Über den Autor
Hinter dem Namen Erin Hunter verbirgt sich ein ganzes Team von Autorinnen. Gemeinsam konzipieren und schreiben sie die erfolgreichen Tierfantasy-Reihen WARRIOR CATS, SEEKERS, SURVIVOR DOGS und BRAVELANDS.
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74968-0 Print (Taschenbuch)
ISBN 978-3-407-81202-5 Print (Hardcover)
ISBN 978-3-407-74563-7 E-Book (EPUB)
© 2019 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
© 2013 Working Partners Limited
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Warriors, Dawn of the Clans, Thunder rising bei HarperCollins Children’s Books, New York
Übersetzung: Anja Hansen-Schmidt
Lektorat: Ruth Speil
Einbandgestaltung: © Johannes Wiebel, punchdesign, München
Wort-Bild-Marke: © Hauptmann & Kompanie, München
Landkarte: © Gary Chalk
Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza
Printed in Germany
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Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln
finden Sie unter: www.beltz.de
Besonderen Dank an Cherith Baldry
Staffel I
In die Wildnis (Bd. 1)
Feuer und Eis (Bd. 2)
Geheimnis des Waldes (Bd. 3)
Vor dem Sturm (Bd. 4)
Gefährliche Spuren (Bd. 5)
Stunde der Finsternis (Bd. 6)
Staffel II – Die neue Prophezeiung
Mitternacht (Bd. 1)
Mondschein (Bd. 2)
Morgenröte (Bd. 3)
Sternenglanz (Bd. 4)
Dämmerung (Bd. 5)
Sonnenuntergang (Bd. 6)
Staffel III – Die Macht der drei
Der geheime Blick (Bd. 1)
Fluss der Finsternis (Bd. 2)
Verbannt (Bd. 3)
Zeit der Dunkelheit (Bd. 4)
Lange Schatten (Bd. 5)
Sonnenaufgang (Bd. 6)
Staffel IV – Zeichen der Sterne
Der vierte Schüler (Bd. 1)
Fernes Echo (Bd. 2)
Stimmen der Nacht (Bd. 3)
Spur des Mondes (Bd. 4)
Der verschollene Krieger (Bd. 5)
Die letzte Hoffnung (Bd. 6)
Staffel V – Der Ursprung der Clans
Der Sonnenpfad (Bd. 1)
Donnerschlag (Bd. 2)
Der erste Kampf (Bd. 3)
Der Leuchtende Stern (Bd. 4)
Der geteilte Wald (Bd. 5)
Der Sternenpfad (Bd. 6)
Staffel VI – Vision von Schatten
Die Mission des Schülers (Bd. 1)
Donner und Schatten (Bd. 2)
Zerrisene Wolken (Bd. 3)
Dunkelste Nacht (Bd. 4)
Fluss aus Feuer (Bd. 5)
Special Adventure
Feuersterns Mission
Das Schicksal des WolkenClans
Blausterns Prophezeiung
Streifensterns Bestimmung
Gelbzahns Geheimnis
Riesensterns Rache
Brombeersterns Aufstieg
Mottenflugs Vision
Habichtschwinges Reise
Tigerherz’ Schatten
Short Adventure
Wolkensterns Reise
Distelblatts Geschichte
Nebelsterns Omen
Taubenflugs Schicksal
Ahornschattens Vergeltung
Die Welt der Clans
Das Gesetz der Krieger
Die letzten Geheimnisse
Alle Abenteuer auch als Printausgaben bei Beltz & Gelberg
www.warriorcats.de
DIE HIERARCHIE DER KATZEN
WOLKENHIMMELS LAGER |
Anführer |
WOLKENHIMMEL – hellgrauer Kater mit blauen Augen |
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FALLENDE FEDER – junge weiße Kätzin |
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MONDSCHATTEN – schwarzer Kater |
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BLATT – grau-weißer Kater |
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BLUME – kleine, gelb getigerte Kätzin |
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FLINKES WASSER – grau-weiße Kätzin |
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FROST – weißer Kater |
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TANNENZAPFEN – schildpattfarbener Kater |
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NESSEL – grauer Kater |
GROSSER SCHATTENS LAGER |
Anführerin |
GROSSER SCHATTEN – schwarze Kätzin mit dickem Pelz und grünen Augen |
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GRAUER FLUG – schlanker, grauer Kater mit goldgelben Augen |
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ZACKIGER BERG – grau getigerter Kater |
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GETUPFTER PELZ – zierliche, schildpattfarbene Kätzin mit goldgelben Augen |
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REGEN AUF BLÜTE – braun getigerte Kätzin |
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BRECHENDES EIS – grau-weißer Kater mit grünen Augen |
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WOLKENFLECK – langhaariger schwarzer Kater mit weißen Ohren, weißer Brust und zwei weißen Pfoten |
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SCHREI DER DOHLE – junger schwarzer Kater |
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GLEITENDER HABICHT – hellrot getigerte Kätzin |
Junge |
BLITZSCHWEIF – schwarzer Kater |
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EICHELFELL – rotbraune Kätzin |
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DONNER – hellroter Kater mit bernsteinfarbenen Augen und großen, weißen Pfoten |
STREUNER |
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WIND – drahtige, braune Kätzin |
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GINSTER – magerer, grau getigerter Kater |
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DORNE – räudiger Kater mit fleckigem Fell |
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TAU – Kätzin mit dickem, grauem Fell und leuchtend blauen Augen |
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STRÖMENDER FLUSS – langhaariger, silberner Kater |
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NEBEL – grau-weiße Kätzin |
HAUSKÄTZCHEN |
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HUMMEL – mollige, schwarz-gelb gefleckte Kätzin |
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SCHILDKRÖTENSCHWANZ – schildpattfarbene Kätzin mit grünen Augen |
PROLOG
Tiefe Dunkelheit lag über dem Moor, nur das schwache Licht des Mondes und das Glitzern weit entfernter Sterne erhellten die Nacht. Donner verlagerte sein Gewicht auf die andere Pfote, verengte die Augen zu Schlitzen und sah hinauf zu der silbernen Scheibe, die dicht über dem Horizont hing. Der Nachtwind wehte ihm kühl und frisch durchs Fell. Der junge Kater wollte sich schon genüsslich strecken, erstarrte jedoch jäh, als sich zu dem leichten Wind auf seinem Fell noch eine andere Empfindung gesellte. Etwas Warmes strich ihm immer wieder gleichmäßig über den Kopf.
Donner drehte sich um und erkannte seine Mutter Sturm, die ihm die Ohren leckte, wie früher, als er noch ein winziges Junges gewesen war. Damals hatte sie ihn auf diese Weise in den Schlaf gewiegt, während er sich in das warme Fell an ihrem Bauch gekuschelt hatte. Überrascht holte Donner tief Luft. Meine Mutter! Es war schon lange her, seit er ihr Fell das letzte Mal gespürt hatte.
