Schaut man in die Welt, könnte man glauben, sie sei völlig verrückt geworden. Auf der einen Seite Kriege, Menschen, die auf der Flucht ertrinken, Klimawandel, durchgeknallte Diktatoren, Populisten und Rassisten an der Macht. Auf der anderen Seite so viel Wohlstand und technologischer Fortschritt wie noch nie. Stillstand gibt es nicht.
Vielleicht ist aber gar nicht die Welt verrückt geworden, sondern der Mensch? Es sind die Menschen, die Kriege anzetteln, andere Menschen ertrinken lassen, zu viel CO2 produzieren und ihre politische Macht missbrauchen. Es sind übrigens auch Menschen, die die durchgeknallten Diktatoren, Populisten und Rassisten wählen.
Wir alle lügen, provozieren, verarschen, haten und manipulieren manchmal. Wir fühlen uns angegriffen, wenn jemand eine Meinung ausspricht, die anders ist als unsere. Manche Menschen sind so sehr von ihrer Meinung überzeugt, dass man gar nicht mehr mit ihnen diskutieren kann.
Genau darum geht es in diesem Buch, um die dunklen Seiten des Menschen und der Gesellschaft. Nur wenn wir die dunklen Seiten kennen und verstehen, wie es dazu kommt, können wir besser mit ihnen umgehen. Mit den eigenen und denen der anderen. Und nur wenn wir etwas kennen und verstehen, können wir dafür sorgen, dass es uns und unserer Zukunft nicht schadet.
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»Wir schätzen die Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen – vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir.«
Mark Twain
In diesem Buch werden viele Fragen gestellt wie: Ist Lügen wichtig für die geistige Entwicklung? Kann jeder provozieren? Ist Meinungsfreiheit absolut? Seit wann lachen wir über Hitler? Wie denkt politischer Hass? Wollen wir in einem Überwachungsstaat leben?
Auf jede dieser Fragen findest du Antworten, verschiedene Blickwinkel und Perspektiven. Weil die Antworten aber nicht vollständig oder abschließend sein können, gibt es zusätzlich eine Reihe von Gedankenspielen, die ebenfalls Fragen stellen. An dich. Dabei kommt es nicht darauf an, dass du alles gleich auf Anhieb beantworten kannst. Entscheidend ist, dass du ins Nachdenken kommst und herausfindest, was dich persönlich interessiert und zu welchem Thema du dir gerne eine eigene Meinung machen möchtest.
Im letzten Kapitel geht es um Protest und gesellschaftliches Engagement. Auch deine Stimme wird in Zukunft mit darüber entscheiden, wie viel Gleichberechtigung wir in unserer Gesellschaft wollen, ob wir das Wahlalter auf 16 Jahre senken, was uns Europa wert ist und wer alles dazugehören soll. Aber auch, was wir für den Umweltschutz tun werden und wie viel Überwachung wir in unserem Alltag akzeptieren.
Am Ende wird es nicht möglich sein, alles zu verändern. Aber wir können das Schlimmste verhindern. Jeder kann den Blick auf sich selbst richten und sich folgende Fragen stellen: Von welcher Zukunft träume ich? Wofür will ich mich engagieren? In welcher Gesellschaft will ich leben?
Die Antworten darauf sind nicht immer einfach. Noch schwieriger ist ihre Umsetzung. Nur die Haltung, die man für ein Buch über die dunklen Seiten braucht, ist so einfach wie der Spruch auf einem Yogi-Tee-Beutel: »Lasst uns Lichter anzünden, statt über die Dunkelheit zu klagen.«
»Morgen kommt der Weihnachtsmann!« Obwohl jeder ab einem bestimmten Alter weiß, dass das nicht stimmt, wird diese Illusion nach wie vor in vielen Kinderzimmern lebendig gehalten. Für die meisten Kinder ist Weihnachten eines der spannendsten und aufregendsten Feste des Jahres: Die Familie kommt zusammen, es wird gut gegessen und man macht sich gegenseitig Geschenke. Kein Wunder also, dass Weihnachten bei Kindern so beliebt ist. Trotzdem sind die Geschichten vom Weihnachtsmann und Christkind letztlich Lügen – oder nicht? Millionen von Eltern lügen ihre Kinder an, wenn sie ihnen erzählen, dass der Weihnachtsmann und der Osterhase wirklich existieren. Aber das scheint unter die Art von Lügen zu fallen, über die man nicht böse ist und die man den eigenen Eltern später auch nicht weiter verübelt.
