: iStockphoto (CPD-Lab; Omela)
E-Book-Umsetzung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-20081-7
V002

www.kailash-verlag.de

Prolog

Aus der Tiefe des blauen Ozeans tauchten zwei Schatten empor, ein großer und ein kleiner. Der kleine Delfin war gerade geboren worden, und seine Mutter lenkte das Baby nach oben, zum Licht und zur Luft. Es war Zeit für den ersten Atemzug.

Der kleine Delfin war verwirrt. Vage Erinnerungen von anderen Welten und Wesen schimmerten wie bunte Bilder in seiner Seele. Doch diese Bilder verblassten allmählich, wie ein Traum. Und als der kleine Delfin die Oberfläche des Meeres zum ersten Mal durchbrach und seinen ersten Atemzug tat, hatten sie sich fast vollständig aufgelöst.

Nur ein Wort klang in seinem Herzen nach: … Mama …

Wie farbenfroh die Welt doch strahlte, wie wunderbar das Gleiten im Wasser war, die Nähe der warmen Mutter, die ihn mit ihrem Leib wärmte und leitete! Und jetzt die Wellen des Meeres, die salzige Luft, der Himmel – und nicht allzu weit entfernt stieg der Meeresboden aus dem Wasser. Dort stand ein Wesen und blickte aufs Meer hinaus, und dem kleinen Delfin war, als wäre er mit diesem fremden Wesen tief in seiner Seele verbunden.

Neugierig sah er ihr in die Augen und fühlte für einen kurzen Augenblick eine starke, unendliche Liebe, bevor er wieder mit seiner Mutter in die Tiefe tauchte.

1

Emily wusste, warum ihre Mutter weinte, als die kleine Insel in der blauen Unendlichkeit auftauchte. Doch sie empfand kein Mitleid mit ihr, drehte sich entschlossen weg, schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie die zarten rosa Wolken zurückwichen. Wie im Theater, dachte sie, wenn der Vorhang vor dem letzten Akt ein letztes Mal aufgezogen wird, bevor er schließlich endgültig fällt.

Die alte Propellermaschine stolperte unbeholfen durch die Luft, während sie langsam tiefer sank. Emily wurde schwindelig. Ihr Magen verkrampfte sich, und eine leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Mit feuchten Händen zog sie ihren Gurt noch etwas fester. Aus dem Fenster konnte sie bereits die Landebahn erkennen – ein dünnes Band, das neben dem Berg, der sich wie ein steinerner Koloss in den Himmel reckte, beunruhigend klein wirkte. Ob sie wirklich auf diesem winzigen grauen Strich, der sich durch all das leuchtende Grün zog, landen konnten? Emily bezweifelte es. Doch als die ersten Palmen auftauchten, lösten sich ihre sorgenvollen Gedanken schnell auf. Staunend versank Emily im Wunder des Augenblicks. Sie sah den Strand und die Yachten, die unweit des Flughafens wie Spielzeugschiffchen auf den Wellen schaukelten. Sie presste ihre Nase immer fester an das kleine Fenster, und ihre Übelkeit verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Ja sicher, die Bilder im Katalog waren einladend und verheißungsvoll gewesen, doch gegen die Wirklichkeit, gegen diese weiten weißen Sandstrände, das tiefe Blau des Meeres, das zarte Türkis, dort, wo das Wasser sich den Felsen zaghaft näherte, verblassten sie, wie alte Erinnerungen.

Als ihre Mutter sie vor wenigen Wochen mit dem gemeinsamen Urlaub überrascht hatte, hatte Emily sich unbändig gefreut. Nach all den Aufregungen der Zeit davor war die Reise der ersehnte Lichtblick gewesen. Denn seit Ende April war Emilys Welt ins Wanken geraten. Damals war sie krank geworden. Auch wenn sie zuerst überhaupt nicht glaubte, richtig krank zu sein. »Mama, irgendwas stimmt glaube ich mit meinen Augen nicht«, hatte sie eines Nachmittags zu ihrer Mutter gesagt. Hin und wieder sah sie merkwürdige schwarze Flecken in der Landschaft, so als wäre da ein Teil der Welt einfach ausradiert worden. Und an jenem Tag, als sie lange aus dem Fenster geschaut und im Garten das Eichhörnchen in den Ästen beobachtet hatte, waren sie ihr besonders aufgefallen, diese dunklen Löcher, die sie an fehlende Teile in einem fast fertigen Puzzle erinnerten. Emily fand das nicht besonders dramatisch. Aber wie immer, wenn etwas kam, was unangenehm war, dachte sie an die Worte ihrer Großmutter. Wie damals, als sie weinend und mit aufgeschlagenem Knie auf ihrem Schoß gesessen hatte: »Mit ein bisschen Geduld heilt alles ganz von alleine, Emily. Es geht ganz von selbst vorbei.«

Wie oft hatte sie damals auf dem Schoß ihrer Großmutter gesessen, ob nun mit aufgeschlagenem Knie, mit Bauchschmerzen oder Fieber. Und jedes Mal hatte Großmutter sie getröstet. Und sie hatte auch immer Recht behalten – sowohl die kleinen als auch die größeren Wehwehchen waren ganz von selbst verschwunden.

