Gleichwürdig leben, nicht perfekt sein müssen, um Kinder dennoch gut zu erziehen, das ist Jesper Juuls Botschaft, mit der er Hundertausenden Eltern vom Nordkap bis Sizilien das Erziehungsgeschäft erleichtert. Das Resumée seines ungewöhnlichen Lebens wirft ein neues Licht auf sein Werk und auf den Mann, der mit dänischer Geradlinigkeit, Witz und Charme, gekoppelt mit einem großen Einfühlungsvermögen für Familien, zum einflussreichsten Berater unserer Zeit wurde.
Was bewog ihn, den Weg vom Seemann zum Familientherapeuten einzuschlagen? Warum hält er die Kinder für unsere bedeutendsten Lehrer? Was bedeutet Gleichwürdigkeit in seinem persönlichen Leben? Dieses Buch erzählt von einem außergewöhnlichen Weg, der von unsicheren Zeiten, tiefen Brüchen und Schicksalsschlägen ebenso geprägt ist wie von großen Erfolgen und einer unbändigen Lebenslust.
Willst du Gott zum Lachen bringen,
erzähl ihm von deinen Plänen.
Amerikanisches Sprichwort
Wurzeln. Und Flügel
Meine Mutter
Mein Bruder
Mein Vater
Sprechendes Schweigen
An der Peripherie
Feuer
Im Exil
Das Kind und die Liebe
Zufluchtsort Wald
Schule und Gehorsam
14 Jahre alt
Das Ende meiner Schulzeit
Auf dem Meer
Die MS Cambodia
Als Küchenjunge Koch
An Bord
Auf Heimaturlaub
Aarhus. Meine Lehrjahre
Seminarium und Universität
Der erste Arbeitsplatz
Die existenzielle Dimension
Elternarbeit. Die Anfänge
Walter Kempler
Single-Mütter
Kindliche Kooperation
Das Kempler Institut
Katja. Nicolai
Der Aufbau
Feedback als Prinzip
Das Ende
Die Wissenschaft und ich
Zahlen
Zwei Arten von Wissen
Meine Bücher
Sechs Säulen meiner Arbeit
Selbstgefühl
Gleichwürdigkeit
Die professionell-persönliche Entwicklung
Persönliche Autorität
Der aufrichtige Dialog
Beziehungskompetenz
Mutter, Vater, Kind
Von Bildern und Moden
Schuldgefühle der Eltern
»Fuck you«
Kindliche Schuldgefühle
Kinder wollen Aufrichtigkeit
Kroatien
Meine Arbeit im »Balkankrieg«
Flucht und Vertreibung
Heimweh
Jahre der Stille
Die Krankheit
familylab international
Der Sinn des Lebens
Danke
Bücher & DVDs
Bücher
DVDs – eine Auswahl
Über familylab
Am 18. April 1948 wurde ich in Vordingborg, einem kleinen Küstenstädtchen im Süden Seelands, im Nachkriegsdänemark geboren. Das Land war damit beschäftigt, sich von fünf schrecklichen Jahren deutscher Besatzung zu erholen, vom Anblick exekutierter Nazi-Kollaborateure, wir Familien lebten noch von Essensmarken. Meine Eltern stammten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, mein Großvater väterlicherseits war selbstständiger Maler und Anstreicher, der Vater meiner Mutter selbstständiger Sattler. Meine Eltern lernten sich über eine Partneranzeige kennen, was damals auf dem Land nicht unüblich war. Beide waren sie die jüngsten von vier Geschwistern. Meine Geburt verlief ohne besondere Vorkommnisse – für meine Mutter aber war sie ein herausragendes Ereignis: Sie bedeutete die Erfüllung eines lebenslangen Traumes.
Meine Mutter entpuppte sich von Beginn meiner Kindheit an als sehr besitzergreifend: Ich war ihr Junge, ich war ihr kleiner Mann. Den Geschichten, die man mir später erzählt hat, entnehme ich, dass ich von meinem ersten Tag an gegen diese Rolle protestiert habe. Ihre Reaktion auf meinen Protest war, noch hartnäckiger um meine Liebe und Anerkennung zu kämpfen. Ihr Leben lang. Das war krankhaft. Heute ist sie 96, hat Alzheimer und ist sehr glücklich. Sie lebt in Ebeltoft, wohin wir neun Jahre nach meiner Geburt gezogen sind.
