Terence Blacker, geboren 1948 in Suffolk, versuchte sich nach dem Studium als Jockey und Buchhändler und arbeitete dann zehnJahre lang als Herausgeber. Seit 1983 widmet er sich als Autor, Journalist und Kolumnist ganz dem Schreiben. Sein bekanntestes Werk für Kinder ist die erfolgreiche Miss-Wiss-Serie. Boy2Girl ist sein erstes Jugendbuch bei Beltz & Gelberg. Terence Blacker lebt mit seiner Familie in London.

Für BOY2GIRL erhielt Terence Blacker
in Großbritannien den Angus Book Award.

Für Marion Lloyd

Wenn diese Geschichte ein Song der Doors wäre, welcher Song wäre es dann?

»Strange Days«?

»Ship of Fools«?

»Take It As It Comes«?

Vielleicht ginge ja »Wild Child« …

1

Matthew Burton

Ich möchte, dass ihr euch genau einprägt, wie Sam Lopez aussah, als er zum ersten Mal bei uns vor der Tür stand. Damit ihr das später vor Augen habt, wenn es nettere Bilder von ihm gibt – Sam mit Pferdeschwanz, Sam, wie er Elena und ihrer Clique auf dem Schulhof Football beibringt, Sam, wie er in seiner heiß geliebten Mädchenband spielt, Sam, die süßeste Biene der Klasse.

Denn der da vor unserer Tür stand, das war der wirkliche, der wahre Sam Lopez.

Er hatte einen alten Stoffbeutel über der Schulter hängen, trug einen etwa drei Nummern zu großen Mantel und riesige Baggy-Jeans, die bis zum Boden schlappten. Sein Gesicht war ein blasser Fleck hinter einem Vorhang von strähnigen, schulterlangen Haaren.

»Hallo, Matthew.« Meine Mutter, die direkt hinter ihm war, hatte den gestressten Ich-bin-nicht-am-Durchdrehen-wirklich-nicht-Ausdruck im Gesicht, den ich allzu gut kenne. »Das ist dein berühmter Cousin Sam.«

Während ich einen Gruß murmelte, schob sich mein Cousin so nah an mir vorbei, dass ich feststellen konnte: a) Er war ziemlich klein und b) er hatte sich schon eine Weile lang nicht gewaschen.

»Komm, gib mir deinen Mantel«, sagte mein Vater, der hinter mir im Flur gestanden hatte, aber er wurde auch übersehen. Der Neuankömmling schlappte gleich bis zur Küche durch. Dort blickte er sich um und schnüffelte, als wäre er eine Art Ratte.

»Das also ist mein neues Zuhause«, sagte er. Seine Stimme war rau, aber erstaunlich hoch.

Ich erinnerte mich an eine Bemerkung meiner Mutter, dass Sams Mutter, meine Tante Galaxy, Sam als »Unfall« bezeichnet habe. Damals hatte ich nicht genau verstanden, was sie meinte, aber als er da in der Küche stand, wurde es mir nur allzu klar.

Genau so musste ein Unfall aussehen – ein Unfall in menschlicher Gestalt, ein Unfall, der kurz bevorstand.

Mrs Burton

Ich habe mich noch nie so darauf gefreut, nach Hause zu kommen. Als ich im Flur Matthew stehen sah, der sich alle Mühe gab, seinen Cousin aus Amerika mit einem freundlichen Gesicht zu empfangen, und dahinter meinen lieben David mit seinem höflichen, aufgeschlossenen Lächeln, bin ich fast in Tränen ausgebrochen.

Die Reise war schrecklich gewesen. Die Beerdigung, das Treffen mit dem Anwalt, der Flug zurück über den Atlantik mit einem launischen, traumatisierten dreizehnjährigen Jungen. Es würde nicht leicht werden mit Sam, aber immerhin war ich nun mit meiner kleinen Familie vereint. Zusammen würden wir das schon meistern.

Matthew

Vor acht Tagen war das Leben einfach gewesen. Die Sommerferien hatten gerade angefangen. Ich war ganz schön fertig nach dem langen Schuljahr und freute mich auf viele, viele Vormittage, die ich im Bett vergammeln, auf Nachmittage, die ich mit meinen Freunden verbringen, und Abende, die ich vor dem Fernseher abhängen würde.

Dann kam die Nachricht aus Amerika. Galaxy, die jüngere Schwester meiner Mutter, hatte einen schweren Autounfall gehabt. Erst war ihr Zustand schlecht, dann lag sie im Koma und schließlich war sie tot. Mum flog zur Beerdigung rüber.

Ich wusste, dass ich wegen der toten Tante betroffen sein sollte, aber da ich Galaxy nie kennen gelernt hatte und sie von meinen Eltern nur selten und dann nur mit einem pikierten, peinlich berührten, witzelnden Unterton erwähnt worden war, hatte sie eigentlich nie zu meinem Leben gehört. Im Grunde wusste ich nur eines: Sie musste ein ziemlich flippiger Mensch gewesen sein.

Mrs Burton

Meine Schwester Gail war achtzehn, als sie beim Glastonbury Festival im Rahmen einer Rebirthing Zeremonie zu Galaxy wurde. Ihr hatte es schon immer gefallen, anders als wir Übrigen zu sein.

Ein paar Jahre später machte sie mit einer Gruppe langhaariger Freunde Urlaub in Amerika. Als die anderen zurückfuhren, blieb sie da. Sie hatte sich mit Todd Strange zusammengetan, dem Lead-Gitarristen einer eher unappetitlichen Heavymetal-Band, die sich 666 nannte.

