»Das Leben kennt nur zwei Wege:
Der eine führt ins Paradies, der andere in die Hölle.
Doch sie kreuzen sich an vielen Stellen.«
Serhij Zhadan, »Mesopotamien«
Gehen oder bleiben, auf den Putz hauen oder runterschlucken, gewinnen oder verlieren, hart bleiben oder nachgeben, du oder ich …
Immer wieder haben Sie in Ihrem Leben Entscheidungen zu treffen. Umso bedeutsamer solche Entscheidungen für Ihr Leben und Ihre Beziehungen sind, umso weniger werden Ihnen eher vernunftorientierte Listen des Für und Wider helfen. Bei der freiwilligen Entscheidung zwischen zwei Arbeitsstellen, der Auswahl des Restaurants für die Einladung zum Abendessen oder in anderen ähnlichen Situationen sind solche abwägenden Überlegungen nützlich und eine alltägliche Selbstverständlichkeit. Aber was ist, wenn Ja-Nein-Listen, Vorteil-Nachteil-Abwägungen und Kreuzchen im Multiple-Choice-Verfahren nicht weiterhelfen? Wenn Sie bei dem Satz »Du musst dich entscheiden!« den Krampf in Ihrem Magen, den Druck auf Ihrer Brust, die Last auf Ihrer Seele spüren und Ihr Herz zu zerreißen droht? Wenn die Antwort auf die Frage: »Wie soll ich mich entscheiden?«, heißt: »Ich kann mich nicht entscheiden«? Wenn Sie vielleicht auch noch die schmerzliche Erfahrung machen müssen, dass andere Menschen, selbst die Ihnen wohlwollenden, eher ungehalten auf Ihre Entscheidungsunfähigkeit in einer bestimmten Lebenssituation reagieren? Wenn Sie sich mit Selbstzweifeln und Versagensgefühlen plagen, weil sich über den konkreten Anlass hinaus, den es zu entscheiden gilt, in Ihnen das Selbstbild festgesetzt hat, dass Sie sich nie entscheiden können, immer und chronisch entscheidungsunfähig sind? Dann wird es wichtig sein, sich an eine innere Instanz anbinden zu können, die Orientierung gibt. Dann brauchen Sie einen würdigen und Ihre Persönlichkeit würdigenden Kompass auf dem Weg durch den Entscheidungsdschungel Ihres Lebens.
Wir teilen mit Ihnen die Sehnsucht und das Bestreben, unserem Leben eine Richtung zu geben, damit es für uns und die Menschen, die wir lieben, ein gutes Leben wird. Im Mittelalter verwendete man für »Richtung« das Wort »sin«, also das heutige »Sinn«. (In dem Begriff »Uhrzeigersinn« ist diese Bedeutung noch gebräuchlich.) Der Sinn, den wir unserem Leben geben, ist die Richtung, die wir einschlagen, mit jedem kleinen Schritt, jeder Entscheidung, jedem Handeln oder Unterlassen. Um eine Richtung einzuhalten oder die Richtung bewusst zu wechseln, brauchen wir einen Kompass. Heutzutage hat in Verkehrssituationen meist das Navigationsgerät den Kompass ersetzt, doch dieses taugt nicht als Bild der Orientierungshilfe im Leben. Sie brauchen keine genau beschriebene Wegstrecke durch Ihr Leben, in der alle Abzweigungen und Wege vorgezeichnet sind. Das ist etwas für Roboter, nicht für freie und selbstbestimmte Menschen. Es gibt keine Lebenswege, die vorgegeben sind, sondern nur solche, bei denen Sie immer neue Entscheidungen über die Richtung, die Sie einschlagen wollen, treffen müssen. Welche Richtung ist sinnvoll? Die Richtung, die den Weg entlang der Würde weist, Ihrer Würde – das ist unsere Antwort.
Ihre Würde entscheidet!
Der Kompass, der Ihnen diese Richtung anzeigt, ist Ihr Würde-Ich. Sie werden dieses Wort »Würde-Ich« nicht kennen. Wir haben es gewählt und mit vielen Menschen, die wir als Therapeut/-in, Ausbilder/-in, Supervisor/-in, einzeln und in Gruppen in ihren Wachstumsprozessen begleitet haben, erprobt. Vielen war dieser Begriff erst fremd – schließlich mussten wir ihn ja auch erst einmal finden als griffigen und resonanzfördernden Ausdruck dessen, was viele Aspekte von gelebter Würde zusammenfasst –, doch nach kurzer Zeit ein selbstverständlicher Lebensbegleiter. Ihr Würde-Ich ist Ihr Selbstwertkompass, den Sie in sich tragen, um für sich passende, stimmige und sinnvolle Entscheidungen fällen zu können.
Unsere 30-jährige Erfahrung im privaten und beruflichen Zusammenleben und im gemeinsamen Arbeiten mit anderen Menschen hat uns in unserem Menschenbild bestärkt, dass grundsätzlich jeder Mensch eine innere Instanz besitzt, die darauf angelegt ist, als Würde-Ich und Lebenskompass zu dienen. Bei vielen, so mussten wir dabei erfahren, wurde das Würde-Ich verschüttet und ist unter dem Geröll entwürdigender Erfahrungen, deren Zerstörungskraft uns beide immer wieder erschüttert, begraben. Manche ignorieren diese innere Instanz und leiden dann darunter, weil sie zu beschäftigt sind, Leistungen für andere zu erbringen oder fremde Bedürfnisse zu befriedigen, und sich dabei selbst aus den Augen und die Pflege ihres Würde-Ichs aus dem Bewusstsein verlieren. Wieder andere haben resigniert, weil sie zu wenig gewürdigt wurden und sich selbst zu wenig würdigen können. Sie alle, die das möchten, dabei zu unterstützen, ihr Würde-Ich als entscheidenden Lebensbegleiter zu finden und zu entwickeln, ist unser Anliegen.
Dieses Buch will ein Bewusstsein dafür schaffen, wie sehr die eigene Befindlichkeit mit der Verletzung von Würde im Alltag zu tun hat, mit Missachtung, Verachtung, Verrat, Lüge und Ähnlichem mehr. Es lädt zur Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung ein: Von wem und von was muss man sich abgrenzen oder fernhalten, vor wem oder was darf und muss man flüchten? Wen darf man verlassen und wen nicht im Stich lassen? Was will man, eigenwillig und eigensinnig, nicht mehr mitmachen? Wie kann man Beziehungen und Situationen verändern?