Meinem Vater wiederum schenkte sie, soweit ich zurückdenken kann, so gut wie keine Beachtung. Und er forderte nichts ein. Als ich dreieinhalb Jahre alt war, kam er eines Tages von der Arbeit nach Hause und nahm meine Mutter mit in ihr gemeinsames Schlafzimmer im oberen Stockwerk der Wohnung. Mir wurde gesagt, ich solle unten bleiben und mit meinem kleinen Bruder spielen. Doch wie gewöhnlich gehorchte ich nicht. Ich ging die Treppen hoch, und während ich vor der Schlafzimmertür stand, hörte ich meinen Vater sagen, dass er sich in eine andere Frau verliebt habe und sich von meiner Mutter scheiden lassen wolle. Dagegen protestierte meine Mutter, wobei es ihr wohl gar nicht so sehr um ihn und das gemeinsame Eheleben ging, sie brachte vor allem uns Kinder ins Spiel: Wegen uns dürfe er sie nicht verlassen. Mit diesem einen Argument hämmerte sie auf ihn ein. Ich spürte es schon damals: Gleich würde er aufgeben, denn das tat er immer. Was ich in diesem Augenblick genau gedacht habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich bin rasch die Treppen hinuntergelaufen und dabei gestürzt – die Bescherung war eine große, blutende Kopfwunde. Meine Eltern kamen aus dem Schlafzimmer heraus, und ich hörte meine Mutter sagen: »Siehst du, wie er dich braucht!«
Meine Mutter; leider besitze ich kein Foto meines Vaters.
Meine Mutter und ich.
Auch meine Beziehung zu meinem jüngeren Bruder Peter hat unter meiner Mutter gelitten. Meine Mutter zerstörte sie, falls sie überhaupt jemals existiert hatte. Ich war für meine Mutter immer die Nummer eins. Weil sie mich wollte, aber nie bekam. Peter, 1951 geboren, war immer die Nummer zwei, und das hat er deutlich gespürt. Für mich war es hilfreich, dass ich eine Distanz zu meiner Mutter herstellte, mich von ihr stark separierte.
Wie üblich, reagierten wir Geschwister unterschiedlich. Wir beide »kooperierten«, ich, indem ich mich »schwierig« verhielt, und mein Bruder, indem er ihr das gab, was sie erwartete, und gehorchte. Unser beider Verhalten würde sich in unseren späteren Beziehungen zu Frauen als hinderlich erweisen. Während ich Nähe mied, wurde mein Bruder schnell abhängig und war stets bemüht, andere zufriedenzustellen. Schließlich gelang es uns beiden, ein gesünderes Gleichgewicht zu finden – aber leicht war es nie. Aus heutiger Sicht betrachtet, könnte dies der Beginn meines lebenslangen Interesses für den Konflikt zwischen persönlicher Integrität und Kooperation gewesen sein. Auch heute noch, obschon abhängig von meinen Betreuern und Betreuerinnen, tendiere ich dazu, ihre Bedürfnisse zu priorisieren. Als Erwachsener ist mir der Konflikt jedoch bewusst, und so gelingt es mir größtenteils, auf meine eigenen Bedürfnisse zu achten.
Meine Mutter fing dann an, meinen jüngeren Bruder zu ihrem »Projekt« zu machen – und er fügte sich in seine Rolle. Er hat es mir nie verziehen, dass ich mich der Familie entzogen hatte. Er mochte unsere Mutter genauso wenig wie ich, aber er versuchte, das Vakuum, das ich in der Familie hinterlassen hatte, zu füllen. Schwierig und trotzig zu sein gehörte schon mit fünf oder sechs Jahren zu meiner Identität. Auf diese Weise konnte ich mich der Familie erfolgreich entziehen – sie ließ mich in Ruhe und erwartete nichts.
Mein Bruder (dritter von rechts), vier meiner Cousinen und ich.
Mein Großvater väterlicherseits erhält eine Auszeichnung des Königs für seine Unterstützung der Jugend seiner Heimatstadt, 1959.