Sturm hielt inne. Donner sah ihr in die Augen und hatte das Gefühl, in ihren grünen Tiefen zu versinken. Seine Mutter streckte die Pfote aus und zog ihn an sich, sodass er ihren beruhigenden Herzschlag spüren konnte.
Bei dieser unerwarteten Berührung wurde Donner fast schwindelig. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie vertraut sich das alles anfühlte. Wenn er wach gewesen wäre, hätte er es niemals vermocht, sich an seine Mutter zu erinnern, doch nun erkannte er jede Markierung in ihrem Fell. Selbst ihr Atem kam ihm bekannt vor, und weckte Erinnerungen an den dunklen, hallenden Zweibeinerbau, in dem er auf die Welt gekommen war.
Sturms Anblick erinnerte Donner an die Kätzin, die sich um ihn kümmerte, seit Grauer Flug ihn ins Moorlager gebracht hatte. Gleitender Habicht ist gut zu mir. Ihre Sanftmut hatte ihn stets wohl behütet. Doch das Gefühl von Liebe und Geborgenheit, das seine Mutter ausstrahlte, war deutlich stärker.
Ein Schnurren stieg in ihm auf. »Erzähl mir noch mal die Geschichte«, bettelte er, ohne recht zu wissen, welche Geschichte er meinte und woher dieser Drang kam, sie zu hören.
Sturm machte es sich neben ihm bequem, eine Pfote beschützend über seine Schultern gelegt. Sie zögerte kurz und sah an Donner vorbei, als würde sie in eine unermessliche Weite blicken.
»Ich bin deinem Vater zum ersten Mal im Wald begegnet«, begann sie leise und die Worte weckten sofort ein vertrautes Echo in Donners Kopf. »In der geschützten Senke, wo er lebte. Er lag ausgestreckt vor einem Haufen Brombeerzweigen. Unsere Blicke begegneten sich und dann … da wussten wir es einfach. Ich konnte die Liebe in ihm spüren.«
Donners Pelz prickelte, als würden überall auf ihm Ameisen herumkrabbeln. »Warum ist das heute nicht mehr so?«, fragte er. »Wolkenhimmel hat mich verjagt – mein eigener Vater! Wohin ist die ganze Liebe verschwunden?«
Sturm rutschte unbehaglich hin und her. »Sie ist immer noch da«, erwiderte sie. »Es ist nur … Wolkenhimmel weiß einfach nicht, was er damit anfangen soll. Du wirst ihm dabei helfen, einen Weg zu finden.« Sie neigte den Kopf und leckte fest und tröstend mit der Zunge über seinen Körper. »Das weiß ich.«
Donner entspannte sich, doch ehe er die Augen schließen konnte, sah er, wie sich in der Ferne etwas bewegte. Vor dem schimmernden Mond zeichnete sich die dunkle Gestalt einer Katze mit hoch erhobenem Kopf und Schwanz ab. Trotz der Entfernung wusste Donner sofort, dass das sein Vater war.
Sturm schien ihn auch bemerkt zu haben, denn Donner spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es versetzte ihm einen Stich, als ihm klar wurde, dass seine Mutter Wolkenhimmel immer noch liebte.
Er wollte aufstehen und seinem Vater folgen, doch Sturm hielt ihn fest und zog ihn näher zu sich. »Lass ihn«, miaute sie leise.
»Aber du hast doch gesagt …«, protestierte Donner.
»Das ist der falsche Augenblick«, erklärte ihm seine Mutter. »Du wirst erkennen, wann der Moment gekommen ist.«
Wieder leckte sie ihm die Ohren und allmählich beruhigte sich Donner wieder. »Aber er ist doch mein Vater …«, murmelte er traurig.
»Ich weiß«, tröstete Sturm ihren Sohn. Dann stupste sie ihm mit der Pfote spielerisch an die Nase. »Du bist ihm so ähnlich«, schnurrte sie.
Der Schmerz in Donners Herz wurde noch stärker, als würden scharfe Krallen daran reißen. »Warum will Wolkenhimmel mich dann nicht als Sohn anerkennen?«, wollte er wissen. »Warum kann ich nicht zu ihm gehen?« Seine Stimme wurde zu einem klagenden Jaulen. »Alles fühlt sich so falsch an!«
Mit kummervollen Augen sah Sturm zum Vollmond hinauf. Der Nachtwind wurde stärker und zauste ihr das Fell, worauf sie ihren Körper noch enger um Donner schlang, um ihn vor der Kälte zu schützen.
Donner konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen, er konnte sie nur hören, als sie erneut zu sprechen anhob. »Du wirst alles wieder ins Lot bringen«, murmelte sie, und ihre Stimme tropfte wie warmer Honig durch ihn hindurch. »Wenn die Zeit gekommen ist. Das weiß ich genau …«
1. Kapitel
Die frischen, grünen Grashalme auf dem Moor bogen sich im warmen Wind. Er zauste auch Grauer Flugs Fell und verkündete das nahe Ende der kalten Zeit.
Grüne Schösslinge bohrten sich überall ringsum aus der Erde, an den Ginsterbüschen waren leuchtend gelbe Blüten aufgetaucht und tüpfelten die Landschaft. Das ferne Zwitschern von Vögeln versprach üppige Beute für die kommenden Monde.
Wenige Schwanzlängen entfernt kämpfte Donner unter aufgeregtem Kreischen mit Gleitender Habichts Jungen Blitzschweif und Eichelfell. Grauer Flug beobachtete mit einem liebevollen Blinzeln, wie sie sich im weichen Gras wälzten und mit zappelnden Pfoten aufeinander einschlugen, ohne jedoch ihre Krallen einzusetzen. Er hatte Gleitender Habicht gefragt, ob er die Jungen mitnehmen und ihnen Jagdunterricht erteilen dürfe.
Die getigerte Kätzin hatte unter der Bedingung zugestimmt, dass sich die Jungen nicht zu weit vom Lager entfernten. Fürs Erste begnügte sich Grauer Flug damit, die jungen Katzen eine Weile spielen zu lassen, und erfreute sich an ihren übermütigen Späßen.
Weiter hinten im Moor konnte er Wolkenfleck und Getupfter Pelz erkennen, die mit Bündeln frischer Kräuter im Maul vom Fluss zurückkehrten. Regen auf Blüte tauchte aus einem Ginstergestrüpp auf, den schlaffen Körper eines Hasen zwischen den Zähnen. Sie schleppte die Beute in die Senke hinunter, wo Schrei der Dohle und Brechendes Eis einen neuen Schlaftunnel in die Erde gruben. Gleitender Habicht und Großer Schatten saßen ins Gespräch vertieft beisammen und putzten sich.
Jetzt fühlt es sich wirklich wie ein Zuhause an. Grauer Flug dachte an die lange Reise von den Bergen hierher und an die vielen Anstrengungen, bis sie auf dem Moor ein Zuhause gefunden hatten. Dabei war es ihm zuerst schwergefallen, Steinsagerins Vision zu akzeptieren, sie könnten eine bessere Heimat finden, wenn sie dem Sonnenpfad folgten. Die Reise war voller Gefahren gewesen, aber sie hatten es trotzdem geschafft. Das Leben hier ist gut.