Wir verloren jede Verbindung zu Galaxy. Erst als ich geheiratet hatte und mit Matthew schwanger war, kam eine Postkarte von ihr, in der sie mir mitteilte, dass die Sache mit Todd vorbei war. Sie sei jetzt mit einem gewissen Tony Lopez, Besitzer eines Nachtclubs, liiert. Und – dreimal dürfen Sie raten! – sie erwarte ein Kind.

Also gründeten wir beide mehr oder weniger zur selben Zeit eine Familie – meine hatte ein Haus in einem Vorort von London, Galaxys zog in einem Campingwagen durch Amerika. Hin und wieder kam Post von ihr – Fotos von ihrem kleinen Jungen Sam, die eine oder andere Nachricht. Nach ein paar Jahren teilte sie uns mit, dass Tony Lopez die Familie verlassen habe, weil »er reisen und sich selbst finden wollte«. Später hörten wir, dass er im Gefängnis war.

Auch wenn wir all die Jahre Kontakt hielten – Gemeinsamkeiten hatten wir kaum noch; Galaxy lebte an der Westküste der USA mit Leuten zusammen, die uns nicht recht geheuer waren, während wir in London ein ruhiges, ausgefülltes Leben führten.

Und dann kam die entsetzliche Nachricht.

Ich war erstaunt, dass mich das so mitnahm. Meine Schwester und ich waren uns auch als Kinder nie besonders nah gewesen. Und als sie dann erwachsen war und sich zu dieser doch sehr eigenartigen, verantwortungslosen Person entwickelte, die sich aber auch in jeder Hinsicht von mir unterschied, empfand ich sie nahezu als eine Fremde, die durch einen merkwürdigen Zufall zur selben Familie gehörte wie ich.

Doch nun merkte ich, dass mir meine Schwester und ihre flippige Art fehlen würden. Als ich nach Amerika flog, dachte ich nicht an Galaxy, die Rock-’n’-Roll-Braut mit den zweifelhaften Freunden, sondern an das kleine Mädchen Gail, die mit der übrigen Welt nie ganz im Einklang war, dies aber nicht als ihr Problem, sondern als das der Welt betrachtete. Trotz meiner wunderbaren, mir so nahe stehenden Familie fühlte ich mich ohne meine Schwester einsam.

In San Diego, wo sie zuletzt gewohnt hatte, suchte mich ein Mann namens Jeb Durkowitz auf, der, wie sich herausstellte, Galaxys Anwalt war. Er sagte mir, die Dinge lägen einigermaßen kompliziert. Sam, der gerade dreizehn geworden war, sei ganz allein auf der Welt. Galaxy habe in einem Brief an Durkowitz klar und deutlich den Wunsch geäußert, Familie Burton solle sich um den Jungen kümmern, falls ihr etwas zustieße.

Arme Gail, arme Galaxy. Noch als Tote brachte sie es fertig, alles durcheinander zu wirbeln.

Matthew

Mein Cousin stank, und ich hatte das Gefühl, ihn störte das nicht. Als wollte er mit dieser deutlichen Duftmarke von Anfang an zum Ausdruck bringen, wie egal ihm war, was andere von ihm hielten.

Er hatte sich auf einen Küchenstuhl gefläzt und glotzte seine neue Familie an. Seine kleinen, dunklen Knopfaugen glänzten.

»Also«, sagte er, »Mr und Mrs David Burton. Im trauten Heim. Mit ihrem einzigen Sohn Matthew.«

Ich hatte das Gefühl, dass in seinem betont amerikanischen Geknautsche eine Verachtung steckte, die einem Jungen in seinem Alter nicht zustand und alles andere als höflich war.

Ich blickte zu meinen Eltern rüber, weil ich erwartete, dass sie ihn irgendwie locker zurechtweisen würden, aber beide lächelten diesen nervigen Knallkopf an, als wäre er das eindrucksvollste und bewunderungswürdigste Wesen, das sie in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatten.

Schließlich wandte sich mein Vater an mich. »Vielleicht würde Sam gern ein Glas eisgekühlten Saft trinken«, sagte er.

»Saft ist ätzend«, sagte Sam.

Dad lächelte. »Wie du meinst«, sagte er verständnisvoll.

Wir fanden bald heraus, dass alles ätzend war, jedenfalls in den Augen von Sam Lopez.

Durch London fahren und Sehenswürdigkeiten angucken war ätzend. Das Essen, das mein Vater für uns kochte, war ätzend. Alle vier Pantuccis, unsere Nachbarn, die vorbeikamen, um hallo zu sagen, waren ätzend. Das Britische Fernsehen war überaus ätzend, vor allem, als Sam herausfand, dass wir kein Kabelfernsehen hatten. (»Fünf Sender?«, sagte er. »Das kann doch nicht euer Ernst sein!«) Vor Mitternacht schlafen gehen war ätzend, genau wie aufstehen vor Mittag.

Am zweiten Tag ging mir seine Art langsam auf den Keks. »Wieso ist alles so ätzend?«, fragte ich ihn beim Abendessen.

Er guckte mich mit großen, dunklen Augen an, und mir wurde klar, dass es vermutlich nicht besonders passend war, so was jemanden zu fragen, dessen Mum gerade gestorben war.

»Da bin ich überfragt, Mann«, sagte er leise. »Die Frage stell ich mir selber jeden Tag.«

Mr Burton

Es war eine schwierige Zeit. Unsere Familie war es gewöhnt, aufkommende Probleme durch gemeinsame Gespräche zu lösen, Sam aber zog es vor, für sich zu bleiben. Er verbrachte Stunden alleine in seinem Zimmer, hatte die Kopfhörer auf und hörte Musik oder er saß vor dem Fernseher und starrte mit leerem Gesicht auf den Bildschirm.