Ich erinnere mich noch an folgende Situation vor über 60 Jahren: Mein Vater kommt von der Arbeit nach Hause, er setzt sich an den Tisch und liest Zeitung. Nun wollte ich als kleiner Junge jedoch, dass er mir aus meinem Märchenbuch vorliest. Ich ging also zu ihm hin, bat ihn darum, und was geschah? Er schaute mich nicht einmal an, sondern meine Mutter. Und die verstand seinen Blick: »Nimm ihn weg, er stört mich!« Als »gute Frau« hätte sie mich sogar auf dem Weg zu ihm aufgehalten und mir vorwurfsvoll gesagt: »Siehst du nicht, dass dein Vater Zeitung liest? Du darfst ihn nicht stören!«
Solche Blicke und solche Sätze verletzen ein Kind zutiefst! Aber früher war es gang und gäbe, dass Kinder dafür, dass sie mit den Erwachsenen Kontakt aufnehmen wollten, zurechtgewiesen oder sogar bestraft wurden. Welch eine Enttäuschung und Kränkung für ein Kind, das seinen Vater zehn Stunden lang nicht gesehen hat, sich auf ihn freut und auf ihn zugeht – und dafür dann beschimpft und zum »bösen Jungen« gemacht wird! Wie sollten Kinder da nicht verwirrt sein? Sind Erwachsene nicht recht widersprüchliche Wesen? Sie verlangen von dir, dass du fremde Menschen küsst, aber wenn du dich deinem eigenen Vater nähern willst, erlauben sie es nicht.
Meinen Eltern kann ich, wenn man bedenkt, in welcher Zeit sie uns Kinder großgezogen haben, gar nichts vorwerfen. Damals führte man keine Dialoge mit Kindern. Eltern besprachen mit ihren Kindern nur das Notwendigste, und auch Mann und Frau unterhielten sich so wenig wie möglich.
Mein Vater hat in all den Jahren meiner Kindheit und Jugend kaum mit uns gesprochen, und wenn er mal etwas sagte, dann kurz und bündig. Meine Mutter hingegen redete die ganze Zeit, aber sie wusste nicht, wie man ein Gespräch führt. Sie wusste immer, was man in der einen oder anderen Situation zu sagen hat, so, wie es von einem erwartet wird. Sie hatte also Phrasen für den Todesfall, für Glückwünsche, für Unfälle oder Krankheiten parat, aber sie hat es nie zu ihrer eigenen Sprache gebracht. Sie sprach eine Sprache, die ich nie lernen konnte und lernen wollte, sodass ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, was man sagt. Statt zu sprechen, schwieg auch ich lange Zeit, aus dem einfachen Grund, weil mir eine persönliche Sprache fehlte. In diesem familiären Kontext war es mir unmöglich, meine persönliche Sprache zu entwickeln. Die elementare Sprache, mit der Kinder geboren werden, bedurfte aus Sicht der Erwachsenen einer unnachgiebigen Korrektur, und so wurde damals das direkte »Ich will!« oder »Ich will nicht!« schnellstmöglich ausgemerzt, in der Schule sowieso. Kein Satz durfte mit »Ich« anfangen.
Meine Eltern blieben also zusammen – aber von dem Tag an, als mein Vater den Wunsch nach einer Trennung ausgesprochen hatte, waren beide unglücklich. Meine Mutter übernahm jetzt die komplette Kontrolle über ihren Mann, und mein Vater verschwand im Schatten seiner Frau, bis wir schließlich einen Fernseher bekamen, hinter dem er sich von sechs bis zehn Uhr abends verstecken konnte.
Intuitiv spürte ich schon damals, dass meine Eltern mir nichts Bedeutendes geben konnten – außer Essen, Kleidung und einer Schlafstätte. Das Elternhaus zu verlassen war aber noch nicht möglich: Ich war zu klein. Also fand ich meinen Platz in der Peripherie meiner Familie – eine gute Lage, um zu lernen, wie man mit sehr wenig überleben kann, aber auch, um ein guter Beobachter zu werden.
Ich, zweieinhalb Jahre alt.
Von dem Tag an, als ich dreieinhalb Jahre alt war und sich mein Vater von meiner Mutter scheiden lassen wollte, gab es in der Familie eine anhaltende Krise, sodass zu Hause eine ungute Atmosphäre herrschte. Wie alle Kinder habe ich auf diese Krise reagiert und wurde ein »schwieriges« Kind. Das veranlasste mich, eines Tages ein großes Feuer in unserem Keller anzufachen, aber ich hätte ebenso gut auch anfangen können zu stehlen oder etwas anders anstellen können.