»Blitzschweif, tu mal so, als wärst du ein Hase.« Donners Stimme lenkte Grauer Flugs Aufmerksamkeit zurück auf die Jungen. »Ich zeig dir jetzt mal, wie man einen fängt.«
»Na gut.« Blitzschweif begann, hin und her zu hüpfen und die unregelmäßigen Sprünge eines Hasen nachzumachen.
Donner sah Eichelfell an und miaute: »Schau gut zu!« Er duckte sich flach zu Boden und pirschte sich an Blitzschweif heran, der immer wieder hinter sich blickte, ob das größere Junge ihn schon eingeholt hatte.
Donner trat auf den Hinterläufen hin und her und stürzte sich dann mit einem riesigen Sprung auf Blitzschweif. Das schwarze Junge rollte sich kreischend auf den Rücken und schlang die Pfoten um Donners Hals, worauf beide Kater als zappelndes Fellbündel übers Gras rollten.
So waren Wolkenhimmel und ich auch mal. Grauer Flug wurde traurig. Wie konnten wir uns nur so zerstreiten?
»Du bist tot!«, jaulte Donner. »Ich habe dich getötet!«
»Ich will mal einen echten Hasen jagen!«, verkündete Eichelfell, die zu ihnen gesprungen kam. »Ich werde mal die beste Jägerin von allen sein.«
»Gute Idee«, miaute Grauer Flug und tappte zu den Jungen. »Aber vorher musst du noch viel lernen.«
»Ich kann mich auch schon so anschleichen wie Donner.« Blitzschweif duckte sich und schlängelte sich mit wühlenden Pfoten durchs Gras. »Seht ihr?«
»Großartig«, entgegnete Grauer Flug und ignorierte den Schwanz des Jungen, der wild hin und her peitschte. »Aber es braucht schon etwas mehr, um Beute zu fangen. Hier draußen im Moor kann euch die Beute schon von Weitem sehen. Was müsst ihr deshalb machen?«
»Uns auf sie stürzen … und zwar so!«, kreischte Eichelfell. Sie sprang auf ihren Bruder und stieß ihn um.
Auch Donner warf sich wieder ins Getümmel. Wenn sie nicht zuhörten, würden sie niemals Beute fangen, doch Grauer Flug hielt sich zurück und schimpfte nicht. Es war schön, diese glücklichen, gesunden Jungen zu erleben.
Sie sind so groß und stark … zweimal so groß wie die arme Flatternder Vogel.
Ein Anflug von Trauer durchströmte ihn, als er an seine Schwester dachte, die in den Bergen gestorben war, weil es während der kalten Zeit nicht genug Nahrung für sie gegeben hatte. Liebevolle Fürsorge für Donner und die anderen überkam ihn. Er war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie zu starken, gesunden Katzen heranwuchsen.
Die kalte Zeit war gar nicht so schlimm gewesen. Es hatte trotzdem genügend Beute gegeben. Grauer Flug fiel es immer noch schwer, zu glauben, dass der Schnee hier nicht so dicht fiel wie in den Bergen und auch nicht so lange liegen blieb. Und morgens ließ die Sonne den Frost viel früher verschwinden. Es hatte kaum Tage gegeben, an denen sie nicht jagen oder Wasser suchen konnten, vor allem im Wald, wo die Bäume einen Schutz vor der härtesten Kälte boten. Grauer Flug unterdrückte ein Seufzen. Dennoch gab es Momente, in denen er seine Heimat und seine Mutter Sanfter Regen vermisste, aber das leichte Leben auf dem Moor hatte zur Folge, dass alle Jungen überlebt hatten, und bald würde die warme Zeit zurückkehren.
Donner und Blitzschweif rauften immer noch laut kreischend miteinander und verscheuchten damit sämtliche Beute auf dem Moor. Auf einmal rannte Eichelfell los und rief ihnen noch zu: »Jetzt schaut mal mir zu!«
Sie flitzte in die Senke hinunter und verschwand in dem Loch, das Schrei der Dohle und Brechendes Eis zuvor gegraben hatten. Grauer Flug stürmte ihr mit klopfendem Herzen hinterher. Unter dem Moor gab es ein ganzes Geflecht aus unterirdischen Gängen, hauptsächlich Schlupflöcher, die von Kaninchen gegraben worden waren. Die Katzen hatten angefangen, sie zu Bauen zu vergrößern, aber hier und da gab es noch gefährliche Stellen. In den Bauen fand Grauer Flug es nach wie vor ein wenig unheimlich. Sie waren so dunkel und eng, dass er kaum atmen konnte. Wenn Eichelfell zu tief in die Gänge kriecht, bekommen wir sie vielleicht nicht mehr raus.
Zu Grauer Flugs Erleichterung wurde die Kätzin von einer anderen Katze hinter ihr ins Freie geschoben. Es war Schrei der Dohle, ihr Vater. Hinter den beiden steckte Brechendes Eis den Kopf aus dem Loch und zog ein verärgertes Gesicht.
»Hier darfst du nicht rein«, schimpfte Schrei der Dohle mit Eichelfell. »Dieser Gang ist noch nicht sicher. Brechendes Eis und ich graben noch daran.« Er gab seiner Tochter einen harten Nasenstüber. »Solltest du nicht beim Jagdunterricht mit Grauer Flug sein?«
»So ist es auch«, rief Grauer Flug zu ihm herunter. »Danke, Schrei der Dohle.«
Der schwarze Kater nickte Grauer Flug grüßend zu und verschwand dann wieder mit Brechendes Eis unter der Erde.
Eichelfell wandte sich mit hängendem Schwanz ab und trottete den Hang hinauf zur Böschung.
»Wow!«, rief Blitzschweif, als sie zu ihnen trat. »Das war echt beeindruckend! Jetzt wissen wir endlich, was wir tun müssen, um eins auf die Nase zu kriegen.«
Eichelfell sah ihn an, sagte aber nichts.
»Ich finde, du solltest uns das noch mal zeigen«, neckte ihr Bruder sie weiter. »Ich weiß nicht, ob ich es schon ganz kapiert habe.«
»Du willst wissen, wie du eins auf die Nase kriegst? Ganz einfach, Flohhirn!«, fauchte Eichelfell und schlug mit der Pfote nach der Schnauze ihres Bruders.
Blitzschweif sprang zurück. »He, das hat wehgetan!«
»Das reicht«, miaute Grauer Flug und trat zwischen die Wurfgefährten, bevor sie anfangen konnten, sich zu raufen. »Wir wollten doch jagen. Habt ihr das vergessen?«
Zu seiner Erleichterung setzten sich die Jungen vor ihm hin, scharrten noch etwas in der Erde, bis sie bequem saßen, und sahen ihn dann aufmerksam an.
Grauer Flug blickte sich suchend nach Beute um. Unter einem Ginsterstrauch in der Nähe bewegte sich etwas. Ein Kaninchen kam hervorgehüpft und knabberte am Gras.