Wenn er etwas sagte, dann meist in einem harschen, ärgerlichen Tonfall, der die bis dahin bei uns so lockere Atmosphäre zerstörte, als würde jemand Stoff zerreißen. Außerdem hatte er eine für einen Jungen seines Alters erschreckende Ausdrucksweise. Seine Schulbildung ließ sicherlich zu wünschen übrig, aber in punkto phantasievolles Fluchen war er einsame Spitze.

Aber ich sah die Sache so: Das Schweigen, die Launen, die Ausbrüche, die grobe Sprache waren alles Hilferufe eines leidenden Kindes. Es war die Pflicht der Familie Burton, Sam durch diese dunkle, dunkle Zeit hindurchzuhelfen.

Matthew

Ein paar Worte über meine Eltern. Ein Außenstehender – sagen wir, Sam Lopez – mochte sie als verdreht empfinden. Bei uns hat, so lange ich denken kann, Mum das Geld verdient. Sie hat einen Job bei einer Arbeitsvermittlung, der sie täglich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringt.

Mein Vater arbeitet zu Hause, er liest Korrektur für eine Anwaltskanzlei, aber das ist nur eine Teilzeitbeschäftigung. Seine wahre Liebe gilt dem Haushalt, das ist sein eigentlicher, wahrer Beruf. Dads Auffassung von Hausarbeit hat nichts mit der üblichen flotten Ist-doch-egal-das-langt-schon-Art der meisten Männer zu tun, er setzt wirklich seinen ganzen Stolz daran, alles blitzsauber zu halten. Dad ist tatsächlich ein echtes Exemplar der Spezies Hausmann. Er kann einen ganzen Nachmittag damit zubringen, der Familie ein Abendessen zu bereiten. Einen Tag in der Woche widmet er dem Staubsaugen. Dad trägt eine Schürze, ohne dass es ihm peinlich ist. Manchmal schaue ich zu, wie er draußen die Wäsche auf die Leine hängt, sorgfältig, langsam, die Wäscheklammern zwischen den Zähnen, und ich weiß einfach, dass seine Familie und das Heim seiner Familie für ihn wichtiger sind als jeder Job oder jede Karriere.

Ihr könnt das einfach so sehen: Ich lebe in einer verdrehten Ausgabe der so genannten Normalfamilie.

Elena Griffiths

Also, in meinen Sommerferien spielte Sam Lopez überhaupt keine Rolle. In meinen Sommerferien drehte sich alles um Hoffnung, Liebe, Geheimnisse, Zukunftspläne. In meinen Sommerferien ging es um Mark Kramer.

Alle in der Bradbury-Hill-Schule kannten Mark. Die Jungen wollten so sein wie er. Sie wollten so lange und so weiche Haare haben wie er. Sie zogen sich an wie er, mochten dieselben Marken wie er. Einige imitierten (treuherzig, traurig, tragisch) sein Lächeln, seine schläfrige Art zu reden.

Und die Mädchen? Natürlich wollten sie mit ihm gehen.

Vielleicht habe ich mir ja was vorgemacht – ich war in der achten Klasse, er der King der Oberstufe –, aber als wir in der letzten Schulwoche vor den Ferien beide zum Mittagessen anstanden und er mich ansprach, habe ich ehrlich gedacht, das hätte was zu bedeuten. Er hatte sich mit Justin, einem Freund von ihm, über den neuen Cameron-Diaz-Film unterhalten, den sie sich ansehen wollten. Wie es der Zufall wollte, hatte ich gerade eine Voraufführung gesehen (meine Mutter arbeitet in der Filmbranche), also ließ ich locker einfließen, dass der Film ganz okay ist. Eigentlich sogar beinahe gut.

Mark guckte mich auf seine sanfte, aristokratische Art an, als sähe er mich zum ersten Mal, und fragte, wieso ich so viel über einen Film weiß, der noch gar nicht angelaufen ist. Ich erzählte ihm, dass meine Mutter Casting macht. Und sie hatte Cameron schon ein paar Mal auf Film-Partys getroffen (was stimmt). Cameron ist echt nett, sagte ich – so ganz normal.

»Film-Partys, ja?« Mark lachte und sein Freund lachte auch. Er sagte, er würde sich den Film am nächsten Sonnabend angucken, und ich ließ fallen, dass ich ihn mir durchaus auch noch mal angucken würde.

»Cool«, sagte er.

Vielleicht habe ich zu viel in dieses »Cool« reingelesen, aber in jenem Moment schien mir das klar. Zwischen uns beiden war etwas Geheimes und Magisches geschehen – etwas, das Worte irgendwie bedeutungslos werden lässt. Ich hatte eine Verabredung mit Mark Kramer, eine, die er gerade ausgesprochen hatte, ohne dass Justin etwas mitbekam.

Es war der Knüller, ein Ereignis der besonderen Art. Normalerweise teile ich jedes Geheimnis mit meinen besten Freundinnen Charley und Zia, aber das war was anderes. Die beiden hätten sich entweder über mich lustig gemacht oder sie wären eifersüchtig gewesen.

Und das konnte ich echt nicht brauchen.

Matthew

Damals, in den Sommerferien, schien es, als würde nichts wieder gut oder simpel oder normal werden. Solange es zu Hause nur Mum, Dad und mich gegeben hatte, wussten wir, woran wir waren – klar, auch bei uns gab es Zank und Streit, wie in jeder Familie, und auch Tage, an denen es ein bisschen rau zuging, aber wir kannten uns lange genug, dass wir instinktiv drauf hatten, wie wir die Dinge wieder ins Lot bringen konnten. Wir wussten, wann wir reden mussten und wann es besser war zu schweigen, wann man sich zu entschuldigen hatte – so wie das eben zwischen Eltern und Kindern läuft.