Wir werden in diesem Buch der Frage nachgehen, was »Würde« eigentlich bedeutet. Dass diese auch für Sie ein wichtiger Wert ist, entnehmen wir der Tatsache, dass Sie sich für die Beschäftigung mit diesem Thema entschieden haben. Und uns wird interessieren, wie Ihre Würde, sollte es so sein, an Beachtung verlieren konnte, wie Ihre Würde entwertet wurde. Denn ohne den gemeinsamen Blick mit Ihnen auf die »Monster der Entwürdigung«, deren Wirken und dessen Auswirkungen auf Ihr Leben, werden wir Sie nicht dabei unterstützen können, Ihr Würde-Ich so zu befreien, dass es groß und stark werden kann.
Auf diese und ähnliche Fragen werden wir Antworten geben, so gut wir es vermögen. Nicht jede Frage wird Sie interessieren und nicht jede Antwort wird auf Sie zutreffen oder für Sie nützlich sein. Bitte wählen Sie aus den zahlreichen Hinweisen und Vorschlägen diejenigen aus, von denen Sie beim Lesen spüren, dass sie Ihnen nützlich sind. Unser Anliegen ist es, Ihnen Anregungen zu geben, wie Sie Ihrer Würde den Stellenwert in Ihrem Leben geben können, der ihr gebührt, und wie Sie damit Ihr Selbstwertgefühl festigen oder steigern können. Auf dem Weg der Befreiung und Stärkung Ihres Würde-Ichs werden Sie diesen Lebenskompass nach und nach immer mehr nutzen können: als inneren Maßstab, um eine anstehende Entscheidung als einen Schritt auf dem Weg der Selbstachtung, der Würdigung und des Respektes vor sich selbst bewerten und treffen zu können. Würde ist keine Eigenschaft, über die ein Mensch endgültig verfügt. Würde ist eher ein Prozess: ein Prozess, gewürdigt zu werden und sich und andere zu würdigen.
Die Worte »Würde« und »Würde-Ich« enthalten eine Vielfalt von Aspekten, denen Sie in diesem Buch begegnen werden.
Ihre Würde entscheidet. Ihr Würde-Ich zu entdecken und zu nutzen, geht wahrscheinlich nicht an einem Tag, sondern braucht Zeit und auch etwas Mühe. Aber es kann Ihr Leben verändern, es vielleicht leichter, in jedem Fall aber wertvoller machen. Die Mühe lohnt sich. Nicht nur für Sie, sondern auch für die Menschen, die Sie lieben und mögen, denen Sie zugeneigt sind, für die Sie Verantwortung tragen, deren Würde und Eigensinn Ihnen wichtig sind. Das Würde-Ich in Aktion verändert die Welt. Zumindest unsere unmittelbare Lebensumwelt. Deshalb werden wir auch die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung des gelebten Würde-Ichs als Kompass für ein würdiges Zusammenleben von Menschen ansprechen. Würde ist ohne die Würde des anderen nicht lebbar.
Eva G.s1 Eltern kamen als Gastarbeiter, wie man sie damals nannte, in den 70er-Jahren nach Deutschland. Bald wurde Eva, freudig von ihnen begrüßt, geboren. Heute ist sie Anfang 40. Die Eltern wollten alles dafür tun, dass aus Eva »etwas wird«. Sie sollte es besser haben als sie. Dafür lebten sie. Also legten sie viel Wert darauf, dass Eva fleißig lernte und sich anstrengte, um gute schulische Leistungen zu erbringen. Wenn sie zwischenzeitlich immer mal wieder gesundheitlich schwächelte, galt es durchzuhalten, koste es, was es wolle. Alles andere hätte sie sich als Versagen angekreidet, so fest waren Leistung und schulischer Erfolg schon in ihrem kindlichen Selbstwertgefühl verankert. Sie bestand das Abitur, um den Preis großer Anstrengung. Spätestens seit der Schulzeit hatte sie wenig Zeit zum Spielen. Sie konnte ihre Pubertät kaum ausleben. Zumindest konnte sie sich in dieser Zeit keine »Verrücktheiten« erlauben oder über die Stränge schlagen, wie es zur Pubertät vieler Kinder gehört (oder zumindest gehören dürfen sollte). Sie war fleißig und tüchtig. Sie kümmerte sich nebenher um den Haushalt und um den kleineren Bruder, weniger dagegen um sich, ihre Bedürfnisse oder irgendwelche Hobbys. Einfach mal abhängen – das gab es nicht, zumindest nicht mit gutem Gewissen. Schule und Leistung, das bestimmte ihren Lebensalltag. Sie wollte es zu etwas bringen – ihren Eltern zuliebe und natürlich auch in ihrem eigenen Interesse. Bei den anderen Kindern hatte sie den Ruf einer Streberin. Auch wenn sie ihre Mitschüler/-innen in Klassenarbeiten abschreiben ließ und nicht aufmuckte, wenn sich andere mit ihren Lorbeeren schmückten, half dies nicht, beliebt zu werden. Die Lehrer/-innen schätzten sie, aber auch sie wurden nicht so richtig warm mit ihr.
Über Würde dachte sie nicht nach. Das unterschied sie nicht von anderen Gleichaltrigen, denen dieser Begriff sicher auch fremd war. Aber sie konnte auch nichts anfangen mit Begriffen wie Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl oder Minderwertigkeitsgefühl, von denen ihre Mitschülerinnen immer mal wieder sprachen. Sie hatte keinen Zugang, kein Gespür für diese Werteskala. Manchmal spürte sie Verletzungen, vor allem von Mitschülern und Mitschülerinnen. Oft nahm sie ein Unbehagen wahr, dem sie aber nicht nachging.
Mit dem Studium wurde eine Zeit lang alles anders. Sie studierte Maschinenbau und war berauscht von dem Leben an der Hochschule. Sie traf sich mit Kommilitonen und Kommilitoninnen und ging mehrmals mit zum Tanzen. Sehr schnell verliebte sie sich in einen Studenten und sofort wurde sie schwanger. Die Entscheidung, ihr Kind austragen zu wollen, stellte sie trotz einiger Stimmen, die dafür nur Unverständnis zeigten, nicht infrage. Sie heiratete und gab ihr Studium auf, um sich um das Kind und ihren Mann zu kümmern. Ihr Mann studierte weiter. »Irgendwann werde ich auch weiterstudieren«, dachte sie gelegentlich, aber über dieses Irgendwann gingen zehn Jahre dahin. Neben der Sorge um das Kind arbeitete sie viel. Sie jobbte in einem Laden um die Ecke und sie fertigte abends Übersetzungen an. Sie brauchten das Geld, denn ihr Mann studierte ja noch. Ja, er promovierte sogar.