Im Alltag sieht das meist anders aus. Da wird niemand gern belogen. Trotzdem lügt jeder Mensch mehrmals am Tag, obwohl er höchstwahrscheinlich versucht, nur in dringenden Not- und Ausnahmefällen zu lügen (oder an Weihnachten, wenn man kleine Kinder hat!). Überhaupt wird selten leichtfertig oder grundlos gelogen. Meistens lügt man aus Höflichkeit, Scham, Not, Selbstschutz, Unsicherheit oder aus Angst. Es gibt also durchaus berechtigte Gründe dafür, warum man lügt. Und trotzdem möchte niemand als Lügner gelten.
Was ist ganz allgemein gesagt das Ziel einer Lüge? Meist dient sie dazu, sich selbst einen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen. In Wirtschaft und Politik ist die Lüge häufig von der Gier nach Macht getrieben. Wer lügt, will aber manchmal auch einfach nur Verwirrung stiften. Politiker wie Donald Trump und Boris Johnson zum Beispiel wissen, wann sie lügen, und können abschätzen, was sie damit anrichten. Dabei geht es gar nicht unbedingt darum, andere von der eigenen Lüge zu überzeugen. Man wiederholt sie einfach so oft, bis auch andere an den Fakten zweifeln. Wenn hinterher niemand mehr genau weiß, was eigentlich wahr ist und was nicht, dann fällt es nicht mehr so auf, dass man gelogen hat. Man hat dann die gewünschte Verwirrung erzeugt und kann weiter für seine Ziele und Interessen kämpfen. Beim Lügen in der Politik geht es also in erster Linie um Manipulation und Demonstration von Macht. Das beinhaltet auch die Schwächung des Gegners (vgl. hierzu auch Kapitel 4: HATEN und Kapitel 5: MANIPULIEREN).
Generell genießt die Lüge keinen besonders guten Ruf. Schon gar nicht im Alltag. Lügner, die auffliegen, gelten als egoistisch, skrupellos, berechnend und unzuverlässig. Kurz gesagt: Wer viel lügt, wirkt für andere schnell unsympathisch. Wer lügt oder flunkert, lässt sich dabei am besten nicht erwischen. Denn wer lügt, handelt unmoralisch und verspielt das Vertrauen anderer Menschen. Würden alle Menschen permanent lügen, könnte man sich auf niemanden mehr verlassen. Das wiederum gefährdet nicht nur private Beziehungen, sondern macht auch politisches Handeln unmöglich. Wie soll man Verträge und Abkommen aushandeln, wenn man nie weiß, ob das Gegenüber gerade die Wahrheit sagt oder lügt? Wie kann man soziale Beziehungen ohne Vertrauen aufbauen?
Gedankenspiel: Lügen, die die Welt verändert haben
01.
Die Macht der Päpste hat mit einer Lüge begonnen: In einer gefälschten Urkunde überträgt der römische Kaiser Konstantin (280 – 337 n. Chr.) der katholischen Kirche die Herrschaft über Italien, Rom und die Westhälfte des Römischen Reiches.
02.
Die Protokolle der Weisen von Zion: Unbekannte Autoren veröffentlichen 1903 Dokumente über ein vermeintliches Treffen von jüdischen Weltverschwörern. Obwohl sich recht schnell herausstellt, dass die Texte frei erfunden sind und das Treffen nie stattgefunden hat, bleibt die Lüge in der Welt und nährt bis heute den Antisemitismus, den Hass auf Juden.
03.
»Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!« Diesen Satz sagt DDR-Staatschef Walter Ulbricht (1893 – 1973) am 15. Juni 1961 während einer Pressekonferenz. Nur zwei Monate später ist die Berliner Mauer gebaut und wird erst wieder im Jahr 1989 geöffnet!
04.
Das Opfer einfach zum Täter erklären: 1939 behauptet Adolf Hitler (1889 – 1945), Polen habe Deutschland angegriffen. Es war selbstverständlich umgekehrt. Warum er das tut? Um in der Öffentlichkeit seinen illegal ausgeführten Blitzkrieg gegen Polen und andere europäische Länder zu rechtfertigen.