Aber als wir nicht mehr zu dritt, sondern zu viert waren und die vierte Person trauriger und zorniger war als wir anderen zusammen, geriet das ganze System aus dem Gleichgewicht. Ich hörte, wie Mum und Dad hinter verschlossenen Türen über Sam zischelten. Ihr Lächeln wurde zwanghaft und falsch. Alles, was sie sagten und dachten, schien sich um meinen Cousin zu drehen und wie er mit seinem neuen, mutterlosen Leben zurechtkam.

Angesichts dieser großen, bewegenden Tragödie schien der Alltagskram meiner kleinen Welt plötzlich unerheblich und unbedeutend.

Und was Sam betraf: Er hatte eine wichtige Lektion gelernt – sein Status als Waise verlieh ihm Macht. Also, wenn meine Eltern in der Nähe waren, machte er einen auf still und bedrückt. Sobald wir beide aber alleine waren, setzte er alles daran, mich auf die Palme zu bringen.

Eines Nachmittags saßen wir vor dem Fernseher, da guckte Sam aus dem Fenster und sah meinen Vater unser Auto waschen.

»Was ist bloß los mit diesem Mann?«, murmelte er, gerade laut genug, dass ich ihn hören konnte.

Es war ein Fehler, ihm zu antworten. »Meinst du meinen Vater?«

»Andauernd ist er am Putzen und Schrubben und Staubwischen. Hat der Komplexe oder was?«

Ich starrte auf den Fernseher, fest entschlossen, mich nicht provozieren zu lassen.

Sam guckte mich an. »Glaubst du an Reinkarnation?«

Ich zuckte die Achseln.

»Weil, ich habe mir gedacht, vielleicht war dein Vater im früheren Leben ein Diener? Oder eine Putzfrau?«

Ich biss die Zähne zusammen und sagte nichts.

»Also mein Dad, der würde nicht mal wissen, was Staubwischen ist«, sagte Sam plötzlich. »Der ist so was von cool, dass es dich schon umhauen würde, wenn du bloß was über ihn hörst. Dein Hirn könnte das gar nicht fassen.«

Schweigend starrte ich geradeaus.

»Du kannst dir nicht vorstellen, was wir alles zusammen gemacht haben«, kicherte er und schüttelte den Kopf. »Tja, der war ein richtiger Vater, echt, Mann!«

Wortlos stand ich auf, ging aus dem Zimmer und vors Haus zu meinem Vater. Ich bin nicht gerade versessen aufs Autowaschen, aber das war die einzige Möglichkeit, Sam zu zeigen, auf wessen Seite ich stand.

»Ich glaube, ich halte das nicht mehr lange aus«, sagte ich zu Dad.

»Wenn er in die Schule geht, wird er schon zur Ruhe kommen.«

Ich stöhnte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der in meine Klasse kommt. Das wird eine Katastrophe, Dad.«

Mein Vater blickte über das Auto hinweg, den Schwamm in der Hand, und sagte zum wiederholten Mal den Satz, der mich jedes Mal fertig machte: »Vielleicht sollte Sam mal langsam deine Freunde kennen lernen.«

Tyrone Sherman

Wir waren im Park, da, wo wir immer sind, an unserem Bunker, und warteten auf Matts berühmten amerikanischen Cousin.

Er ließ auf sich warten. Er kam immer zu spät, behauptete Matt.

»Vielleicht gibt’s den gar nicht«, sagte Jake. »Vielleicht ist das Matts eingebildeter Freund.«

»Schön wär’s«, sagte Matt.

Die Zeit verstrich. Jake schoss einen Fußball an die Bunkerwand. Matt und ich schauten zu, wie die Welt an uns vorbeizog, so wie wir das schon tausende Male zuvor getan hatten. Das hier war unser Territorium. Zwar war unser »Bunker« bloß ein Unterstand auf einem Kinderspielplatz, aber seit fünf Jahren oder so war das unser Treffpunkt. Früher hatten wir uns hier untergestellt, wenn wir auf der Rutsche oder den Schaukeln gespielt hatten und es anfing zu regnen. Jetzt saßen wir bloß rum und quatschten. Auch wenn wir uns gelegentlich den einen oder anderen bösen Blick von Eltern einhandelten oder auch von Spaziergängern, die jedes Mal an uns vorbeimussten, wenn sie zur öffentlichen Toilette hinter unserem Bunker wollten – uns war das egal. Das hier war unser Platz.

Als wir klein waren, nannten wir uns die Bunkerbande. Und irgendwie ist der Name an uns hängen geblieben.

»Es ist so weit«, sagte Matt plötzlich.

Ich folgte seinem Blick. Ein kleiner, langhaariger Junge betrat den Park.

»Das ist er?«, fragte ich. »So ’n kleiner Knirps?«

»Und guck dir mal die Haare an«, sagte Jake.

»Hab ich euch doch gesagt«, sagte Matt. »Er ist ein Hippie.«

»Für mich sieht der eher wie ein Mädchen aus«, sagte Jake.

Und Matt lachte. »Wart’s ab«, sagte er.

Matthew

Er marschierte großspurig auf uns zu und erst kurz vor uns verlangsamte er seine Schritte und kam mit den Händen in der Tasche angeschlendert. »Na, was läuft?«, fragte er und schenkte uns sein eher seltenes Lächeln. »Ich bin Sam Lopez.«

Tyrone und Jake murmelten eine Begrüßung.