Was es mit ihrer Würde auf sich hatte, mit der Richtung, die ihr Leben nahm, darüber dachte sie nicht nach. Das Leben war eben, wie es war. Sie erfreute sich an dem Kind, war müde von der Arbeit und den Anstrengungen des Alltags.
Dann kam ihre persönliche Katastrophe. Ihr Mann hatte nach seinem Studium und dem Abschluss seiner Promotion endlich einen tollen Job gefunden, alle Zeichen standen auf Erleichterung und Entspannung – da verließ er sie. Er warf ihr vor, nicht lebendig genug zu sein, zu wenig Spaß und Freude zu haben und ihm gegenüber zu zeigen. Alles war so, wie sie es schon tausendmal in Zeitschriften gelesen hatte und doch nie gedacht hätte, dass es sie betreffen könnte. Die Trennung erschütterte Eva G. Sie wusste, dass an dem Vorwurf etwas dran war, aber sie hatte doch alles für ihren Sohn Niklas und für ihren Mann getan. Sie war am Boden zerstört. Sie konnte tagelang nicht aufstehen, hatte ihre Kraft und ihre Lebensenergie verloren.
Die Erfahrung der Entwürdigung führte in die Krise. Sie musste erfahren, dass all ihre Bemühungen und Anstrengungen, alles gut zu machen, alle Leistungsbereitschaft und ihr Durchhaltevermögen nicht belohnt wurden. Sie hatte sich sicher gefühlt, ihre kleine Familie zusammenhalten zu können. Das hatte sich als trügerisch erwiesen. Ihre Mutter half ihr nun, den Lebensalltag zu bewältigen. Sie kümmerte sich um Eva G.s Sohn, aber in der psychischen Not konnte sie ihre Tochter gar nicht unterstützen. Im Gegenteil machte sie Eva auch noch Vorwürfe, dass sie es so lange mit diesem Mann ausgehalten hatte, dass sie ihn überhaupt geheiratet hatte: »Ich habe dir gleich gesagt, der taugt nichts. Und das war alles zu früh.«
Dann stellte sich auch noch zu ihrem Unglück heraus, dass ihr Mann bereits seit drei Jahren heimlich eine Freundin gehabt hatte. Sie fühlte sich verraten und verkauft, nicht nur wegen dieser Tatsache, sondern fast noch mehr, weil er sie in dem Glauben gelassen hatte, er habe sich wegen ihrer Eigenschaften von ihr getrennt. Sie spürte eine rasende Wut und gleichzeitig tiefen Schmerz und Trauer. Sie hatte zum ersten Mal eine bewusste Ahnung davon, was Würde bedeutet, weil sie die Schläge der Entwürdigung spürte, so wie ein Mensch manchmal seine Haut erst bewusst durch den Schmerz einer Brandwunde spürt.
Sie kam nach einem massiven Kreislaufzusammenbruch ins Krankenhaus und anschließend in eine Rehabilitationsmaßnahme. Dort wurde sie von ihrer betreuenden Ärztin und Therapeutin, die sich offensichtlich auf psychosomatische Zusammenhänge und deren subjektiven Auswirkungen auf die einzelnen Menschen verstand, oft gefragt, wie es ihr gehe, nicht nur im medizinischen Sinne. Eva G.s Antworten wiederholten sich in ihrem Sinngehalt mit immer abwechselnden Worten: Gekränkt. Verraten. Verletzt. Erniedrigt. Wertlos. Würdelos. Den Verlust ihrer Würde spürte sie, aber sie war erschrocken darüber, dass sie keine Vorstellung davon hatte, was Würde für sie bedeuten könnte. Die lebenslang bekannte Anstrengung war nun in ihr zusammengebrochen und sie mit ihr, aber was sie stattdessen als Lebensgefühl anstrebte, was sie stattdessen ersehnte, wusste sie nicht. Da war erst einmal nichts.
Die Ärztin/Therapeutin fragte: »Wie spüren Sie die Verletzung Ihrer Würde körperlich? Wo ist der Ort für das Empfinden Ihres Würdeverlustes?«
»Da … an der Stelle unter dem Herzen.«
»Was ist dort?«
»Eigentlich nichts … ein Loch.«
»Was sollte dort sein?«
Eva G. überlegte lange. »Eigentlich etwas Wertvolles.«
»Wenn Sie mal eine Hand auf diese Stelle legen: Was spüren Sie dann? Was fällt Ihnen dann ein?«
»Dass da eigentlich kein Loch ist, sondern eher so etwas wie … ein kleiner Stein.«
»Bitte beschreiben Sie mir den kleinen Stein. Ist er eher schwer oder leicht? Welche Farbe hat er? Wie erscheint er Ihnen jetzt gerade, wenn Sie ihn mit Ihrem inneren Auge betrachten?«
»Es ist ein kleiner roher, grauer Stein … Wenn ich ihm Aufmerksamkeit schenke, dann glaube ich – ich traue es mich kaum zu sagen –, dass darin ein Diamant versteckt ist. Ja, mein Stein ist ein roher Diamant, der geschliffen werden muss. Nein, ›muss‹ gefällt mir nicht. Eher: geschliffen werden darf.«
»Wenn ich noch mal auf den Anfang unseres Gespräches zurückkommen darf: Könnte es sein, dass unter Ihrem Herzen nicht ›nichts‹ ist, sondern ein Diamant? Dass da Ihr Gespür für Ihre Würde, Ihr Selbstwertgefühl seinen Platz hat? Dass Sie dort einen Diamanten der Würde in sich tragen?«
Diese Frage rührte Eva G. zu Tränen, zu traurig-glücklichen Tränen, wie sie sagte. Sie fand diese Entdeckung großartig und erfreute sich an ihr. Sie hatte einen Zugang zu ihrer Würde entdeckt.