»Dort drüben«, sagte er zu den Jungen und zeigte mit dem Schwanz darauf, »aber rührt euch nicht. Seht ihr das Kaninchen? Das fange ich jetzt.«
Blitzschweif unf Eichelfell nickten mit leuchtenden Augen und ungeduldig zuckenden Schwanzspitzen.
»Zuerst warte ich, bis es sich noch etwas weiter von dem Strauch entfernt hat«, fuhr Grauer Flug fort. »Irgendwo da drin liegt vermutlich der Eingang zu seinem Bau. Und wenn ich ihm hinterherjage, beobachte ich es genau, damit ich erraten kann, wohin es rennt.«
Inzwischen hatte sich das Kaninchen noch weiter von dem Ginsterstrauch entfernt. Grauer Flug beobachtete es aufmerksam und wartete auf den richtigen Moment. Plötzlich schoss er mit kräftigen Stößen seiner Hinterläufe los und freute sich darüber, wie sich seine Muskeln beim Rennen streckten und wie ihm der Wind durchs Fell blies.
Er war bereits bis auf einige Schwanzlängen herangekommen, bevor das Kaninchen ihn bemerkte. Es floh mit einem erschreckten Fiepen, sein weißer Schwanz hüpfte auf und ab. Grauer Flug hielt den Blick unverwandt auf seine Beute gerichtet und schlug einen Bogen, um das Kaninchen abzufangen, ehe es kehrtmachen und zu seinem Versteck im Gebüsch zurückrennen konnte.
Mit schlitternden Pfoten wich das Kaninchen erneut aus, doch nach wenigen Schritten hatte Grauer Flug es eingeholt und stieß es zu Boden, wo er seine Beute mit einem Biss in die Kehle tötete. Große Zufriedenheit durchströmte ihn.
Grauer Flug hob den warmen Körper des Kaninchens auf und trottete zurück zu den Jungen, die ihm bewundernd zuschauten.
»Toller Fang, Grauer Flug!«, rief Donner.
»So was will ich auch können«, miaute Eichelfell.
»Das dauert nicht mehr lange«, versprach Grauer Flug und schob das Kaninchen unter die Zweige eines Ginsterstrauchs. Ich hole es nachher, wenn wir fertig sind. »Du kannst es gleich mal versuchen. Wer wittert irgendwo noch Beute?«
Die Jungen sprangen auf, schauten sich um und sogen prüfend die Luft ein. »Ich kann nur das Kaninchen riechen«, beschwerte sich Eichelfell.
»Dann gehen wir ein Stück weiter«, miaute Grauer Flug und führte sie noch ein paar Schwanzlängen von der Senke weg. »Donner, siehst du was?«
Grauer Flug hatte bereits eine Maus erspäht, die in einem Büschel aus hohem Gras an ein paar Samenkörnern knabberte. Als sie sich zwischen den Halmen hindurchschlängelte und die Grasspitzen bebten, bemerkte auch Donner die Bewegung.
»Da!«, flüsterte er und neigte die Ohren in Richtung der Maus.
»Gut. Dann schnapp sie dir«, sagte Grauer Flug.
Sofort duckte sich Donner tief zu Boden und wollte vorwärtsschleichen.
Kopfschüttelnd flüsterte Grauer Flug, um die Maus nicht aufzuschrecken: »Nicht so! Ich habe euch doch erklärt, dass man so nur im Wald jagen kann, wo es genügend Verstecke gibt und Geräusche in den Bäumen, die euer Näherkommen tarnen. Aber hier draußen nützt das nichts, weil die Beute euch schon von Weitem sieht. Du musst dich auf deine Schnelligkeit verlassen.«
»Oh … na gut.« Mit vor Enttäuschung zuckender Schwanzspitze richtete sich Donner wieder auf, dann preschte er über das Moor zu dem Grasbüschel, in dem sich die Maus versteckte.
»Schneller!«, jaulte Eichelfell.
»Dummer Fellball!« Blitzschweif gab seiner Schwester mit dem Schwanz einen Klaps auf die Schnauze. »Sieh nur, was du angerichtet hast!«
Die Maus erstarrte, als hätte sie Eichelfell gehört und begriffen, dass Gefahr drohte. Dann schoss sie aus dem Gras hervor und trippelte zu einem ein paar Schwanzlängen entfernten Felsen. Donner versuchte, noch schneller zu rennen, stolperte dabei aber über seine eigenen Pfoten, verlor das Gleichgewicht und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Die Maus flitzte in einen Spalt zwischen zwei großen Steinen und verschwand.
Donner stand auf, schüttelte sein Fell und trottete mit hängendem Kopf zu den anderen zurück. »Tut mir leid«, murmelte er.
»Schon gut«, antwortete Grauer Flug und legte ihm tröstend die Schwanzspitze auf die Schulter. »Nächstes Mal klappt es bestimmt.«
Ein Blick auf Donners große, weiße Pfoten zeigte ihm, warum der junge Kater so ungeschickt war. Aus ihm würde einmal eine große, starke Katze werden, aber noch war er schlaksig und unbeholfen und hatte seine Bewegungen nicht immer unter Kontrolle. Seine Zeit wird kommen. Er muss nur Geduld haben.
»Ich will auch mal«, miaute Eichelfell. »Falls du nicht die ganze Beute verscheucht hast.«
»Was?« Donner riss empört die Augen auf. »Hättest du nicht …«
Grauer Flug hob die Pfote und unterbrach ihr Gezanke. »Wir suchen einfach weiter nach Beute«, meinte er. »Wir finden schon noch was.«
»Da!« Blitzschweif zeigte mit dem Schwanz auf etwas hinter ihm.
Grauer Flug drehte sich um und erblickte eine kleine Schar von Vögeln, die dicht bei dem Felsen, wo die Maus verschwunden war, im Gras pickten. Er nickte. »Hol sie dir.«
Blitzschweif duckte sich ganz tief, genau wie Donner zuvor, als wären Grauer Flugs Anweisungen einfach an seinen Ohren vorbeigeflattert.
»Renn doch, du Flohhirn!«, rief Eichelfell ihrem Bruder zu. Sie raste los und schoss mit wehendem Schwanz über die Wiese.
Grauer Flug sah ihr nach und bewunderte ihre Schnelligkeit. Leider stieß sie beim Rennen immer wieder schrille Laute der Begeisterung aus und schon beim ersten Juchzen waren ein paar Vögel aufgeflattert. Auch die übrigen waren lange weggeflogen, bevor sie auch nur in ihre Nähe gekommen war.
Blitzschweif war ihr hinterhergerannt, nachdem er seinen Fehler erkannt hatte. Nun blieb er stehen und wandte sich mit empörter Miene zu ihr um. »Wer ist jetzt das Flohhirn?«, wollte er wissen.
Grauer Flug schüttelte den Kopf und versuchte, seine Belustigung zu verbergen. »Ihr müsst alle noch viel lernen«, murmelte er.