»Das ist also der berühmte Bunker.« Sam setzte sich auf die Bank und blickte sich um. Ich wartete auf eine der üblichen herablassenden Bemerkungen, aber er klickte nur irgendwie anerkennend mit den Zähnen. »Ist okay.«

»Uns gefällt’s«, sagte ich kalt.

»Und – was geht hier so ab?«

»Nicht viel«, sagte Tyrone.

»Spielst du Fußball?«, fragte Jake.

Sam schaute auf den Ball an Jakes Fuß. »Fußball? In den Staaten ist das ein Mädchensport.«

»Das liegt daran, dass ihr keine Ahnung von Fußball habt.« Jake ließ den Ball gegen die Wand knallen.

»Klar können wir, wenn wir wollen.« Sam streckte die Hand nach Tyrones Handy aus, nahm es ihm ab und klickte mit dem Daumen locker durch das Spiel, das gerade lief. »Bloß, wir finden Football besser.« Er gab das Telefon zurück. »Hier, jetzt bist du auf dem nächsten Level«, sagte er lässig.

Er stand auf, spuckte in die Hände und fing den Ball auf, der von der Wand zurücksprang. Er hielt ihn eine Sekunde oder so fest, dann ließ er ihn herumrollen. Der Ball klebte kurz an der Hand, bevor er zu Boden fiel.

»Guckt mal.« Sam stellte sich vor Jake und ließ seine Schultern entspannt und geschmeidig kreisen. »Das«, sagte er, »ist Football.« Er beugte die Knie und hielt mit ausgestreckten Armen einen imaginären Ball in den Händen. »Zwei! Fünfundsechzig!« Er brüllte die Zahlen so laut, dass die Mütter auf dem Spielplatz aufguckten.

Und plötzlich sauste Sam los, tänzelte und zickzackte über den Asphalt, drückte mit den Schultern imaginäre Gegner aus dem Weg, reckte sich, um einen langen Pass aufzunehmen, dann sprintete er ein paar Meter vorwärts, bis er gleich hinter den Wippen so tat, als würde er den Ball triumphierend hochwerfen.

»Touchdown!«, schrie er. »Wir haben gewonnen!«

Er tanzte am Metallzaun entlang, warf den Kopf zurück und schleuderte vor Freude über seinen unglaublichen Sieg seine kurzen Arme und Beine wie ein verrückter, langhaariger Kobold von sich.

Wir lachten. Sonst gab es weiter keine Reaktion.

»Spinner«, sagte Jake.

»Von welchem Planeten stammt der Typ?«, fragte Tyrone.

Sam kam zurück und ließ sich schnaufend auf die Bank fallen. »Das nennt man Football«, sagte er. »Mit Ball ist es natürlich besser.«

Jake schüttelte den Kopf. »Du bist echt ein irrer Ami.«

»Dabei haste noch nix gesehen.« Sam wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab.

Mrs Cartwright

Man wird nicht Leiterin einer großen Schule, ohne – wie ich das nenne – die Fähigkeit entwickelt zu haben, mit allen Imponderabilien zurechtzukommen, aber als Mrs Burton, die Mutter von Matthew, einem unserer jüngeren Schüler, mich anrief und mir von dem amerikanischem Kind ihrer verstorbenen Schwester erzählte, war ich in Bezug auf unsere Möglichkeiten, ihm einen Schulplatz bereitzustellen, eher skeptisch.

Die Bradbury-Hill-Schule ist äußerst begehrt – wir sind eine sehr, sehr erfolgreiche Schule –, so dass mir das Ansinnen, so ohne weiteres ein amerikanisches Kind in unsere achte Klasse aufzunehmen, ein wenig abwegig erschien.

Aber Mrs Burton ist eine sehr entschlossene Frau. Sie erklärte, dass Sam ganz allein auf der Welt und genauso alt wie Matthew sei. Sie meinte, eine positive Entscheidung wäre für das Ansehen der Bradbury-Hill-Schule in der Öffentlichkeit förderlich.

Das Ansehen in der Öffentlichkeit. Ich will ehrlich sein. Das sprach mich an.

Wie sich herausstellte, war in der achten Klasse ein Platz frei, den Sam sinnvoll besetzen könnte. Selbst als Mrs Burton mir erklärte, dass Sam keine Zeugnisse habe, weil die Mutter – offenbar ein etwas schwieriger Fall – das Kind häufig die Schule hatte wechseln lassen, habe ich nicht auf die Alarmglocken in meinem Kopf gehört.

Das habe ich mir selbst zuzuschreiben. Ich hätte einfach etwas mehr – wie ich das nenne – Sorgfalt walten lassen sollen.

2

Charley Johnson

Wir Zicken, wir halten zusammen. Als wir noch in der Grundschule waren, gab es eine unausgesprochene Regel. Wer sich mit einer von uns anlegte, bekam es mit uns allen zu tun.

Elena Griffiths, Zia Khan und Charley Johnson. Wir waren wie drei verschiedene Seiten einer allumfassenden Persönlichkeit. Einzeln waren wir nichts Besonderes. Zusammen waren wir unschlagbar.

Elena war hübsch, dünn, ein bisschen schräg, ein bisschen zu sehr auf diesen ganzen Promi-Kram versessen, also nicht wirklich vollkommen normal.