Für Eva G. wurde ihr Diamant zu einem Symbol für das, was wir Würde-Ich nennen. In ihrem Stein fand sie ihr Symbol für Würde, den Repräsentanten ihrer Würde, den sie als Hilfe bei der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen nutzen konnte.
Sie hatte auf ihrem Weg aus der Krise zahlreiche Entscheidungen zu treffen. Sie fragte sich: »Will ich in der Wohnung bleiben, die ich mit meinem Sohn und meinem Mann zusammen bewohnt habe? Eigentlich ist es dort gut. Mein Sohn geht in der Nähe zur Schule. Aber andererseits erinnert mich so vieles an die Ehezeit und diese Erinnerungen halte ich eigentlich nicht aus …« Mithilfe ihres Würde-Ichs fand sie dann zu ihrer eindeutigen Antwort: Sie wollte in eine neue Wohnung ziehen, die sie selbst mit ihrem Sohn neu gestalten und prägen konnte. Glücklicherweise fand sich eine im vertrauten Stadtteil.
Dann musste sie entscheiden, wie sie die Kontakte mit ihrem Ex-Mann gestalten sollte. Dass eine Scheidung anstand, war klar. Doch nun ging es um das Kind. Um das Sorgerecht und all die Regelungen und Absprachen, die im Alltag notwendig waren. Sie wollte ihrem Kind den Vater nicht wegnehmen, aber sie selbst fühlte sich bei jeder Begegnung verletzt. Wieder fragte sie ihr Würde-Ich. Sie bekam keine eindeutige Antwort, sondern eine, die ein Sowohl-als-auch beinhaltete. Die Antwort war: So wenig Kontakt wie möglich mit diesem Mann, und wenn nötig, dann so sachlich wie möglich. Sie organisierte die Begegnungen mit ihrem Ex-Mann so, dass sie sich nur um das Kind drehten und ansonsten alles Persönliche und Private außen vor blieb. Jeder Kontakt schmerzte sie, riss die Wunde der Entwürdigung wieder auf. Doch die Einschränkung auf das Nötigste und die Fokussierung auf das Wohlergehen ihres Sohnes halfen ihr, den Schmerz erträglich zu halten.
Sie verlor nach und nach viel von ihrer Strenge sich selbst gegenüber und ihrer anstrengenden Grundanspannung. Sie achtete mehr darauf, das zu tun, worauf sie Lust hatte. Allein oder mit ihrem Kind. Sie begann einen Tanzkurs und entschied sich, Salsa ausgiebiger zu lernen. Das tat ihrer Seele und ihrem Körper gut und ermöglichte ihr neue Kontakte, aus denen Freundschaften entstanden.
Der Prozess, in dem Eva G. ihr Würde-Ich entdeckte, war lang und führte in ihrem Fall durch schmerzliche Krisen. Aber ihr erstarkendes Würde-Ich half ihr bei der Orientierung und vor allem bei der Differenzierung, mit welchen Menschen sie nähere Beziehungen eingehen wollte und mit welchen nicht. Es veränderte ihre Haltung. Ihre Haltung sich selbst und anderen Menschen gegenüber: Ich bin etwas wert. Nicht nur, wenn ich viel leiste und mich aufopfere. Ich kann mich würdigen und andere würdigen und darauf achten, ob ich von anderen gewürdigt werde.
Was bedeutet eigentlich »Würde«?
Bevor wir uns mit der Rolle der Würde und dem Würde-Ich in Ihrem und unserem Lebensalltag beschäftigen, erscheint es uns wichtig und richtig, uns damit zu beschäftigen, was wir unter Würde verstehen – und was nicht.
Eins ist sicher: Nicht alle Menschen haben die gleiche Vorstellung von Würde.
Viele Menschen verbinden mit Würde eine würdevolle, oft königlich genannte Haltung. Sie verbinden damit Menschen, die aufrecht stehen oder gerade sitzen, die sich anderen gegenüber gleichzeitig respektvoll zugewandt, dennoch eher distanziert und huldvoll zeigen, manchmal ein wenig von oben herab, und so Respekt quasi selbstverständlich einfordern. Keine Frage: Eine solche Haltung, eine solche Ausstrahlung, kann ein Aspekt von Würde sein. Doch sie alleine ist nicht ausreichend zur Kennzeichnung dessen, was Würde ist. Denn allzu oft ist eine solche Haltung Schein, ist sie eine Pose, die Menschen einnehmen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.
Ein anderer Aspekt, der der Würde oft zugeordnet wird, ist die Ausstrahlung von Würde, die durch ein Amt erfolgt. Die britische Königin Elisabeth II. repräsentiert seit Jahrzehnten die Würde ihres Amtes als Monarchin des Commonwealth of Nations. Auch das Amt des deutschen Bundespräsidenten ist ein Amt, das Würde erfordert und Würde ausstrahlt. Zumindest ausstrahlen sollte. Doch wahrhaftig nicht allen Amtsinhabern gelingt es, unseren Respekt für ihre Haltung, ihr Verhalten und ihre Ausstrahlung zu gewinnen. Beispielhaft möchten wir hier nur zwei Menschen nennen, denen es nicht gelang und gelingt, die Würde des Amtes zu leben: der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke und der heutige Präsident der USA Donald Trump. Beide fallen uns ein als Verkörperung von Amtsträgern, die ihre eigene Würde und die der anderen verletzt oder sogar mit Füßen getreten haben bzw. treten. Bundespräsident Heinrich Lübke trat – sehr freundlich ausgedrückt – in so viele Fettnäpfchen, dass er für die meisten im In- und Ausland eher zu einer lächerlichen, würdelosen Figur wurde, als dass sein Amt und seine Amtsführung Würde ausstrahlten. Sein Mangel an Würde bewirkte bei manchen Menschen, die von ihm von Amts wegen repräsentiert wurden und die ein Gespür für Würde hatten, oft ein tiefes Schamgefühl. Und was Donald Trump anbetrifft, so spottet er in Bezug auf Würde jeder Beschreibung. Unser Erschrecken darüber, wie er Menschen entwürdigt, erniedrigt, demütigt, sie beleidigt, ihnen Leid zufügt, wird nur noch getoppt von dem Erschrecken, wie viele Menschen dies zulassen bzw. begrüßen und bejubeln. Wurde Trump zuerst mit seinen entwürdigenden Worten und Haltungen im Wahlkampf nicht gebührend als gefährlich wahr- und ernst genommen, so keimte nach seiner Wahl bei vielen Menschen die Hoffnung auf, dass die Achtung vor dem Präsidentenamt ihn Würde lehren würde. Diese Hoffnung wurde leider enttäuscht und diese bittere Wahrheit hat Auswirkungen auf das Weltgeschehen und für viele Menschen auch katastrophale persönliche Konsequenzen.