05.
Zwei Lügen für den Krieg: Der US-Außenminister Colin Powell behauptet 2003 vor den Vereinten Nationen, der irakische Diktator Saddam Hussein sei verantwortlich für die Anschläge von 9/11 und sei im Besitz von Bio- und Chemiewaffen. Nichts davon kann später bewiesen werden. Dennoch dienten auch diese zwei Lügen als Argumente dafür, einen Krieg gegen Afghanistan und den Irak zu beginnen.
Frag mal deine Geschichtslehrer, Eltern und Freunde!
Kennen sie diese großen Lügen oder andere Lügen, die die Welt verändert haben?
So oder so ähnlich könnte man gegen das Lügen argumentieren. Der größte Kritiker der Lüge war wahrscheinlich der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804). Für ihn hat jeder Mensch ein Recht darauf, dass andere sich ehrlich und wahrhaftig verhalten. Nicht einmal das Lügen aus einer Not heraus war aus seiner Sicht vertretbar. Darf man einem Mörder den Ort verraten, an dem sich sein Opfer aufhält? Für die meisten wäre das eine klare Entscheidung: Nein. Eine Ausnahme hiervon könnte sein, wenn der Mörder einem selbst mit dem Tod droht, man also aus Selbstschutz den Ort verrät. In der Regel sollte man aber lügen, um das Opfer zu schützen, oder nicht?
Der Philosoph Immanuel Kant hat hierzu eine andere Ansicht, denn für ihn steht das Prinzip der Wahrheit über dem Wert eines einzelnen Menschen. In Kants idealer ethischer Welt hat jeder Mensch eine Pflicht zur Ehrlichkeit, selbst in Momenten, in denen andere dadurch zu Schaden kommen. Denn wer lügt, verspielt nicht nur das Vertrauen anderer, sondern verletzt auch eine ethische Pflicht gegenüber sich selbst. Immanuel Kant hat bezüglich dieser Pflicht den kategorischen Imperativ geprägt: »Handle nur nach der Maxime, von der du willst, dass sie zu einem allgemeinen Gesetz wird.« Was bedeutet das? Es ist ein Prinzip, das einem dabei helfen soll, sich der Folgen seines eigenen Handelns bewusst zu werden. In Kants idealer Welt würde jeder Mensch einen Moment lang nachdenken, bevor er handelt. Vor jeder Handlung müsste man sich laut Kant nämlich fragen: Würde ich wollen, dass alle so handeln? Würde ich wollen, dass alle jederzeit lügen können?
Es gibt noch einen weiteren Grund, der zeigt, dass Kants Imperativ dem wahren Leben nicht standhält und weshalb Menschen wahrscheinlich niemals aufhören werden zu lügen. Was für Immanuel Kant gegen die moralischen Regeln der Gesellschaft verstößt, ist im Alltag nahezu normal. Im Durchschnitt lügt ein Mensch mehrmals pro Tag. Forscher behaupten sogar, dass Lügen eine Fähigkeit ist, die man erlernen kann. Eine Fähigkeit übrigens, die nicht jeder gleich gut beherrscht. Wie bei allen Fähigkeiten gilt auch hier: Früh übt sich. Im Alter von zwei bis drei Jahren beginnen Kinder zu schwindeln und zu lügen, sie lernen zu manipulieren. Das sei sogar notwendig für die geistige Entwicklung. Denn Lügen erfordert, dass man sich in andere hineinversetzt. Eine gekonnte Lüge setzt neben Intelligenz auch Empathie und Fantasie voraus. Und so verrückt das auch klingt, aber wer selbst nicht imstande ist, zu lügen, wird auch andere schlechter durchschauen und nicht erkennen, wenn man selbst belogen wird. Daher ist es unter anderem auch so wichtig, sich mit dem Lügen auseinanderzusetzen. Erst wenn man versteht, warum man selbst lügt, kann man besser verstehen, warum und wann andere es tun. Meistens sind es keine großen Lügen, sondern es beginnt vielleicht mit der Frage »Hi, wie geht’s dir?«, auf die man antwortet »Alles in Ordnung«, obwohl das gar nicht stimmt. Eine typische Alltagslüge, die sich ganz automatisch in das Leben schleicht und zur Gewohnheit werden kann. Häufig gibt es mal mehr mal weniger »gute« Gründe, aus denen man lügt: Gewohnheit, Bequemlichkeit, Höflichkeit oder Angst.