Zia stammt aus einer großen, erfolgreichen asiatischen Familie. Irgendwann hatte sie gelernt, dass Schweigen, also die Ich-bin-ein-kleines-Mäuschen-Nummer, eine prima Methode war, seinen Kopf durchzusetzen, viel besser als das Getöse, das Elena und ich veranstalten. Empfindsamkeit, Charme und eine Begabung fürs Gitarrespielen – da ist es doch nicht weiter erstaunlich, dass Zia bei den Lehrern immer den ersten Platz unter den Lieblingsschülern einnimmt, oder? Und hinter dieser unschuldigen Fassade vermutet niemand die wahre Ms Khan – die ist nämlich raffiniert, wild und gefährlich.

Ich beneide sie um ihren Charme. Ich bin dafür wohl zu groß, zu laut. Anderseits bin ich bis jetzt noch in jeder Klasse die Beste gewesen – was brauche ich Charme, wenn ich Köpfchen habe?

Zia Khan

In jenem Sommer hat Elena gegen unsere goldene Regel verstoßen. Die betrifft den Umgang mit Jungs.

Als wir etwa neun waren, kamen wir zu dem Schluss, dass Jungs reine Zeitverschwendung sind. Unsere Feinde waren ein trauriges Trio, das sich (das habe ich mir nicht ausgedacht, ehrlich!) die »Bunkerbande« nannte. Sie haben uns geärgert und wir haben uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit revanchiert. Das war nicht schwer – es waren schließlich Jungs.

Als die Bunkerbande – Jake, Tyrone und Matt – anfingen, uns zu beschimpfen, nahmen wir einfach eines ihrer Lieblingswörter, verwandelten es in ein Kompliment und schon hatten wir einen Namen für unsere Clique: die »Zicken«.

Es lief alles ganz wunderbar mit uns dreien, bis Elena auf diesen Mark Kramer, den Liebesgott der Oberstufe, abfahren musste.

Jake Smiley

Wollt ihr die Wahrheit wissen? Zuerst hatte ich nichts gegen ihn. Matt hatte uns tagelang Horrorgeschichten über seinen Cousin erzählt, und ich muss zugeben, er sah wirklich ein bisschen zum Fürchten aus. Aber als er bei unserer ersten Begegnung auf dem Spielplatz diese verrückte Nummer abzog, fand ich, dass er immerhin Leben in die Bude brachte, selbst wenn er ein bisschen nervig sein mochte.

Sommerferien können ganz schön öde sein. Man sitzt rum, probiert alle neuen Computerspiele aus, quatscht, aber was dann? Also beschäftigten wir uns mit Sam Lopez.

Irgendwie schaffte der Ami es, unsere kleine Gruppe aufzurütteln. Plötzlich redeten wir miteinander, wie wir es bis dahin nie getan hatten.

Warum? Weil unser Leben, so merkwürdig und verquer es uns vorkommen mochte, gar nichts war im Vergleich zu dem, was Sam zu bieten hatte.

»Auf wie vielen Schulen bist du schon gewesen?«, habe ich gefragt.

Sam runzelte die Stirn, zählte an seinen Fingern ab, dann zuckte er die Achseln. »Zwölf? Dreizehn? Meine Mum und ich sind ziemlich rumgezogen. So ungefähr.«

Tyrone pfiff beeindruckt. »Matt hat gesagt, sie war ziemlich wild.«

Sam sog kurz die Luft ein. Entweder war er verblüfft oder es tat ihm weh.

»Tyrone meint wild im positiven Sinne«, sagte Matt schnell.

Der Ami lächelte, dann fing er leise an zu lachen. »O ja, so war Mum«, sagte er. »Wiiiiild.«

Und so begannen wir zu reden. Irgendwie machten die tote Mutter und die vielen Schulwechsel des fremden Jungen es uns leichter, über uns selber zu sprechen.

Ich erzählte, dass meine Mum und mein Dad sich im letzten Jahr getrennt hatten, dass ich mich seitdem zu Hause, allein mit meiner Mutter und meiner älteren Schwester, nicht wohl fühlte. Zwar traf ich mich einmal in der Woche mit Dad, aber das war nie besonders toll. Wir gingen ins Kino oder in ein Restaurant, haben über alles Mögliche geplappert, aber nicht über das, was uns wirklich beschäftigte. Wir waren plötzlich wie Fremde.

Tyrone gab preis, dass er seinen Vater nie kennen gelernt hatte, weil der kurz nach Tyrones Geburt zum Urlaub in die Karibik gefahren und nie wieder aufgetaucht war. Tyrone sprach von seinen Gewichtsproblemen – dass er früher in der Schule »Jumbo« oder »Panzer« genannt wurde, dass seine Mutter ständig neue Diäten an ihm ausprobierte, die ihn nur schwächten und krank machten, sonst aber nichts bewirkten.

Sogar Matt machte mit. Er bekannte, wie peinlich es ihm war, wenn sein Vater Hausarbeiten machte und in einer Schürze rumrannte oder wenn seine Mutter in der Schule anrief, um sich über dies oder das zu beschweren.

»Mann, das ist ja echt kaputt hier.« Sam zwinkerte, und er hatte so was Lockeres und Erwachsenes an sich, dass wir alle drei lachen mussten. »Also«, sagte er, »was für Nummern zieht ihr ab, wenn ihr Spaß haben wollt?«

Elena

Ich will mich nicht weiter über die Sache mit Mark Kramer auslassen. Für meine Begriffe geht das, was zwischen Mark und mir geschah (nicht geschah), niemanden was an. Es ist einfach ohne Bedeutung. Ende der Geschichte.