Mama hatte wohl keine tröstende Großmutter gehabt, denn im Gegensatz zu Emily hatte sich ihre Mutter schon von Anfang an große Sorgen gemacht. Einen ganzen Monat lang war sie mit ihrer Tochter durch die Arztpraxen der Stadt gezogen, war mit ihr erst bei ihrem Hausarzt, dann bei der Augenärztin und schließlich bei allen möglichen Spezialisten gewesen. Zweimal musste Emily sogar einige Tage lang in einem Krankenhaus bleiben. Es war die Klinik, in der ihre Mutter als Krankenschwester arbeitete.

Die Ärzte steckten Emily in summende Röhren und machten Bilder von verborgenen Landschaften in ihrem Kopf. Sie fand das alles sehr aufregend und wollte die Aufnahmen unbedingt sehen. Die Ärzte aber weigerten sich – sosehr sie auch drängelte. Das schien ihr sehr ungerecht, denn schließlich waren es ja Bilder von ihr. Davon abgesehen waren im Krankenhaus alle jedoch immer sehr nett zu ihr gewesen, und so waren die Wochen wie im Flug vergangen.

Und dann, eines Abends, wenige Tage nach den vielen Untersuchungen und Krankenhausbesuchen, lag auf einmal der Reiseprospekt auf dem Tisch. Ihre Mutter hatte die richtige Seite schon aufgeblättert, hatte Emily zu sich aufs Sofa gezogen und einen Arm um sie gelegt. »Schau mal, Emily – sieht das nicht toll aus? Ich möchte mit dir bald eine wunderschöne Reise dahin machen. Na, was sagst du dazu?«

Emily sagte erst mal gar nichts. Stattdessen staunte sie über die malerische Insel. Vor allem aber fragte sie sich, was wohl mit ihrer Mutter los war. Normalerweise drehte sie jeden Cent dreimal um. Die meiste Zeit jammerte sie, dass sie sich so wenig leisten könnten, seit das mit Papa passiert war. Emily jammerte nicht, aber sie bedauerte es manchmal. Im Gegensatz zu ihren Klassenkameradinnen lief Emily meist mit Secondhandklamotten herum und besaß weder ein Handy noch einen Computer. Noch nicht einmal für ein vernünftiges Fahrrad hatte das Geld gereicht. Und nun diese Flugreise? Was mochte die wohl kosten? Und warum war ihre Mutter in letzter Zeit so anders? Was machte dieses zuckersüße Lächeln plötzlich auf ihrem Mund, der in den letzten Jahren so streng geworden war? Mama hatte es sich im Laufe der Zeit angewöhnt, ständig die Zähne zusammenzubeißen. Und warum lag der Arm ihrer sonst so distanzierten Mutter nun plötzlich um ihre Schulter? Mama nahm sie nur ganz selten in den Arm, seit Papa tot war. Irgendetwas stimmte hier nicht, das spürte Emily ganz genau, und so schlich sich in die Freude über das anstehende Abenteuer ein ungutes Gefühl.

»Wir bleiben die ganzen Sommerferien, Emily. Und wer weiß – wenn es uns gefällt, vielleicht ja sogar noch länger …«, hatte ihre Mutter leise gesagt, und dabei hatte sie plötzlich gar nicht mehr gelächelt, sondern mit den Tränen gekämpft.

Inzwischen kannte Emily den Grund für die Reise, und sie wusste auch, warum ihre Mutter weinte. Es war wegen ihr. Emily wusste, dass dies ihr letzter Sommer sein würde und dass sie auf dieser Insel mit ihren Sandstränden, Palmenhainen und dem bunten Fischerdorf sterben würde.

2

Das kleine Flugzeug schwebte knapp über den Wellen, die auf den Strand zuliefen und dabei, wie als Willkommensgruß, weiße Schaumkronen aufgesetzt bekamen. Emily konnte schon die sonnenbraunen Gesichter der Kinder erkennen, die in der Brandung spielten und dem dröhnenden Flieger lachend zuwinkten. Für einen kurzen, erschreckenden Moment sah es so aus, als würde das Flugzeug im Wasser landen, doch nach einem letzten kurzen Aufjaulen der Propellermotoren ruckelte es sicher über die Landebahn.

Als die Motoren endlich schwiegen und die Maschine ausrollte und schließlich zum Stehen kam, war es plötzlich ganz still. Während draußen die Palmenblätter in der sanften Brise gemächlich tanzten, musste Emily daran denken, wie sehr sie sich auf diesen Moment gefreut hatte. Allein die Vorstellung, dass ihre Mutter endlich einmal Zeit mit ihr verbringen würde, statt wie sonst im Sog ihrer niemals endenden Verpflichtungen und Sorgen zu versinken, hatte ein warmes, wohliges Gefühl in ihrer Brust hinterlassen. So musste es sich also anfühlen, das Glück. So musste es sich anfühlen, eine Mutter zu haben, die für einen da war und für die man nicht immerzu nur lästiges Beiwerk war. Allabendlich hatten sehnsuchtsvolle Gedanken Emily beim Einschlafen in die Ferne getragen. An den ersten Tagen war sie morgens ängstlich zu Mama gelaufen und hatte nachgefragt, ob sie denn auch wirklich, wirklich fliegen würden. Doch bald schon wachte sie Morgen für Morgen mit der freudigen Gewissheit auf, dass das alles kein Traum war.