Tatsache ist: Ein Amt allein gebiert keine Würde, es muss der Mensch sein, der es, sich würdevoll und würdigend verhaltend, ausfüllt. Auch sogenannte Würdenträger können sich entwürdigend verhalten, auch ein »Hochwürden« kann Menschen erniedrigen und deren Würde mit Füßen treten. Nach all unseren Erfahrungen sind wir der festen Überzeugung, dass eine wahrhaftige würdevolle Ausstrahlung weder eine angeborene noch eine von Amts wegen übertragene Eigenschaft ist oder sein kann, sondern eher das Ergebnis von würdigenden Erfahrungen im Austausch zwischen den Menschen und einer würdigenden Haltung sich selbst und den anderen gegenüber. Eine würdevolle Ausstrahlung ist verdichteter Ausdruck würdigender Beziehungserfahrungen.
Vielleicht fallen Ihnen einige Personen ein, die für Sie Würde verkörpern? Die ihre ganz eigene, vielleicht unorthodoxe Art haben, Würde auszustrahlen? Lassen Sie sich von Ihren Einfällen überraschen: Sie müssen diese Menschen nicht in all ihren Facetten mögen, müssen nicht all ihre Meinungen oder Weltanschauungen teilen. Sie müssen sie nicht einmal näher kennen, um sie in ihrer Würde zu würdigen. Ebenso gut kann es aber auch ganz unspektakulär ein Mensch aus Ihrer näheren oder ganz nahen Umgebung sein, der trotz oder sogar gerade mit all seinen Unzulänglichkeiten für Sie ein Sinnbild von Würde ist und in Ihren Augen ein würdevolles Leben lebt.
Nähern wir uns der Würde noch von anderer Seite und schauen wir uns zunächst den ursprünglichen Wortgehalt an. Das Wort »Würde« leitet sich her vom althochdeutschen Wort »wirdī« mit der Bedeutung »Wert, Ansehen, Verdienst«. Würde wird also Menschen zugemessen, die voller Wert für andere sind.
In der heutigen Zeit denken viele Menschen an Geld und Preise, wenn sie den Wert einer Sache, eines Kunstwerkes oder selbst eines Menschen in Augenschein nehmen und bemessen. Doch diese Art der Bewertung hat nichts mit Würde, vor allem nicht mit Menschenwürde zu tun, sondern mit ihrem Gegenteil, der Entwürdigung. Wie viel ist ein Mädchen oder eine Frau geldwert, die von Menschenhändlern verraten und verkauft wird? Wie viel unseres Glücks und unserer Lebenszeit ist es wert, dass wir unser Einkommen erhöhen? Wie absurd hoch mutet der Tauschwert von Fußballern an und erregt so immer wieder die Gemüter von uns Normalverdienern? Wie hoch ist der Preis für ihre Behandlung als Objekt, als Material?
Menschen nach ihrem Tauschwert zu bemessen, sie als Geldanlage oder als Vermögenswert zu betrachten und zu behandeln, ist prinzipiell der Versuch, sie zu entwerten und zu entwürdigen. Wir sprechen bewusst von einem Versuch der Entwürdigung, denn wir haben weder Grund noch Erlaubnis, an der persönlichen Würde der Opfer dieser Entwürdigungsversuche zu zweifeln.
Dass Menschen ihr Wert als Mensch abgesprochen wird, dass sie als unwürdiges und unwertes Leben missachtet und existenziell bedroht werden, ist Kern des Menschenbildes, das Kriege, Gewalt und Vergewaltigungen, Terror und Vernichtung von »unwertem Leben« in welcher ideologischen Verbrämung auch immer auf seine Fahne geschrieben hat. Wir haben damit in unserer Geschichte leidbringende und leidvolle Erfahrungen gemacht, und viele, entsetzlich viele Menschen müssen sie auch heute noch jeden Tag machen. Wer Menschen hemmungslos misshandeln und töten soll, darf sie nicht mehr als Menschen betrachten, muss das Prinzip der unantastbaren Würde im wahrsten Sinne des Wortes außer Gefecht setzen.
Wenden wir uns nun zwei anderen Aspekten der Würde zu, denen, die der Bedeutung des Wertes eines Menschen würdig sind. Der erste besteht darin, dass der Mensch einen Wert hat allein deshalb, weil er ein Mensch ist. Der Philosoph Immanuel Kant schrieb schon 1797: »Achtung, die ich für andere trage, oder die ein anderer von mir fordern kann, ist also die Anerkennung einer Würde an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung ausgetauscht werden könnte.«1 Anders ausgedrückt: Die Würde des Menschen ist gegen nichts austauschbar.
Würde ist ein Menschenrecht. Jeder Mensch ist es wert, die Menschenrechte innezuhaben, weil er ein Mensch ist. Dafür brauchen Sie und jede und jeder Einzelne nichts zu tun, brauchen Sie und wir alle nichts zu leisten. Darum müssen Sie und wir Menschen generell uns nicht bemühen. Das ist unser Recht. Es steht uns zu. Auch wenn es oft gebrochen wird. Es ist Ihr und unser aller genereller Wert in unserem Sein als Mensch, der uns das Anrecht auf Würde gibt und darauf, die Menschenrechte würdig leben zu dürfen. »Jeder Mensch, egal wer er ist oder wie heruntergekommen er sein mag, erwartet instinktiv oder im Unterbewusstsein, dass man Respekt für seine Menschenwürde aufbringt.«2
Der zweite Aspekt bezieht sich auf den spezifischen Wert eines Menschen, auf die persönlichen Bestandteile seiner Würde. Ihr individueller Wert ist in Ihrem Leben gewachsen. Er setzt sich aus all Ihren Erfahrungen, Ihrem Engagement, aus Ihrem Lächeln und so vielem mehr zusammen. Er ist nicht messbar, wie Geld oder Leistungen messbar sind. Ihre persönliche Würde besteht in all Ihren Fähigkeiten und Kostbarkeiten und verdient es, geschätzt und gewürdigt zu werden.