Der Versuch, unser Haus abzufackeln, scheiterte jedoch, und so zündete ich als Nächstes den Kindergarten an. Nach diesem erneuten »Vorfall« hatte ich großes Glück: Eine Schulpsychologin wurde konsultiert und sprach mit mir und mit meinen Eltern. Und sie kam zu dem Schluss, dass ich gute Gründe für das hatte, was ich tat. Aber anstatt meine Eltern mit ihrer Einschätzung zu konfrontieren, was damals, in den 1950er-Jahren, unmöglich war, fand sie eine gute Ausrede: Sie sagte, dass ich mich einfach langweile, ich sei einfach zu intelligent, um noch den Kindergarten zu besuchen. Stattdessen riet sie meinen Eltern, mich so rasch wie möglich in die Schule zu schicken. Und so bin ich mit sechs in die Schule gekommen. Und ich glaube, dass es mir sehr geholfen hat. Aber genau kann ich mich an diese Zeit meiner frühen Kindheit nicht erinnern. Kinder, die eine schwierige Kindheit hatten, können sich oft nicht erinnern. Einige können es vielleicht, ich nicht. Das meiste ist aus meinem Gedächtnis herausgelöscht.
Wie gesagt, ich habe bis zum Alter von sechs, sieben Jahren große Gedächtnislücken. Und wenn ich später versucht hätte, meine Mutter irgendetwas zu fragen, hätte sie sofort in ihren durch und durch narzisstischen Modus geschaltet und jede Frage als Angriff auf sich gesehen: »Warum bist du immer so unzufrieden? Warum kritisierst du mich ständig?« Mehr hätte sie nicht gesagt. Ich hätte kein Stück mehr an Informationen aus ihr herausgeholt. Und aus meinem Vater ebenso wenig. Er war in dieser Hinsicht ebenfalls unfähig, zu sprechen.
Es stellte sich heraus, dass ich sehr gern in die Schule ging. Ich lernte gut, sodass die Sorgen meiner Eltern nicht mehr mir, sondern wieder ihrer Ehe galten. Mein Vater arbeitete als Verkäufer in einem großen Laden. Er war dafür verantwortlich, Kunden in deren Gardinen- und Teppichwahl zu beraten. Dies war für ihn eine tägliche Frustration, da seine Leidenschaft seit dem Alter von 14, 15 Jahren eigentlich der Malerei galt. Er hatte bereits viele Skizzen, Zeichnungen und Bilder angefertigt und wäre sehr gern auf eine Kunstakademie gegangen. Sein eigener Vater, von Beruf Maler und Anstreicher, wollte davon aber nichts wissen und forderte von ihm, einen bodenständigen Beruf zu ergreifen. Er finanzierte meinem Vater eine Lehre als Schaufensterdekorateur. Dem machte es Freude, Menschen in Sachen Farben und Materialien zu beraten – er war darin auch geschickt. Aber innerlich litt er. Kein Künstler, und der hätte mein Vater durchaus werden können, ist glücklich, wenn er statt Kunst Dekoration fabriziert.
Bereits als ich ungefähr vier Jahre alt war, habe ich gespürt, dass mir meine Eltern nicht das geben können, was ich brauche. Ich war klein und musste selbstverständlich bei ihnen bleiben, aber mental habe ich im Exil gelebt. Keiner hat sich dafür interessiert, wer ich war. So war ich de facto allein. Und weil es für mich immer schon so gewesen war, ging ich davon aus, dass sich jeder allein fühle. Heute fühlen sich immer weniger Kinder einsam. In dieser Hinsicht haben sich Eltern in den letzten 20 Jahren wirklich verbessert.
Damals jedoch war niemand daran interessiert, wer du bist, gleichgültig ob als Erwachsener oder als Kind. Da gab es keinen Unterschied. Und deswegen waren so viele Menschen einsam. Und so habe ich gedacht, dass alle Kinder in derselben Lage seien wie ich. Natürlich gab es damals einige Menschen, die verheiratet waren und das besser machten als meine Eltern. Die einen respekt- oder sogar liebevollen Umgang miteinander hatten und die existenziell sinnvolle Gespräche miteinander führten, aber das war sicherlich absolut die Ausnahme. Ich kannte es jedenfalls nicht. Und so habe ich mir eine eigene Welt zurechtfantasiert und habe mich in ihr auch wohlgefühlt! Den meisten Menschen macht die Einsamkeit zu schaffen, ich aber kenne gar keinen anderen Zustand. Aus mir konnte gar kein soziales Tier werden, ich habe nicht mal aus Versehen versucht, mich mit Menschen zu umgeben, nur um nicht allein zu sein, auch später als Therapeut nicht. Zum anderen bin ich äußerst befähigt, für mich selbst zu sorgen. Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert, was manchmal schwierig ist, denn wie soll man sich auf jemanden beziehen, der so unabhängig ist? Als Kind nahm ich an, dass alle Menschen so existieren.