Er wartete, bis die beiden Jungen zurückkamen und wurde plötzlich von Donner abgelenkt, der zu einem gewaltigen Sprung ansetzte. Einer der Vögel war ganz in seine Nähe geflattert, und Donner streckte seine Vorderpfote weit vor und schlug ihn zu Boden, bevor er fliehen konnte.
Der junge Kater richtete sich mit freudestrahlenden Augen auf, den schlaffen Vogel zwischen den Zähnen. »Ich hab ihn!«, verkündete er mit gedämpfter Stimme wegen der Federn in seinem Maul.
Einen Moment lang brachte Grauer Flug es nicht über sich, ihn dafür zu loben, obwohl er es eigentlich verdient hätte. Der hohe Sprung hatte ihn zu sehr an Wolkenhimmel, Donners Vater, erinnert. Wie damals, als er den Habicht getötet hat, kurz bevor wir die Berge verließen.
Bei der Erinnerung an die Zeit, als er und sein Bruder sich noch so nahe gestanden waren, stieg erneut Trauer in ihm auf. Er war nicht mehr in den Wald gegangen oder hatte seinen Bruder besucht, seit Wolkenhimmel sich geweigert hatte, Donner als seinen Sohn anzuerkennen. Und das war schon vor Beginn der kalten Zeit gewesen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Grauer Flug sogar verkündet, Wolkenhimmel sei nicht mehr sein Bruder. Immer noch brannte der Verlust seines Wurfgefährten wie ein Dorn in seinem Herzen, aber er konnte es Wolkenhimmel einfach nicht verzeihen, dass er Donner so harsch zurückgewiesen hatte.
Grauer Flug seufzte. Ich habe versucht, Donner so aufzuziehen, dass er Freundlichkeit und Mitgefühl kennt. Aber wird sich trotz meiner Bemühungen am Ende doch Wolkenhimmels Charakter in ihm durchsetzen?
Grauer Flug wurde aus seinen düsteren Gedanken gerissen, als hinter ihm ein leises Miauen erklang. Er drehte sich um und sah eine schildpattfarbene Kätzin auf sich zulaufen. Bei ihrem Anblick erhellte sich sein Blick, Freude blitzte wie ein Sonnenstrahl in ihm auf. Schildkrötenschwanz! Die Katze war mit ihnen aus den Bergen gekommen und immer eine treue Freundin gewesen, bis … Aber nein, daran will ich jetzt nicht denken.
»Schildkrötenschwanz!«, rief er. »Wie hast du uns gefunden?« Sie hatte die Bergkatzen verlassen, bevor sie in ihr neues Lager gezogen waren.
»Ich bin zu der Senke, wo wir früher lebten«, erklärte Schildkrötenschwanz, »und sie war ganz leer … nur noch ein Hauch von altem Katzengeruch.« Sie erschauderte. »Zuerst dachte ich, die Füchse hätten euch alle getötet. Aber das konnte ich einfach nicht glauben, deshalb habe ich herumgesucht, bis ich eine Spur fand, und hier bin ich!«
»Es ist so schön, dich zu sehen«, miaute Grauer Flug.
Schildkrötenschwanz trat zu ihm und legte ihre Nase an seine. »Es ist auch schön, dich zu sehen«, schnurrte sie. »Es ist schon lange her.« Sie musterte die Jungen und fügte hinzu: »Sieht aus, als hättest du alle Pfoten voll zu tun!«
Grauer Flug nickte. Er hatte Schildkrötenschwanz nicht mehr gesehen, seit sie ihm geholfen hatte, Donner aus dem einstürzenden Zweibeinerbau zu retten. Danach hatte sie die gesamte kalte Zeit in einem Zweibeinerort verbracht und das gemütliche Leben eines Hauskätzchens geführt. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie sich dafür entschieden hat. Grauer Flug wandte den Blick ab, damit sie sein Gesicht nicht sah. Ein Leben zu wählen, wo man keine Beute jagen musste und nie den Morgenwind in seinem Fell spürte, das hatte Grauer Flug einfach nicht begreifen können. Bei ihrem Abschied hatte er nicht verbergen können, wie verraten er sich vorkam, woraufhin Schildkrötenschwanz ihm gegenüber sehr kühl und distanziert gewesen war.
Aber das neue Leben schien ihr gut zu bekommen. Sie sah mollig und gesund aus, mit einem glänzenden Pelz und leuchtenden Augen, die Grauer Flug nun anstrahlten.
»Ist dieses riesige Kätzchen etwa Donner?«, fragte sie und wandte sich dem Jungen zu, das mit seiner Beute im Maul neben ihnen stand und erstaunt und etwas beleidigt dreinsah. Grauer Flug bekam ein schlechtes Gewissen, als ihm klar wurde, dass er den Kater für seinen Fang noch gar nicht gelobt hatte. »Er ist ja so gewachsen! Ich weiß noch, wie winzig er war, als wir ihn in den Wald brachten und ihm seinen Namen gaben.«
Als Donners Mutter Sturm mit ihren Jungen unter den Trümmern eines Zweibeinerbaus verschüttet worden war, hatten Grauer Flug und Schildkrötenschwanz Donner gerade noch retten können. Für seine Wurfgefährten und Sturm jedoch war jede Hilfe zu spät gekommen. Ihr Pelz war so weich, ihre Augen so wunderschön … Grauer Flug ließ den Schwanz sinken, Trauer bohrte sich in sein Herz. Ich werde sie nie wiedersehen.
»Schau doch, Donner hat einen Vogel gefangen! Er wird sicher mal ein großartiger Jäger werden.« Schildkrötenschwanz’ Stimme riss ihn aus seinem Schmerz. Er sah sie an und merkte sofort, dass sie absichtlich so fröhlich tat. Es ist, als wüsste sie, was ich denke. Schildkrötenschwanz kennt mich so gut, dass sie sogar weiß, wie sie mich aufmuntern kann, wenn ich traurig bin.
»Das wird er«, stimmte Grauer Flug zu und schüttelte die trübseligen Gedanken ab.
Bei diesem Lob hellte sich Donners Miene auf. Nun scharten sich auch die beiden anderen Jungen um sie. »Wir werden auch mal gute Jäger«, verkündete Eichelfell.
»Ganz bestimmt«, versicherte Schildkrötenschwanz. »Das sind sicher die Jungen von Gleitender Habicht? Sieh nur, wie groß und stark sie sind!«
»Vielleicht warst du doch länger weg, als du dachtest«, miaute Grauer Flug. Ihr gequälter Blick ließ ihn seine Worte sofort bereuen. »Ich meine, lange genug für … also …«, stotterte er. »Ähm, ich habe dich vermisst, Schildkrötenschwanz.«
Die Kätzin schnurrte. »Ich dich auch, Grauer Flug.«
Auf einmal bemerkte er, dass sie von den Jungen beobachtet wurden, die jedes Wort in sich aufsaugten. »Das hier sind Blitzschweif und Eichelfell«, stellte er die beiden vor.