Wie oft hast du im Kindergarten und in der Grundschule gehört, wie toll und großartig das Bild ist, das du gemalt hast, obwohl es rückblickend offensichtlich nicht so gelungen war? Einverstanden, »Schön« ist relativ, aber in manchen Situationen lügt man eben einfach, um andere nicht zu verletzen. Die meisten Alltagslügen sind daher auch kleine, sogenannte weiße Lügen. Sie dienen vor allem einer Sache: unangenehme Situationen zu vermeiden und dabei anderen (und sich selbst!) ein gutes Gefühl zu geben. Sie sind also auch bequem. Wenn einem zum Beispiel der neue Pullover eines Freundes nicht gefällt, dann sagt man ihm das nicht unbedingt. Oder wenn man der Meinung ist, dass die neue Kurzhaarfrisur nicht so toll aussieht, wie erwartet, und die langen Haare vorher besser aussahen. Abgesehen davon, dass man daran in diesem Fall ohnehin nichts mehr ändern kann, ist es manchmal besser, nicht die Wahrheit zu sagen. Eine Notlüge, oder auch Höflichkeitslüge, kann uns im richtigen Moment dabei helfen, andere nicht zu verletzen. Aus Höflichkeit lügt man, wenn man einer Freundin sagt, man finde ihren neuen Freund ganz nett, obwohl man ihn überhaupt nicht ausstehen kann. Oder man macht einem Freund vor, dass man nicht zu seiner Geburtstagsfeier kommen kann, weil man krank sei. In Wirklichkeit hat man aber keine Lust oder man ist bereits mit einer anderen Person verabredet, die einem wichtiger ist. Bei solchen Höflichkeitslügen verschweigt man seine wahren Absichten, um einer unangenehmen Situation aus dem Weg zu gehen.
Allerdings kann Lügen auch sehr anstrengend sein. Man muss über seinen eigenen moralischen Schatten springen und in Kauf nehmen, dass man ein schlechtes Gewissen hat, sich schuldig oder gar schäbig fühlt. Das kann besonders schnell in engen Beziehungen vorkommen, denn hier spielt Vertrauen eine große Rolle. Betrügt man zum Beispiel seinen Partner, fühlt man sich hinterher möglicherweise schuldig. Man merkt aber, dass einem der Seitensprung nichts bedeutet, und man will nach wie vor mit seinem Partner zusammenbleiben. Nun das Dilemma: Sollte man seinem Partner davon erzählen oder sollte man ihn und seine Gefühle schützen? Wichtig ist an dieser Stelle, warum man seinen Fehltritt gesteht. Tut man es, um das eigene Gewissen zu erleichtern, und nimmt damit in Kauf, seinen Partner zu verletzen? Oder sollte man schweigen, damit sich der Partner weiterhin gut fühlt und er nicht unter dem eigenen Fehltritt leiden muss?
Gedankenspiel: Warum werden Geschichten erfunden?
zur Unterhaltung: Romane, Filme, Serien
um Produkte zu verkaufen: Werbung, PR, Storytelling
für eine gute Sache: erfundene Holocaust-Biografien
um moralische Werte zu rechtfertigen: Bibel, Koran, Grundgesetz
um Karriere-Chancen zu erhöhen: Lebenslauf, Qualifikationen, Doktorarbeit
um Kinder nicht mit Ereignissen zu konfrontieren, die sie noch gar nicht wirklich verstehen können: brutale Kriege, Verbrechen, Katastrophen, der Tod von nahen Verwandten
um Reportagen glaubwürdiger zu machen (zum Recherchieren: Relotius-Affäre)
Gedankenspiel: Aus welchem Grund würdest du lügen?
um eine andere Person nicht zu verletzen
um sich oder andere zu schützen
um dazuzugehören
um anzugeben
um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen
um sich sicher zu fühlen
um sich selbst in den Vordergrund zu stellen
um seine Scham zu verstecken
um einer unangenehmen Situation zu entkommen
um sich einen Vorteil zu verschaffen
um an Einfluss zu gewinnen
um von anderen Mitleid zu erhalten?