Na gut, vielleicht müsst ihr ein bisschen was wissen, die wichtigsten Fakten zumindest. An jenem Sonnabend bin ich zu dem Film von Cameron Diaz gegangen. Mark auch. Als er ins Foyer des Kinos kam, ging ich auf ihn zu, niedlich errötend unter dem Make-up, für das ich etwa zwei Stunden gebraucht hatte. Dann sah ich hinter ihm Tasha, ein Mädchen aus seiner Klasse. Sie schob ihre Hand unter seinen Arm und wir drei standen eine halbe Ewigkeit voreinander, starrten uns an und keiner brachte ein Wort raus.

Es war Tasha, die schließlich das Schweigen brach. »Und – was ist jetzt dein Problem?«, sagte sie.

Ich drehte mich um und rannte durch die Schwingtüren, hinaus in die Nacht. Ich hasste Tasha, ich hasste mich, aber vor allem hasste ich Mark Kramer. Genau genommen hasste ich alle Jungen.

Also, wenn ich es mir recht überlege, war das Ganze vielleicht doch nicht so bedeutungslos, wie ich gedacht hatte.

Matthew

In den nächsten Tagen zeigten wir Sam unser Viertel und er erzählte uns von seinem Leben zu Hause. Es klang so, als hätte er jeden Tag mit Typen aus Motorradgangs abgehangen, sich in Ghettos rumgetrieben, bei Schlägereien mitgemacht und wäre jede Nacht mit seiner guten, alten Mum bei irgendeinem Rockkonzert hinter der Bühne gewesen.

Wir ließen uns diese Geschichten erzählen und versuchten, möglichst unbeeindruckt zu tun. Bis dahin hatten wir gedacht, dass wir drei hart genug drauf waren, um klarzukommen, falls es im Park oder auf der Straße oder auf dem Schulhof Stress geben würde. Immerhin waren wir so auffällig und ruppig, dass die Lehrer sich hin und wieder bei den Eltern über unsere »Verhaltensstörungen« beschweren mussten.

Aber Sam spielte in einer ganz anderen Liga, er war, wenn auch nur die Hälfte seiner Geschichten stimmte, jedenfalls härter, als wir es uns je zu sein wünschten. Er ist mit seiner Gang in San Diego durch die Läden gezogen und sie haben geklaut, nur so zum Spaß. Sie haben Autos geknackt und Messer getragen. Waren in wahnsinnig blutige Bandenkriege verwickelt, wie man das aus dem Kino kennt. Waren der Polizei bekannt.

Je mehr wir aus der wilden und skurrilen Welt von Sam und seiner Gang erfuhren, umso unwohler fühlten wir uns in seiner Gegenwart. Entweder war er ein phantasiebegabter Lügner oder ein Mini-Gangster. Was auch immer – Sam verhieß in jedem Fall Unheil. Dabei hatten wir alle drei so schon genug am Hals.

Und das war noch vor dem Krach in Bills Imbiss.

Imbiss-Bill

Wenn es nach mir ginge, würde ich alle Kinder zwischen zwölf und achtzehn auf den Mond schießen. Die machen nur Ärger, vor allem die Jungen.

Vor allem diese Jungen.

Matthew

Wir saßen in Bills Imbiss, als Jake anfing, von seinem Vater zu reden. Der hatte in letzter Zeit alle mit Jake vereinbarten Treffen platzen lassen, und jetzt schien es sogar, als würden Vater und Sohn sich auch in Zukunft nur mehr selten sehen können.

Denn Mr Smiley war vor zwei Tagen abends nach einem Geschäftsessen von der Polizei angehalten worden. Er musste pusten, die Probe war positiv und er verbrachte die Nacht auf dem Polizeirevier.

Mir fiel auf, dass Sam ungewöhnlich still war, während wir darüber sprachen und Tyrone und ich Jake unser Mitgefühl ausdrückten. Sam blickte sich um, trommelte mit den Fingern auf der Resopaltischplatte, als gäbe es nichts Langweiligeres als die Geschichte von Jakes Vater.

»Was passiert hier eigentlich, wenn man besoffen fährt?«, fragte er plötzlich. »Wird man eingeknastet?«

»Mr Smiley könnte für eine Weile den Führerschein verlieren«, sagte ich.

»Und ohne Auto kann mein Dad mich nicht besuchen«, sagte Jake betrübt.

Sam schniefte. »Entschuldigt bitte, dass ich weinen muss«, sagte er.

Wir alle guckten ihn erstaunt an. Er lehnte sich zurück und hob beide Hände. »He, hört doch mal, das ist doch kein Ding«, sagte er. »Da hat also Jakes Alter eine Nacht im Knast verbracht und darf ’ne Weile nicht mehr fahren. Na und?«

Jake beugte sich über den Tisch. »Hör auf«, sagte er. »Das ist kein Spaß.«

»Wer macht denn hier Spaß?« Sam fuhr sich mit den Fingern durch den Schopf und zerrte genervt an seinen Haaren, eine ausgesprochen unfreundliche Geste. »Weißt du was, Jake, ich glaube, es könnte sein, du merkst gar nicht, dass es mich einen Scheiß interessiert, was mit deinem Daddy läuft.«

»Langsam, Sam«, sagte Tyrone.