Bis zu jenem Abend, als das Telefon klingelte und den Traum zerriss.

Emily war schon früh ins Bett gegangen. Sie hatte sich den ganzen Tag müde gefühlt und war schließlich wie betäubt in tiefen Schlaf gesunken. Plötzlich schreckte sie auf. Zuerst wusste sie nicht, was sie geweckt hatte. Sie war nicht besonders ängstlich, doch nun fürchtete sie sich. Unheimliche Geräusche drangen aus dem Wohnzimmer. Waren etwa so spät noch Gäste gekommen? Nein – sie hörte nur die Stimme ihrer Mutter, die offenbar telefonierte. Und dann hörte sie noch etwas: ein leises Schluchzen. Emily schlug die Decke zurück und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Vorsichtig presste sie das Ohr an die Tür.

»… mit ihr auf eine Insel fahren.« Ihre Mutter redete und weinte gleichzeitig. Aber warum weinte sie denn, wenn sie von ihrer Traumreise sprach? Emily hielt den Atem an, um besser hören zu können.

»Ach Niki, ich kann es ihr einfach nicht sagen. Ich bringe es nicht über die Lippen.« Offenbar telefonierte sie mit Tante Nicole. Was konnte sie wem nicht sagen? Und warum wimmerte ihre Mutter? Emily wurde immer neugieriger.

»Nein wirklich, ich schaffe das nicht. Sie darf auf keinen Fall wissen, dass …« Ihre Mutter gab wieder diesen unheimlichen Laut von sich – so, als ob sie mit fest zusammengeklebten Lippen zu schreien versuchte. Mit einem Schlag wurde ihre Stimme ganz ruhig und gefasst: »Nein Niki. Es ist aussichtslos. Wir waren schon bei den besten Ärzten. Sie hat nicht die geringste Chance.«

Emily lief ein eiskalter Schauder über den Rücken. Es ging gar nicht um ihre Mutter, nicht um die Reise, es ging um sie! Die vielen Untersuchungen, die Krankenhausaufenthalte – auf einmal verstand sie.

»Die Ärzte haben gesagt, dass man absolut nichts machen kann, und dass ihr höchstens noch drei Monate bleiben. O Gott, was soll ich nur tun, wenn meine Kleine stirbt?«

Ihre Mutter redete weiter und weiter, doch Emily hörte sie längst nicht mehr. In ihren Ohren brauste es, als würde ein Wirbelsturm durchs Zimmer tosen. Ihre Knie wurden weich, sie fühlte sich wie betäubt. Sie spürte, wie ihr die Beine wegsackten und schleppte sich mit letzter Kraft in ihr Bett. Sie rollte sich zusammen und zog die Decke über den Kopf. Tränen liefen ihr übers Gesicht und versickerten in ihrem Kissen.

Vor knapp einem Monat hatte sie ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert, und sie würde sterben, noch bevor sie fünfzehn war.

3

Am nächsten Morgen schaffte Emily es lange nicht aufzustehen. Sie starrte wie gelähmt an die Decke. Die Sonne drang ins Zimmer wie ein ungebetener Gast. Wie ein unheimlicher Clown, der zur Unzeit auftrat. Alles kam ihr unwirklich vor. Ihr Körper war schwer und schien nicht zu ihr zu gehören. Ob sie ihre Arme und Beine wohl bewegen konnte, wenn sie es wollte? Es spielte keine Rolle – sie würde es ohnehin nicht versuchen. Wozu auch?

Emily musste an den Kinofilm denken, in den ihre Mutter sie kurz nach Weihnachten geschleppt hatte – vor allem an die Hauptdarstellerin, die von Szene zu Szene bleicher geworden und schließlich gestorben war. Am Ende hatten die Zuschauer ihre Taschentücher aus den Manteltaschen gezogen und sich verstohlen die Tränen aus den Augen gewischt. Emily mochte keine Tragödien. Das Leben sollte schön sein. Am liebsten hätte sie sich den Film gar nicht bis zum Ende angesehen und war nur ihrer Mutter zuliebe sitzen geblieben.

Doch das hier war kein Film. Es gab keinen Ausgang aus dem Kinosaal, keinen Schalter, den man einfach nur umlegen musste, um den Projektor anzuhalten. Sie musste sich auch nicht zwicken. Sie wusste nur zu gut, dass sie nicht träumte. Dieser Alptraum war wirklich und würde nicht morgens enden. Zumindest nicht am nächsten Morgen. »Höchstens noch drei Monate …«