Je komplexer eine Lüge ist, desto mehr Gedanken muss man sich darüber machen, ob die eigene Geschichte auch überzeugend und logisch klingt. Um das Konstrukt aufrechtzuerhalten, müssen auch die Gefühle authentisch sein. Man darf die Geschichte nicht ändern, man muss sich seine eigene Lüge also gut merken. Es braucht also viel Einsatz, um überzeugend zu lügen. Und dann die Angst: Fliegt die Lüge am Ende doch noch auf? Jemand könnte einen verraten. Oft ist schon allein die Vorstellung ziemlich unangenehm, der andere könnte herausfinden, dass man ihn angelogen hat. Vor jeder Lüge muss man sich gut überlegen, ob das Lügen selbst nicht unangenehmer ist, als einfach die Wahrheit zu sagen. Lügen ist also nicht nur eine Fähigkeit, die die geistige Entwicklung fördert. Jede Lüge setzt auch eine Entscheidung voraus: Lohnt es sich hier und jetzt wirklich zu lügen? Und verkrafte ich es psychisch, diese Lüge zu erzählen?
Gedankenspiel: Heiligt der Zweck die Mittel?
01.
Du wirst aufgefordert, ein Flugobjekt abzuschießen, und musst dich zwischen zwei Flugzeugen entscheiden: Das eine ist mit 100 Häftlingen besetzt, das andere mit acht erfolgreichen Wissenschaftlern. Es ist vereinbart, dass Regierung und Medien hinterher behaupten, das Flugzeug sei aufgrund eines technischen Fehlers abgestürzt. Niemand wird also erfahren, dass du für den Tod der Menschen verantwortlich bist.
Welches der beiden würdest du zum Abschuss freigeben? Wie begründest du deine Wahl?
02.
Jemand erfindet Geschichten über das Leben als Gefangener im Konzentrationslager und verkauft sie als wahrhaftige Biografie. Dadurch soll ein wichtiges Thema in der Öffentlichkeit mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Darf man Geschichten erfinden, wenn sie einem vermeintlich guten Zweck dienen? Ist eine Lüge weniger schlimm, wenn sie für eine gute Sache erfunden wurde? Können die erfundenen Geschichten für Holocaust-Überlebende dennoch verletzend sein? Und schaden erfundene Berichte dem allgemeinen Vertrauen in die Geschichte, wenn sie irgendwann später auffliegen?
2014 war sie Unwort des Jahres: Lügenpresse. Gibt es die Lügenpresse oder ist das eine weitere Erfindung der Medien? Um es kurz zu machen: Ja, es gibt sie. Lügenpresse wurde im selben Jahr zum Unwort des Jahres erklärt, als es bei Demonstrationen und Pegida-Versammlungen lauthals auf der Straße gerufen wurde. Wer wiederum berichtete darüber? Die Medien, also genau die, die angeblich lügen würden. Was auch nicht ganz falsch ist, denn manchmal kann es wirklich vorkommen, dass eine Zeitung oder ein Journalist lügen. Das aber ist nicht das, was diejenigen meinen, die »Lügenpresse« rufen.
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Was mit Lügenpresse nicht gemeint ist:
dass sich die Presse (die es eigentlich nur im Plural gibt) hin und wieder täuscht
dass eine Zeitung oder Sendung manchmal falschliegen und Fehler machen
dass eine Zeitung oder Sendung unbewusst und in seltenen Fällen vielleicht auch mal bewusst Lügen verbreiten
Wenn von »Lügenpresse« die Rede ist, meint das vielmehr, dass »die da oben« systematisch manipulieren und »das Volk« zu ihrem Vorteil betrügen. Nicht selten fallen auf Pegida-Demos neben Lügenpresse daher auch Parolen wie »Volksverräter« und »Merkel muss weg«. Der Begriff hat ein hohes Identifikations-Potenzial, das sich für die Mobilisierung von Anhängerinnen und Anhängern perfekt eignet: »Wir gegen die!« Nichts anderes macht übrigens Donald Trump, wenn er die Medien als »Fake News Media« bezeichnet. Dabei ist es eher ungewöhnlich, dass ein Präsident, der selbst zur politischen Elite eines Landes gehört, die vermeintliche Medienelite offensiv angreift und als Lügenpresse beschimpft.