Aber Sam blickte Jake immer noch tief in die Augen. »Weißt du, wenn du einen Daddy hast, der die meiste Zeit seines Lebens im Knast verbracht hat, und der auch jetzt da drin hockt, dann findest du ein paar Stunden hinter Gittern …« Er zuckte die Achseln. »Na ja, es bricht mir nicht gerade das Herz.«

»Puh«, sagte Tyrone. »Was hat dein Dad denn gemacht?«

Sam zog die Schultern hoch. »Dies und das. Was gedreht. Fette Dinger. Als ich geboren wurde, hatte er ein paar Nachtclubs. Da ist er in Sachen verwickelt worden, die nicht so ganz sauber waren. In einer Nacht hat er sich mit einem Kollegen gestritten. Der Kollege hatte einen Unfall. Wurde überfahren. Dad wurde dafür verknackt. Wie gesagt, so Sachen eben.«

Er hatte es wieder geschafft. Selbst wenn in unserem Leben etwas ungewöhnlich Aufregendes passierte, konnte er mit etwas auftrumpfen, das noch größer, noch beängstigender, noch aufregender war.

»Das ist …« Tapfer versuchte Tyrone, die richtigen Worte für den heiklen Moment zu finden, in dem man erfährt, dass der Vater eines Freundes wegen Mord im Gefängnis sitzt. »Das ist … Mann, das ist ja schrecklich.«

»So ist das eben.« Sam schlurfte durch seinen Strohhalm. »Meinen Alten hab ich nicht mehr gesehen, seit ich fünf bin. Ab und zu hab ich mal von meiner Mum zu hören gekriegt, was er wieder angestellt hat. Sie hat sich einen Spaß draus gemacht – sie nannte es ihr Crash-Bulletin.«

»Wieso Crash?«, fragte Tyrone.

»So heißt er. Sein richtiger Name ist Tony, aber weil er so viele Crashs und Kräche und Unfälle und so ’n Zeugs hatte, nennen ihn alle Crash – Crash Lopez.« Sam sagte den Namen voller Stolz.

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann klinkte sich Jake wieder ins Gespräch ein.

»Crash«, sagte er, und ich sah ihm an, dass er wegen Sams Bemerkung über seinen Vater immer noch sauer war. »Bisschen komischer Name, was?«

Sam guckte überrascht, misstrauisch. »Was meinste mit komisch?«

Jake lachte. »Und seine Brüder heißen Bums und Knall?«

Sam gab ein wütendes Kläffen von sich, und bevor wir irgendwas tun konnten, war er aufgesprungen, lehnte sich quer über den Tisch, so dass alle Plastikbecher durch die Gegend flogen, und trommelte auf Jakes Gesicht ein.

»Hör auf, meinen Dad zu dissen!«, kreischte er. »Diss meinen Dad und du stirbst.«

Bill, der fette, verschwitzte Kerl, dem der Imbiss gehört, kam angerannt und zog Sam von Jake weg. Er zerrte Sam zur Tür, ohne dessen wütendes amerikanisches Schreien und Fluchen zu beachten, und setzte ihn raus, als wäre er ein streunender Kater. Bill schloss die Tür ab, dann kam er an unseren Tisch zurück.

Er packte seine fleischigen Pranken auf den Tisch und blickte auf uns runter. »Wie heißt ihr, alle drei?«, fragte er.

»Smith«, sagte Tyrone. «Wir heißen Smith, alle drei.«

Bill stand einen Moment da, als überlegte er, was er als Nächstes tun sollte. Dann marschierte er zur Tür, schloss sie auf. »Raus«, sagte er mit einer energischen Kopfbewegung. »Und kommt ja nicht wieder, es sei denn, ihr wollt, dass ich euch persönlich aufs Polizeirevier begleite.«

Wir huschten an ihm vorbei, Jake hielt sich die Hand übers Auge.

Draußen blickten wir uns um. Die Fußgängerzone war leer. Vom verrückten Sohn des Crash Lopez keine Spur.

Tyrone

Ich hatte Schiss gehabt, und ich gehe jede Wette ein, dass Matt und Jake auch Schiss hatten. Das war so ein Moment, in dem alles total außer Kontrolle gerät und man sich plötzlich ganz verloren, hilflos und klein fühlt.

Wir liefen durch die leere Fußgängerzone, bis wir Bills Imbiss in sicherer Entfernung wussten.

»Ich fasse es nicht«, sagte Matt mit wackliger Stimme.

Jake schniefte und putzte sich die Nase. »Das war bloß ein Witz«, sagte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Der ist einfach zu heftig, dieser Sam. Die vielen Schulen und die Gangs, der Autounfall von seiner Mum und jetzt ist auch noch sein Vater so eine Art Psycho-Killer.«

»Sagt er«, murmelte Jake.

»Wahrscheinlich kann er nichts dafür«, sagte Matt.

»Wir aber auch nicht!« Jake jaulte wütend auf. »Bloß weil sein Leben Scheiße ist, muss er uns unsers ja nicht auch gleich versauen, oder? Ich hab schon genug Probleme.«

Seine Stimme schlug von den Schaufenstern zurück, lief die Betonwände entlang. Und in diesem Moment der Verzweiflung merkten wir plötzlich, dass wir nicht allein waren.

Charley

Glück oder Pech, was auch immer, jedenfalls waren wir an dem Abend auch in der Fußgängerzone.

Wir wollten uns im Cineplex Ratz angucken, einen Zeichentrickfilm mit Nagetieren, und vorher noch in Bills Imbiss eine Cola abfassen.

Als wir mit dem Fahrstuhl hochkamen, trafen wir eine traurige Truppe: die Bunkerbande. Die Jungs schienen ziemlich aufgebracht zu sein.

Wir lächelten, als wir sie sahen. Na gut, das ist nicht ganz wahr. Wir lachten. Tut mir Leid, aber da müsste man wohl ein Herz aus Stein haben, wenn man den Anblick von Zinken, Spitzohr und Panzer – ihren Freunden (falls sie welche haben) besser als Jake, Matt und Tyrone bekannt – nicht komisch finden würde.