»Schöne Namen«, miaute Schildkrötenschwanz und die Freude kehrte in ihr Gesicht zurück. »Ich bin Schildkrötenschwanz.«
»Blitzschweif bekam seinen Namen, weil er immer mit Donner zusammen ist«, erklärte Grauer Flug. »Die zwei zusammen sind schlimmer als ein Wirbelsturm!«
Schildkrötenschwanz’ Augen glänzten belustigt und sie berührte die Nasen der Jungen mit ihrer.
»Geht jetzt spielen«, sagte Grauer Flug freundlich zu den dreien. Er wollte mit Schildkrötenschwanz sprechen, ohne dass die Jungen jedes Wort belauschten.
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Unter begeistertem Geheul rannten sie davon und jagten sich gegenseitig um den Ginsterstrauch.
»Wie geht es dir in dem Zweibeinerort?«, fragte Grauer Flug auf einmal ganz verlegen. Schildkrötenschwanz sollte nicht denken, er wollte sie erneut kritisieren. »Hast du die kalte Zeit gut überstanden?«
»Ja, es war schön«, erwiderte Schildkrötenschwanz leichthin. »Sehr gemütlich und bequem. Hummel und ich haben noch Gesellschaft bekommen. Kurz nachdem ich mich dort niedergelassen hatte, kam eine weitere Katze dazu.«
»Ein Streuner?«, fragte Grauer Flug, der das kaum glauben konnte.
»Oh nein«, erklärte Schildkrötenschwanz. »Die Zweibeiner sind weggegangen, und als sie wiederkamen, brachten sie einen großen Kater mit. Er hat erzählt, er habe bei einem anderen Zweibeiner gewohnt, aber der sei irgendwann nicht mehr gekommen, um ihn zu füttern.«
Zweibeinern kann man einfach nicht trauen. Aber Grauer Flug war klug genug, das nicht laut zu sagen.
»Dann lebte der Kater erst noch an einem Ort mit vielen anderen Katzen. Sie seien alle ganz unglücklich und weinerlich gewesen, und er sagte, in der Nähe haben sie Hunde bellen hören. Sie waren alle zusammen eingepfercht. Dann hat er – sie nannten ihn übrigens Kater …«
»Kater?«, unterbrach Grauer Flug. »Sie haben einem Kater den Namen Kater gegeben? Ich werde diese Zweibeiner nie verstehen.«
Schildkrötenschwanz blinzelte gleichmütig. »Jedenfalls wurde er dort von unseren Zweibeinern weggeholt und lebte dann bei mir und Hummel.«
»Hast du ihn gemocht?«, fragte Grauer Flug. »War er nett?«
Schildkrötenschwanz zögerte und schaute auf ihre Pfoten hinab. »Oh ja, er war nett«, sagte sie schließlich. »Wir sind gut miteinander ausgekommen.« Dann schüttelte sie sich. »Aber es war Zeit, zu gehen. Ich habe meine Freunde auf dem Moor vermisst.«
Schildkrötenschwanz kehrt zu uns zurück! Freude stieg in Grauer Flug auf, aber bevor er etwas sagen konnte, kamen die Jungen zurückgerast und jagten sich gegenseitig im Kreis herum. Auf einer kahlen Stelle im Gras kamen sie auf der lockeren Erde ins Rutschen und konnten nicht mehr rechtzeitig bremsen. Blitzschweif prallte gegen Schildkrötenschwanz, die das Gleichgewicht verlor und mit wild ruderndem Schwanz auf dem Rücken landete. Sie heulte auf vor Schmerz und Schreck.
Grauer Flug riss erstaunt die Augen auf, als er zum ersten Mal ihren geschwollenen Bauch bemerkte. Sie erwartet Junge!
»Hast du dir wehgetan?«, fragte er besorgt und half ihr auf.
Schildkrötenschwanz lehnte sich keuchend an ihn und stemmte sich hoch. Sie schwieg eine Weile und atmete schließlich tief aus. »Es geht mir gut … denke ich.«
Grauer Flug sah die drei Jungen an. Blitzschweif versteckte sich mit erschrockenem Blick hinter Donner. Der graue Kater winkte ihn mit einem Schwanzschnippen herbei.
»Komm und entschuldige dich bei Schildkrötenschwanz«, befahl er streng.
Blitzschweif zappelte herum und trottete dann mit gesenktem Kopf und hängendem Schwanz zu ihnen. »Tut mir sehr leid«, miaute er.
»Schon gut.« Schildkrötenschwanz leckte ihm über die Ohren.
»Denk daran, dich vorher umzuschauen, wenn du so wild durch die Gegend rast«, ermahnte Grauer Flug den kleinen Kater. Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Ich habe doch gesagt, ihr könnt spielen gehen.«
Er wartete, bis die drei Jungen unter aufgeregtem Jaulen davongesprungen waren. Schildkrötenschwanz erwartet also seine Jungen … wer hätte das gedacht?
»Also«, miaute er und deutete mit den Ohren auf ihren geschwollenen Bauch. »Wie ist das passiert?«
»Was glaubst du denn?«, fauchte Schildkrötenschwanz. Dann wurde ihr Blick weicher. »Ich habe einen Fehler gemacht«, fuhr sie fort. »Aber ich habe euch alle so sehr vermisst. Kater wirkte so stark und freundlich. Da dachte ich, ich könnte ein neues Leben mit ihm anfangen. Aber als ich gemerkt habe, dass ich Junge bekomme, da … da hat er sich verändert.«
Grauer Flug knurrte: »Falls er dir wehgetan hat …«
»Oh nein!«, versicherte Schildkrötenschwanz. »Kater war immer noch freundlich, aber er wollte mit mir nicht über die Zukunft der Jungen sprechen. Und Hummel schien es irgendwie unangenehm zu sein, wenn ich die Jungen erwähnte.« Schildkrötenschwanz schnippte mit der Schwanzspitze. »Aber keiner von beiden wollte zugeben, dass etwas nicht stimmt.«
»Und was hast du dann getan?«, fragte Grauer Flug.
»Ich flehte Hummel an, ehrlich mit mir zu sein. Erst wollte sie nicht, aber dann hat sie mir schließlich erklärt, dass die Zweibeiner mir meine Jungen wegnehmen und anderen Zweibeinern geben würden.« Ihre Stimme zitterte. »Ich hätte sie niemals wiedergesehen, sobald sie keine Milch mehr von mir gebraucht hätten.«
»Das ist ja furchtbar!«, rief Grauer Flug und drückte seine Nase gegen Schildkrötenschwanz’ Schulter. Wie konnte man eine Familie nur so auseinanderreißen? In den Bergen und auch hier im Moor hielten die Katzen zusammen. Jeder half mit, die Jungen großzuziehen, und es war undenkbar, dass eine Katze ihre Jungen aufgeben würde. Nun ja, bis Wolkenhimmel Donner fortgeschickt hat.