Lügenpresse ist also keine Medienkritik im herkömmlichen Sinne. Sie verbindet pauschale Vorurteile mit politischen Zielen. Pauschal ist allein schon der Begriff Lügenpresse: Gemeint sind sehr unterschiedliche Medienhäuser, von Zeitungen über Radio- bis hin zu Fernsehstationen. Was sich hinter der Lügenpresse versteckt, ist also alles andere als einheitlich und die Verschiedenheit der einzelnen Medien wird schlicht und einfach ausgeblendet. Politisch ist der Begriff, weil die Verbreiter von »Lügenpresse« nicht nur wollen, dass die Leute an eine Verschwörung der Medien glauben. Die Menschen sollen dafür auf die Straße gehen und die politische Situation beeinflussen. Bei manchen Menschen schlägt eine kritische Sichtweise auf die Medien dadurch in politischen Aktivismus um. Sie glauben seriösen Nachrichtenquellen kein Wort mehr und orientieren sich an »alternativen« Informationsquellen, um an »ihre Wahrheit« zu kommen (vgl. hierzu auch Kapitel 3: HATEN und 4: MANIPULIEREN).
Zahlreiche weitere Begriffe wie »Systemmedien«, »Mainstreammedien«, »Staatsfunk« und »gekaufte Journalisten« hauen in dieselbe Kerbe und wollen darauf aufmerksam machen, dass man den Medien angeblich nicht mehr trauen kann. Zwei Gründe, warum die Presse angeblich lügt, sind dabei besonders verbreitet: Entweder sollen die wichtigsten Medien durch die Politik kontrolliert werden. So behaupten zum Beispiel einige, dass die Bundeskanzlerin persönlich entscheidet, was berichtet wird. Oder es heißt, Journalisten würden von Wirtschaftsunternehmen finanziert und seien daher in ihrer Berichterstattung nicht neutral. In beiden Fällen wird den Medien also die für das demokratische Selbstverständnis so wesentliche Pressefreiheit aberkannt. Entweder sind sie von der Politik fremdgesteuert oder von der Wirtschaft gekauft. Die Vorwürfe, die daraus abgeleitet werden, lauten: Die Medien lügen und bevorzugen bestimmte politische Meinungen.
Seit 2014 erlebt der Lügenpresse-Vorwurf in Deutschland wieder ein starkes Comeback. Ob bei Pegida-Versammlungen, Anti-Merkel-Demonstrationen oder AfD-Kundgebungen – Lügenpresse ist wieder in Mode. Das Wort wird in Sprechchören gesungen und auf Plakate geschrieben. Die nicht wirklich neue Erkenntnis lautet daher: »Lügenpresse« ist auch heute wieder ein Wort, das bevorzugt in rechten Kreisen auftaucht. Ein Blick in die politischen Debatten zeigt, dass es der Begriff 2015 immerhin in den Bundestag geschafft hat. In erster Linie ist das Wort »Lügenpresse« aber ein Medienphänomen. Es wird von Demonstranten als politische Parole und Kampfbegriff eingesetzt und dementsprechend oft in den Medien gezeigt, thematisiert und geteilt. Im realen politischen Alltag des Bundestags spielt es bisher eine untergeordnete Rolle, auch wenn die Tendenz von 2015 bis 2019 leicht steigend ist. Die gute Nachricht: Es wird zwar auf Straßen öffentlich gebrüllt, ist aber bisher noch nicht als Kampfbegriff in den Bundestag vorgedrungen. Dennoch zeigt das Verhalten von Björn Höcke und der AfD eindeutig, dass sie eine feindliche Haltung und offenes Misstrauen gegenüber der Presse pflegen. Nicht zuletzt ist hier auch häufiger die Rede von »Systemmedien«. Man unterstellt den Medien, dass sie aktiv und einseitig das System stützen, indem sie Lügen verbreiten. Beweise oder Belege dafür gibt es bisher nicht. Man muss es aber nur oft genug wiederholen, damit es sich einprägt und man das Gefühl bekommt, dass da »etwas Wahres dran sein muss«. Tatsächlich ist das eine sehr beliebte Strategie von Querulanten: Sie wiederholen ihre Botschaften und Thesen so oft wie möglich, damit sie sich in die Köpfe der Menschen einbrennen. Das funktioniert sogar manchmal auch dann, wenn die genannten Thesen und Fakten falsch und frei erfunden sind (vgl. zum Thema Fake News & alternative Fakten auch Kapitel 4: MANIPULIEREN).