Damit sind wir bei einer weiteren wichtigen Annäherung an das, was wir bedeutsam finden bei dem Wunsch, den Begriff der Würde mit Leben zu füllen. Wir schenken nicht nur dem Substantiv »Würde« unsere Aufmerksamkeit, sondern legen besondere Betonung auf das Verb »würdigen«. Damit Ihre Würde wachsen kann, müssen Sie von anderen Menschen gewürdigt werden. Damit Sie würdigende und würdevolle Beziehungen entwickeln können, ist es unabdingbar, dass Sie andere Menschen in ihren Werten und ihren Kostbarkeiten würdigen. Würde entsteht aus Würdigen. Würde ist kein Zustand, sondern vor allem ein Prozess. Ihren Wert finden Sie nicht in Ihrem Ausweis und können ihn nicht auf der Waage messen. Ihren Wert finden Sie in Ihren Beziehungen zu sich und anderen Menschen. Ihr Wert existiert im Würdigen und im Gewürdigt-Werden. Die Würde als Naturrecht auf Würdigung, die sich in den Menschenrechten ausdrückt, ist nichts wert, wenn sie nicht in würdigenden Begegnungen und Beziehungen gelebt wird. »Seiner eigenen Würde gibt Ausdruck, wer die Würde anderer Menschen respektiert.«3
Das Würde-Ich ist zum einen der Ausdruck dieses Prozesses des Würdigens und wächst mit jeder neuen würdigen und würdigenden Erfahrung. Zum anderen ist es eine innere Instanz, die Sie fragen und ansprechen können und die Sie dabei unterstützt, Ihre Würde im Alltag zu leben.
Genaueres zum Würde-Ich und seiner Funktion als Kompass durch Ihr Leben im folgenden Interview.
A: Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich zu einem Gespräch bereit erklärt haben. Sie gelten als eine sehr schillernde Person …
Würde-Ich (schmunzelnd): Was verstehen Sie unter schillernd?
Nun ja, zunächst einmal … eben schillernd. Ein bisschen geheimnisvoll vielleicht, ohne verschlossen zu sein. Irgendwie unkonventionell und dennoch selbstverständlich. Man schätzt, soweit wir es gehört haben, Ihre hohe Bereitschaft, für diejenigen da zu sein, die sich dazu entschieden haben, ihr Leben entlang der Würde leben zu wollen. Für diejenigen, die Sie als Kompass gewählt haben und die Ihre selbstbewusste, undogmatische Art schätzen gelernt haben. Auf jeden Fall, das können wir hiermit schon einmal feststellen, heißt schillernd auch herausfordernd – so, wie Sie uns jetzt schon ans Arbeiten bekommen haben …
Ja (amüsiert), da haben Sie recht. Ein bisschen Mühe muss man sich schon geben, wenn man mich kennenlernen will. Das ist nur gerecht, finde ich. Denn es hat mich ja auch Mühe gekostet, so zu werden, wie ich nun bin.
Das führt uns zu den nächsten Fragen, die mit Ihrer Kindheit zu tun haben: In welche Umgebung oder welche Lebensumstände wurden Sie hineingeboren?
Ich bin in der Selbstgewissheit groß geworden, dass ich die Anlage und die Fähigkeit dazu habe, unserem Familiennamen »Würde« Ehre zu machen. Wenn ich einer Person als Werte-Kompass in ihrem Leben diene, stärke ich ihre Würde. Natürlich nur dann, wenn ich als Würde-Ich von einem Menschen angefragt werde und in seinem Inneren einen Platz einnehmen und heranreifen darf.
Meine Geburtsstunde ist dann, wenn ein Mensch zum ersten Mal gewürdigt wird, denn dann kann oder könnte er seine Würde spüren. Gewürdigt zu werden, erfahren die meisten Menschen bereits dann, wenn sie sehr klein sind. Das spüren sie, können es aber noch nicht bewusst registrieren. Und doch, das weiß ich, es macht etwas mit mir – es bringt mich ins Leben, auch wenn mein Mensch, in dem ich wohne, anfangs vielleicht noch keine Worte dafür hat.
Wie wachsen Sie auf? Wie reifen Sie heran, wie Sie es nannten?
Mein Wachstum erfolgt durch Erfahrungen mit Würdigung und Entwürdigung. Wenn ich spüre, dass die Würde meines Menschen verletzt wird, dann schmerzt mich das und ich kann dem, der um mich weiß, über das Leid und über die Not, die er spürt, signalisieren, dass mir Schaden zugefügt wird. Lieber ist es mir, ich reife heran, indem mein Mensch mich als Kompass nutzt, um den eigenen Weg der Würde zu gehen. Auch wenn er, wie die meisten, vielleicht kaum Worte für mich hat: Spürt er mich als Orientierung im Leben, unterstützt das mein Wachstum.
Was brauchen Sie als Nahrung, um stärker zu werden?
Ich brauche Menschen, die mich respektieren. Jede Erfahrung, die mich würdigt und ernst nimmt, ist für mich Nahrung und verstärkt meine Wirkung. Aber auch anderen Menschen würdigend begegnen zu können, ist hilfreich und unterstützend und bereichert mich.
Ich brauche wie jeder gute Vorbilder. Menschen mit ausgereiftem Würde-Ich, die sich respektieren und die die anderen respektieren. Vorbilder der Würde, die nicht nur Würde ausstrahlen, sondern auch würdigend handeln. Solche Vorbilder sind wie Kraftnahrung für mich.
Sie sind das Würde-Ich. Gibt es noch andere »Ichs«? Vielleicht auch solche, die mit Ihnen konkurrieren?
Ja, ich habe einige Konkurrenten, die oft nicht genau voneinander zu trennen sind. Ich möchte unterscheiden zwischen denjenigen, die meine Bemühungen, als Würde-Ich in Erscheinung zu treten, gleich im Keim ersticken oder alles tun, mich zu zerstören, und denjenigen Instanzen, die im guten Sinne des Wortes Konkurrenten sind. Denn wie Sie vielleicht wissen, stammt das Wort aus dem Lateinischen: »con« heißt »mit« – und nicht »gegen« – und »currere« bedeutet »laufen«. Ich mag das Bild, mit einigen anderen Instanzen »mitzulaufen«, sie als meine Begleiterinnen zu sehen.