»Hummel sagte, Kater hätte sie gebeten, mir nicht die Wahrheit zu sagen. Und jetzt … na ja, ich werde Hauskätzchen oder Zweibeinern jedenfalls nie mehr trauen. Ich habe gelernt, wer meine wahren Freunde sind. Jetzt möchte ich nur noch zu euch zurückkommen.« Sie sah Grauer Flug an. »Glaubst du, die anderen werden mich wieder aufnehmen?«
Sein Herz schmolz unter ihrem ernsten Blick. »Wie könnten sie sich weigern?«, miaute er und schaute erneut auf ihren dicken Bauch. Aus irgendeinem Grund störte ihn der Gedanke, dass Schildkrötenschwanz die Jungen einer anderen Katze trug. »Das ist dein Zuhause.«
Grauer Flug führte Schildkrötenschwanz auf die Böschung oberhalb der Senke.
»Unglaublich!«, rief sie und riss bewundernd die Augen auf, als sie ihre neue Heimat sah. »Was für ein wunderschöner Platz! Viel besser als das alte Lager.«
Grauer Flug nickte. »Die Stelle ist besser geschützt und sicherer für uns«, sagte er und deutete mit dem Schwanz auf die Ginsterbüsche.
Gemeinsam gingen sie den Hang hinunter. Brechendes Eis kam gerade aus dem Gang, den er mit Schrei der Dohle grub, das grau-weiße Fell voller Erde. Bei Schildkrötenschwanz’ Anblick blieb er stehen und starrte sie aus schmalen Augen an.
»Was machst du denn hier?«, fragte er.
»Hallo, Brechendes Eis!«, begrüßte ihn Schildkrötenschwanz. »Ich freue mich, dich zu sehen.«
Brechendes Eis musterte die Kätzin kühl und miaute dann: »Du hast dich von uns abgewandt, als das Wetter kalt wurde. Wie kommt ein Hauskätzchen wie du nun darauf, hier wieder willkommen zu sein?«
Schildkrötenschwanz stellte empört ihr Fell auf und tarnte so ihren trächtigen Bauch. »Mit welchem Recht verbietest du einer anderen Katze, ins Moor zu kommen?«, gab sie zurück. »Für wen hältst du dich? Für Wolkenhimmel?«
Bei der Erwähnung seines Bruders zuckte Grauer Flug zusammen. »Hört mal …«, fing er an.
Beide Katzen ignorierten seinen Versuch, zu schlichten.
»Wolkenhimmel hat nicht nur schlechte Ideen«, murmelte Brechendes Eis. »Ich bringe dich zu Großer Schatten«, fuhr er fort. »Sie wird entscheiden, was aus dir wird.«
»Schildkrötenschwanz muss nicht …«, fing Grauer Flug wieder an.
»Du brauchst mich nicht zu verteidigen«, unterbrach Schildkrötenschwanz ihn und legte wütend die Ohren an. »Ich möchte Großer Schatten sehr gerne wiedersehen. Ich habe sie vermisst, und ich bin mir sicher, sie braucht keine Hilfe, um Brechendes Eis in die Schranken zu weisen.«
Brechendes Eis und Schildkrötenschwanz machten sich auf den Weg, begleitet von Schrei der Dohle, der aus dem Tunnel aufgetaucht war und die Kätzin erstaunt anblickte. Grauer Flug drehte sich nach den Jungen um, die auf einem moosbedeckten Felsen herumkletterten.
»Kommt jetzt!«, rief er. »Wir gehen wieder nach Hause.«
2. Kapitel
Grauer Flug und Schildkrötenschwanz erreichten den Grund der Senke, wo sich Gleitender Habicht, Getupfter Pelz, Wolkenfleck und Regen auf Blüte bei Großer Schatten versammelt hatten.
»Ihr braucht mehr Kraft in den Hinterbeinen«, erklärte ihnen die schwarze Kätzin. »Auf die Art werdet ihr mit allen Katzen fertig, die sich von hinten an euch anschleichen wollen. Versuch es noch mal, Regen auf Blüte.«
Grauer Flug sah, dass Großer Schatten ein großes Stück Rinde gegen einen Stein gelehnt hatte. Regen auf Blüte stellte sich in Position und trat mit aller Kraft gegen die Rinde, sodass sie umkippte und viele kleine Rindenstückchen durch die Luft flogen.
»Viel besser«, miaute Großer Schatten. »Jetzt bist du dran, Wolkenfleck.«
Nur Zackiger Berg kauerte mit unglücklicher Miene ein paar Schwanzlängen abseits der anderen. Bei seinem Anblick stieg Mitgefühl in Grauer Flug auf. Seit der junge Kater vom Baum gefallen war und sich das Bein gebrochen hatte, war das Leben ein ständiger Kampf für ihn. Wolkenhimmel hatte ihn aus dem Wald vertrieben, weil er keine Katze versorgen wollte, die nicht jagen konnte. Die Moorkatzen hatten ihn aufgenommen, aber Grauer Flug wusste, dass sein jüngerer Bruder ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte, weil er der Gruppe nicht wirklich nützlich war.
Schildkrötenschwanz, die sich zu seinem Ohr beugte, lenkte ihn von Zackiger Bergs Problemen ab. »Ich bin überrascht darüber, dass Großer Schatten die Katzen im Kampf unterrichtet«, flüsterte sie. »Bei euch scheint sich einiges verändert zu haben.«
Bevor Grauer Flug antworten konnte, lief Brechendes Eis zu Großer Schatten. »Wir haben eine fremde Katze in unserem Territorium!«, verkündete er und deutete mit dem Schwanz auf Schildkrötenschwanz.
»Schildkrötenschwanz!«, rief Regen auf Blüte, rannte zu ihr und legte die Nase an das Ohr der Katze. »Brechendes Eis, das ist keine fremde Katze«, fügte sie verärgert hinzu und sah den grau-weißen Kater an. »Sie ist unsere Freundin.«
Gleitender Habicht folgte ihrer Baugefährtin und strich um Schildkrötenschwanz herum. »Wie schön, dich zu sehen«, miaute sie freundlich.
Die anderen Katzen hielten sich zurück und wechselten unsichere Blicke, während Brechendes Eis immer noch Feindseligkeit ausstrahlte.
Grauer Flug unterdrückte ein verärgertes Seufzen und wartete besorgt, wie Großer Schatten reagieren würde. Er wusste genau, wie misstrauisch die schwarze Kätzin gegenüber Fremden war. Schildkrötenschwanz ist natürlich keine Fremde. Trotzdem war es nicht besonders glücklich, ihre Rückkehr auf diese Weise anzukündigen.
»Und seit wann reden wir hier von Territorien?«, murmelte Schildkrötenschwanz. »Es ist wirklich alles anders.«
Widerstrebend musste Grauer Flug sich eingestehen, dass sie recht hatte. Seit Schildkrötenschwanz das Moor verlassen hatte, waren er und seine Baugefährten immer mehr wie Wolkenhimmel und seine Gruppe geworden, streng darauf bedacht, ihr Jagdrevier zu verteidigen.