Ein anderer sehr verbreiteter Vorwurf gegen die Lügenpresse lautet: »Die meisten Zeitungen schreiben das Gleiche. Da kann doch etwas nicht stimmen! Die müssen sich doch abgesprochen haben! Oder zumindest arbeiten sie eng zusammen und wollen andere Meinungen ausgrenzen!«
Nicht selten kritisieren diejenigen, die »Lügenpresse« rufen, auch eine Gleichschaltung der Medien. Sie meinen damit, dass die meisten Vertreter der Presse häufig eine einheitliche Meinung vertreten. Selbstverständlich steckt hierin eine Pauschalkritik, die sich nicht beweisen lässt. Die zugrunde liegenden Thesen sind sogar äußerst unplausibel. Schaut man sich die Presse- und Medienlandschaft in Deutschland an, fällt vor allem auf, wie vielfältig sie sie ist. Es gibt Qualitätsmedien und Boulevard und dazwischen eine riesige Bandbreite an unterschiedlichen Medienhäusern und Informationskanälen. Genauso wird darin ein weites Spektrum an linken, liberalen und rechten Meinungen abgedeckt.
Journalisten sind dazu aufgefordert, sich am Grundgesetz und an den Grundrechten zu orientieren, daran könnte es liegen, dass Journalisten oftmals eine ähnliche Meinung zu einem bestimmten Thema haben. Was aber könnte daran falsch oder verlogen sein?
Wenn mit »Gleichschaltung« Nachrichten und Berichterstattung gemeint sind, kann man darin sogar ein Qualitätsmerkmal sehen. Berichten die meisten Zeitungen und Medien über die gleichen Ereignisse, dann heißt das nämlich erst einmal, dass sie nach ähnlichen Standards arbeiten und sich weitestgehend an dieselben Regeln halten. Genau das zeichnet den modernen Journalismus ja aus: dass es ähnliche Standards und Qualitätskontrollen für alle gibt. Das heißt konkret: Für alle Journalisten gilt der allgemeine Pressekodex, in dem die wichtigsten Regeln zusammengefasst sind. Dieses »Gesetzbuch für Journalisten« existiert seit 1973. Darin zusammengefasst sind zum Beispiel folgende ethische Grundsätze: Bei Berichterstattung sollen Journalisten neutral berichten und sich an Fakten orientieren. Sie sollen ihre Quellen angeben und eine ausgewogene Meinung vertreten. Außerdem muss das öffentliche Interesse immer an erster Stelle stehen. (Innerhalb der Medien gibt es natürlich Unterschiede wie Qualitätspresse und Boulevardpresse: Auch einzelne Journalisten unterscheiden sich darin, wie neutral, emotional oder meinungsstark sie berichten. Wichtig dabei ist allerdings nur das Kriterium, ob sie dabei gegen das öffentliche Interesse oder das Grundgesetz verstoßen.)
Ein anderer Grund könnte darin liegen, wie Journalisten aufgewachsen sind und an welche Werte sie glauben. So haben die meisten Journalisten studiert und während ihrer Ausbildung ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie verfügen über ein ähnliches Wissen und eine vergleichbare Bildung. Teilen sie darüber hinaus auch noch ähnliche Werte, wäre es kein Wunder, wenn sie auch ähnliche moralische Vorstellungen besitzen. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie sich abgesprochen oder verschworen haben. Das wäre sogar ein logischer Fehlschluss. Angemessen hingegen ist der Wunsch nach mehr Meinungsvielfalt und mehr Stimmen im Journalismus, die andere Sichtweisen und Perspektiven auf die Gesellschaft zulassen. Wie viele Journalisten stammen zum Beispiel aus Arbeiter- und Migrantenfamilien? Und wie viele kommen aus Akademiker-Familien, in denen Bildung von Anfang an einen hohen Stellenwert hatte? Sollten Journalisten nicht idealerweise aus allen Schichten und Bereichen der Gesellschaft kommen?