Ein großer Konkurrent ist das Vernunft-Ich, das eine gute und eine hinderliche Seite hat. Es gibt Menschen, in denen hat sich das Vernunft-Ich so breitgemacht, dass sie alles über die Vernunft regeln wollen. Sie schließen jedes Spüren, jedes Empfinden aus, was ihre Würde anbetrifft. Sie schließen mich, das Würde-Ich, aus. Oft machen sie sich dadurch taub gegenüber den Verletzungen, die sie erfahren haben, insbesondere den Entwürdigungen. Wenn das Vernunft-Ich zu mächtig wird, spiele ich fast keine Rolle mehr. Ich dagegen will nicht ausschließen! Meiner Erfahrung nach brauchen wir unsere Begleiter. Wir können gute Kollegen/Kolleginnen, Freunde/Freundinnen oder Nachbarn/Nachbarinnen sein, wenn wir ohne Feindseligkeit zusammen in einer Person existieren und ihre Einzigartigkeit würdigen.
Das Vernunft-Ich tritt oft in Form des Strichlisten-Ichs auf. Viele Menschen haben gelernt, dass sie Strichlisten führen müssen, wenn es um Entscheidungsfindungen geht. Was spricht dafür? Was spricht dagegen? Ich will absolut nicht abstreiten, dass das manchmal nützlich sein kann, aber: Vorsicht! Dieses Strichlisten-Ich hat es an sich, dass es sich expansiv ausbreitet und alle Entscheidungen, auch die, die nicht mit Ja oder Nein zu lösen sind, dominieren will. Dann scheitert es bzw. die Person, die dieser Instanz zu viel Macht über sich gegeben hat. Bei den wirklich wichtigen Fragen des Lebens ist es aber entscheidend, dass die Menschen mich, also ihr Würde-Ich, beachten und mich als Kompass für Entscheidungen und für würdiges Verhalten nutzen.
Dann fällt mir als Konkurrent auch noch das Ich-gehe-über-alles-hinweg-Ich ein. Es drängt sich in den Vordergrund bei Menschen, die gar nichts mehr spüren wollen und können, aus welchen Gründen auch immer. Ich weiß, dass es meist mit schlimmen Erfahrungen zu tun hat, wenn dieses Ich sie in ihren Fängen hat. Manchmal spüren sie den Impuls, sich entlang ihrer Würde für dies oder das zu entscheiden, nur für einen kurzen, flüchtigen Moment und gehen darüber hinweg. Manchmal folgen sie, wie gesagt, dem Vernunft-Ich statt meiner. Oft aber beachten sie irgendwie gar nichts, haben keinen Kompass und treffen gar keine Entscheidungen, resignieren und richten sich dauerhaft darin ein, dass andere über sie entscheiden. Dieses Ich-gehe-über-alles-hinweg-Ich ist wirklich ein schlimmer Gegenspieler. Denn es ignoriert mich und es macht die Menschen krank.
Noch einen anderen Konkurrenten darf ich nicht vergessen: das Die-andere-Person-ist-mehr-wert-als-ich-Ich. Was mich daran besonders traurig macht, ist, dass dieses Ich oft den Menschen innewohnt, die meinem Empfinden nach allen Grund hätten, sich wertvoll zu fühlen. Menschen, die Mitgefühl haben, sich um andere kümmern, fürsorglich, liebe- und verantwortungsvoll sind – und damit meistens in ihrer Lebensgeschichte nicht genug gewürdigt, eher sogar ausgenutzt worden sind. Sie haben oft ein sehr feines Gespür für das, was Würde und Würdigen bedeutet. Meine Aufgabe als Würde-Ich sehe ich darin, sie zu unterstützen, sich nicht missbrauchen zu lassen, sich nicht selbst zu vergessen, sich nicht in der Entscheidung für andere zu verlieren, sondern sich selbst gerade in wichtigen Lebens- und Beziehungsentscheidungen ebenso zu würdigen wie die anderen Menschen.
Wovor haben Sie Angst? Oder kennen Sie dieses Gefühl gar nicht?
Wo denken Sie hin! Natürlich kenne ich Angst, sogar, um ehrlich zu sein, existenzielle Angst. Ich habe vor allem Angst davor, dass sich Menschen in der Entwürdigung einrichten. Wenn sie etwa die Signale, dass es um Würde geht, nicht ernst nehmen! Zum Beispiel das Grummeln im Bauch, den Herzschmerz, die Wut, das Verstummen oder die Verzweiflung nach einer Begegnung mit einer anderen Person. Oder das schlechte Gewissen, das sich permanent als Dauergast eingenistet hat und keine Entscheidung mehr zulässt, ob es sich zu Recht meldet oder nicht. Und die Schuldgefühle ohne Schuld. Oder das Unbehagen, die Erregung, die nicht gehen will, usw. Dann werde ich nicht gefragt, sondern ignoriert. Ich versuche natürlich, mich trotzdem bemerkbar zu machen, denn ob Sie es glauben oder nicht, ich bin schon sehr kämpferisch. Aber ich muss auch damit leben, dass ich von manchen Menschen nicht gewollt bin, dass ich, zumindest für den Moment, verloren habe. Wenn ich mit allen meinen Aktivitäten ins Leere gehe, ziehe ich mich in eine Nische zurück – bereit, jede Gelegenheit zu nutzen, um wieder zum Vorschein zu kommen. Das ist meine Art, meiner Angst zu begegnen.
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die gar nicht wissen und leider oft auch gar nicht wissen wollen, was Würde ist. Die verhärtet, gefühllos, verachtend und mitleidslos sich selbst und anderen gegenüber sind. Denen gilt meine größte Angst, denn sie bedrohen meine Existenz und schaden damit vielen Menschen, vielen Würde-Ichs, besonders den ihnen anvertrauten. Die etwas mildere oder sagen wir besser unauffälligere Art, mich in meiner Existenz und Wirksamkeit zu bedrohen, ist die, Würde nur in Sonntagsreden und Floskeln als abstrakten Wert zu beschwören und ihr gar keine Bedeutung für den einzelnen Menschen, das Zusammenleben und den Alltag zu geben. Dann versuche ich mich so laut und deutlich bemerkbar zu machen, wie es geht. Ich fördere den Widerspruchsgeist meines Menschen, sein Unwohlsein, mache mich bemerkbar, auch wenn ich damit riskiere, in dem Moment nicht besonders gemocht zu werden. Ich versuche, ihn aufmerksam zu machen und auf die Gefahr hinzuweisen, dass gerade eine fast unmerkliche Würdeverletzung stattfindet. Ich appelliere an seine Solidarität, mich darin zu verteidigen, dass es die Würde im Alltag gibt und geben muss und dass ich als Würde-Ich im Alltag, im Zusammenleben der Menschen, ein Kompass sein kann und sein muss. Dass mir das nicht gelingt – davor habe ich Angst.