Nachdem sich die Bergkatzen getrennt und Wolkenhimmel seine Gruppe in den Wald geführt hatten, waren alle Katzen davon ausgegangen, sie könnten sich überall frei bewegen und sich so oft besuchen, wie sie wollten. Aber so war es nicht gekommen, und die Teilung zwischen den beiden Gruppen war mittlerweile so schwer zu überwinden wie eine tiefe Bergschlucht.
Großer Schatten trat mit hocherhobenem Kopf vor Schildkrötenschwanz, die von den übrigen Katzen neugierig umringt wurde. Grauer Flug war beeindruckt, wie edel und würdevoll die Anführerin aussah und wie selbstbewusst sie wirkte. Sie wird Schildkrötenschwanz doch nicht fortschicken? Dennoch machte er sich auf eine unangenehme Unterhaltung gefasst.
Großer Schatten neigte höflich den Kopf. »Sei gegrüßt, Schildkrötenschwanz«, miaute sie. Dann deutete sie mit dem Schwanz auf den geschwollenen Bauch der Kätzin und fügte hinzu: »Und Glückwunsch. Wer ist der Vater?«
Schildkrötenschwanz trat verlegen von einer Pfote auf die andere. »Es gibt keinen Vater«, erwiderte sie, »zumindest keinen, dem ich meine Jungen anvertrauen würde.«
Großer Schatten sah zu Grauer Flug hinüber, die anderen Katzen fingen an zu tuscheln. Dann begriff die schwarze Kätzin. Schildkrötenschwanz hat bei Zweibeinern gelebt und bekommt jetzt Junge von einem Hauskätzchen. Je weniger darüber gesprochen wird, desto besser.
Großer Schatten holte tief Luft und wandte sich an die Gruppe: »Gute Neuigkeiten! Schildkrötenschwanz ist an den Ort zurückgekehrt, wo sie hingehört, und sie wird bald Junge haben. Noch mehr Katzen, die unsere Gruppe stärker machen werden!«
»Oder noch mehr Mäuler, die gestopft werden wollen«, widersprach Brechendes Eis. »Wie kannst du sie nur wieder bei uns aufnehmen, nachdem sie uns so verraten hat?«
Großer Schatten fuhr mit gesträubtem Fell herum. »Wenn du wirklich solche Angst hast, wir könnten verhungern«, fauchte sie, »dann solltest du besser jagen gehen.«
Brechendes Eis öffnete das Maul und wollte protestieren, sah dann aber Großer Schattens warnenden Blick. Leise murrend machte er kehrt und tappte den Hang hinauf davon.
Grauer Flug schaute ihm nach. Er spürte, wie sehr Brechendes Eis es hasste, vor allen Katzen so gedemütigt zu werden. Er war einer der wichtigsten Führer gewesen auf ihrem Weg von den Bergen hierher. Aber Großer Schatten ist unsere Anführerin, seit Schattiges Moos ihr diese Aufgabe übertragen hat, und hat nun mal das letzte Wort.
Grauer Flug drehte sich zu den anderen um und stellte fest, dass auch Donner Brechendes Eis aufmerksam hinterhersah.
»Ich möchte auch jagen gehen«, miaute das Junge.
»Nicht jetzt«, sagte Grauer Flug. »Lass Brechendes Eis lieber in Ruhe, bis er seine schlechte Laune vergessen hat.« Der Kater war schon immer etwas reizbar gewesen. Und es ist sicher schwer für ihn: Da hat er so hart an diesem neuen Lager gearbeitet, und dann kommt einfach Schildkrötenschwanz zurück, die die ganze kalte Zeit über weg war, und setzt sich in ein gemachtes Nest.
»Komm hier herüber, Schildkrötenschwanz.« Großer Schatten winkte die Kätzin zu einem Moosfleck. Grauer Flug schloss sich ihnen an, und die drei Katzen saßen gemeinsam da und beobachteten, wie Eichelfell und Blitzschweif Schmetterlinge jagten. Zackiger Berg humpelte herbei und ließ sich zögernd ein paar Schwanzlängen entfernt nieder, als sei er sich nicht sicher, ob er willkommen war.
»Zackiger Berg, was ist denn mit dir passiert?«, rief Schildkrötenschwanz entsetzt, als sie das verletzte Bein des jungen Katers entdeckte. »Ich dachte, du lebst bei Wolkenhimmel im Wald.«
»Da war ich auch«, erwiderte Zackiger Berg unglücklich und scharrte mit den Pfoten am Boden. »Aber dann bin ich vom Baum gefallen und hab mir das Bein gebrochen und Wolkenhimmel …« Seine Stimme erstarb.
»Wolkenhimmel hat beschlossen, nur gesunde Katzen bei sich zu haben«, beendete Großer Schatten den Satz für ihn. »Deshalb kam Zackiger Berg zu uns. Es wird vielleicht noch eine Weile dauern, aber irgendwann wird sein Bein sicher wieder ganz gesund.«
Schildkrötenschwanz sah Zackiger Berg freundlich an. Er nickte, aber Grauer Flug wusste genau, dass sein Bruder nicht wirklich daran glaubte, je wieder richtig laufen zu können.
»Das tut mir so leid«, miaute Schildkrötenschwanz voller Mitgefühl.
»Und?«, fuhr Großer Schatten fort. »Wie findest du unser neues Zuhause, Schildkrötenschwanz?« Ihre Augen blitzten interessiert auf. »Haben wir uns sehr verändert? Es ist so schön, dich wiederzusehen. Ich würde gern erfahren, wie es kommt, dass du wieder bei uns leben möchtest.«
Schildkrötenschwanz sah sich in der Senke um und betrachtete alles eingehend. Grauer Flug versuchte, die Katzen mit ihren Augen zu sehen: drall, glücklich und gesund, allesamt mit glänzenden Pelzen. Sie war beeindruckt von Großer Schattens Lager, das wusste er. Die schützende Ginsterhecke, die Felsen, die aus dem Boden aufragten, die breiten unterirdischen Baue.
»Seid ihr nicht froh, dass wir die Berge verlassen haben?«, fragte Schildkrötenschwanz schließlich und vermied es so, Großer Schatten zu antworten. »Wisst ihr noch, wie die Steinsagerin uns auf den Weg geschickt hat? Was hat sie noch gesagt? ›Aber für einige von uns gibt es einen anderen Ort voller Sonne und Beute für alle Zeitenwechsel.‹ Das scheint schon so lange her zu sein.«
Grauer Flug nickte zustimmend. Er dachte an Schildkrötenschwanz’ Schwung und Energie damals, ihre Hoffnung und ihren Mut, die so wichtig für die Gruppe waren, als die Reise schwierig wurde. Nun wirkte sie verändert, weise und reicher an Erfahrung. Wir sind alle nicht mehr dieselben. Grauer Flug blinzelte nachdenklich.
Während er seine Freundin beobachtete, verschwand der glückliche Ausdruck aus ihrem Gesicht. Grauer Flug wollte sie danach fragen, doch Großer Schatten kam ihm zuvor.
»Was ist?«, fragte sie. »Was ist los, Schildkrötenschwanz?«