Wir haben gehört, dass Sie Doppelgänger haben?
Na ja, Doppelgänger stimmt nicht ganz. Sie spielen wahrscheinlich mit Ihrer Frage darauf an, dass Menschen oft versuchen, mich mit verschiedenen Begriffen zu verstehen und zu begreifen. Sie sprechen von Selbstachtung und Selbstwertgefühl, davon, dass Würde und sich würdigen heißt, sich zu respektieren und sich aufzurichten, ja überhaupt sich selbst wahrzunehmen und sich ernst zu nehmen. Das alles sind ohne Zweifel verschiedene Facetten meiner selbst. Wahrscheinlich ist es das, was Sie dazu bewogen hat, mich zu Beginn unseres Gespräches als schillernd zu bezeichnen? Ich bin all das – und ich bin mehr als das. Mein vollständiger Name lautet deshalb ja auch Achtung Wertschätzung Selbstbewusstsein Selbstwertgefühl Eigensinn Respekt Empathie Würde.
Wir danken Ihnen für dieses Gespräch!
Das Würde-Ich hat im Interview seine Vielfältigkeit betont, die auch in seinem Namen zum Ausdruck kommt. Es umfasst all diese Aspekte nach innen und nach außen. Sie werden dieser Vielfalt in den Kapiteln dieses Buches begegnen. Im Bild eines Fächers haben wir die unterschiedlichen Aspekte des Würde-Ichs zusammenfassend strukturiert, eine Illustration mit Beschreibung finden Sie im letzten Kapitel »Im Überblick: Der Fächer des Würde-Ichs«.
Das Würde-Ich ist der Fächer und es ist mehr als das. Es ist eine Instanz, die Sie fragen und nutzen können als Kompass durch Ihr Leben.
Kein Mensch entscheidet allein aus sich, aus seiner inneren Instanz heraus: »Meine Würde zählt nicht. Meine Würde ist für mich unwichtig.« Jeder Mensch hat nicht nur das Recht auf das Gefühl der eigenen Würde, weil er ein Mensch ist, sondern auch das Recht und die Fähigkeit der Selbstwertschätzung, der Würdigung seiner selbst mit all seinen Fähigkeiten und sonstigen Kostbarkeiten. Doch wir begegnen vielen Menschen, denen das Bewusstsein für die eigene Würde verloren gegangen ist. Wenn wir mit ihnen gemeinsam auf die Suche gehen, wie das passieren konnte, dann begegnen wir immer entwürdigenden Erfahrungen, die sie mit anderen Menschen machen mussten, Erfahrungen, die sie gelehrt haben, dass ihre Würde nicht zählt. Wir haben diese Erfahrungen zu dem Modell der »Vier Monster der Entwürdigung« zusammengefasst, das wir Ihnen hier vorstellen wollen.
Dass die offene, »laute« Gewalt der Schläge und Schreie entwürdigt, steht außer Frage. Menschen, die Gewalt ertragen mussten, sind in ihrer Würde verletzt. Uns begegnen immer wieder Menschen, die als Kinder geschlagen worden sind. Vor allem ältere Menschen, zu deren Alltag Prügelerfahrungen gehörten, meinen: »Das war damals so. Das gehörte dazu. Die Eltern kannten es nicht anders.« Vielen mögen solche Erfahrungen im Rückblick wie selbstverständlich erscheinen, anderen nicht. Manche leiden offen und manche versteckt unter den Folgen, teilweise ihr Leben lang.
Lebenslange Folgen haben auch die Menschen zu tragen, die Opfer sexueller Gewalt und Machtmissbrauchs geworden sind. Wenn Menschen als Objekte behandelt werden, muss das ihr Selbstwertgefühl verletzen und Folgen haben. Um ein Gefühl für Werte zu entwickeln, brauchen wir Menschen ein grundlegendes Vertrauen in andere Menschen. Wenn dieses Vertrauen durch die Erfahrung von Gewalt zerstört und durch das Erleben des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht ersetzt wird – wie soll da Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl selbstverständlich entstehen, bestehen und wachsen können?
Viele Menschen, die in ihrem Leben Gewalt erleben mussten, kämpfen auf ihre Art und Weise um ihre Würde, oft um den Preis einer lebenslangen Anstrengung. Es ist ein mühevoller Weg, sich der eigenen Würde und des Rechts auf Unverletzlichkeit bewusst zu werden und dafür einzutreten. Diese Menschen brauchen ein Bewusstsein ihres Würde-Ichs und die Achtung, den Respekt und die Solidarität anderer, damit dies gut gelingen kann.
Neben der beschriebenen offenen, lauten Gewalt gibt es Erfahrungen stiller Gewalt. Darunter verstehen wir Begegnungen zwischen Menschen, die nicht so offensichtlich als gewalttätig identifiziert werden können, aber ähnliche Wirkungen haben wie die laute Gewalt. Dazu kann die kalte Stimme zählen, mit der die Großmutter sagt: »Na, was hast du denn wieder angestellt!«, nachdem das Kind sich verletzt hat und nun statt Trost nur Abwertung erfährt. Oder der strafende und verachtende Blick der Chefin, der die Mitarbeiterin mit aller Macht im Innersten trifft. Oder gar die ganz subtile Gewalt, die mit der offenen Gewalt einhergeht und an Perfidie nicht zu überbieten ist. Unter ihr leiden besonders Menschen, die Opfer sexueller Gewalt in der Familie geworden sind, speziell wenn dies schon im Kindesalter geschah. In ihrem Inneren mischen sich die Erfahrung der Gewalt mit dem Appell an die kindliche Liebe und Loyalität.
Ob laut oder still, jede Gewalterfahrung ist ein Gesicht der Monster der Entwürdigung. Wir alle müssen ihnen, ob es uns selbst oder unsere Mitmenschen betrifft, besondere Aufmerksamkeit schenken, weil wir uns nur dann gegen sie wehren und für die Würde eintreten können.