Als ich neun Jahre alt war, verlor mein Vater seinen Job, und wir mussten in die Geburtsstadt meiner Mutter, nach Ebeltoft, ziehen. Einer der Brüder meiner Mutter war ein erfolgreicher Geschäftsmann und besaß einen Möbelladen. Mein Vater war gezwungen, eine Arbeit in diesem Laden anzunehmen – das bedeutete für ihn die endgültige Erniedrigung. Er bekam fürchterliche Kopfschmerzen und ein blutendes Magengeschwür. Nach der Arbeit musste er sich immer ausruhen. Deshalb legte er sich tagtäglich auf ein Bett, das sich in unserem Wohnzimmer befand. Zudem schluckte er Unmengen an Schmerztabletten. Wir sahen ihn nur selten – meist nur morgens, wenn er aufstand. Stets wurden wir angehalten, uns ruhig zu verhalten. Nicht allzu lange danach erkrankte meine Mutter an Tuberkulose und kam für ein Jahr in ein Rehabilitationszentrum für Lungenkranke. In dieser Zeit sorgten drei oder vier junge Mädchen für meinen Bruder und mich. Wenn eines ging, kam das nächste.
Meine Kindheit war also von den Krankheiten meiner Eltern überschattet. Die gesundheitlichen Probleme meines Vaters waren aus heutiger Sicht eindeutig psychosomatisch. Er lebte in einer schrecklichen Ehe und kam da nicht heraus. Er hatte nicht den Mut, meine Mutter zu verlassen. Es war für ihn wie in einem Gefängnis. Nur dass er den Schlüssel gehabt hätte. Er besaß jedoch nicht den Mut, für sich selbst einzustehen. Er hatte diesen Mut nicht gegenüber seinem eigenen Vater und auch nicht gegenüber seiner Frau. So war das! Man könnte einwenden, zu diesen Zeiten sei das eben nicht so einfach gewesen. Aber was soll das? Es ist nie einfach!
Wenn sich Leute heute scheiden lassen, ist es ja auch nicht einfach für sie. Für mich gibt es da keine Entschuldigungen. Für meinen Vater nicht, für mich selbst nicht, für niemanden. Wenn du mit deinem Leben nicht zufrieden bist, dann verändere es. Denn wenn du es nicht machst, wirst du deine eigene Familie damit kontaminieren. Dafür kann ich kein Verständnis aufbringen und auch keine Geduld.
Klienten sagen oft: »Das ist aber schwer!« Und ich sage: »Ja, das ist es. Aber hat dir jemals einer versprochen, dass es einfach werden würde? Weißt du, das Leben ist schwierig!« Oder wie es ein amerikanischer Professor ausgedrückt hat: »Das Leben ist hart und dann stirbst du.« Erwarte kein Glück.
Ich glaube aber, dass wir viel erreichen, wenn es uns gelingt, uns zu verändern, so wie ich es im Nachwort zu meinem Buch Liebende bleiben. Familie braucht Eltern, die mehr an sich denken geschrieben habe. Wenn wir unsere Vorstellung hinsichtlich der Ehe oder wie wir als Paar leben möchten, ändern. Weil wir noch immer so tun, als lebten wir wie vor 40 oder 50 Jahren. Dabei ist doch offensichtlich geworden, dass es so nicht funktioniert. Mein Vorschlag ist, dass wir für auf Liebe basierenden Beziehungen zwischen zwei Erwachsenen einen anderen, sinnvolleren Weg finden. Und ich bin überzeugt, dass viele öffentliche Institutionen bald Kurse und Seminare beginnen werden, die mit Eltern und Paaren zusammen erarbeiten, dass Liebesbeziehungen heute anders zu gestalten sind als früher. Die von mir gegründeten, international tätigen Familienwerkstätten »familylab« haben bereits damit angefangen.
Die meisten von uns haben in ihrem Leben drei, vier, manchmal fünf Liebesbeziehungen. Wie können wir unter diesen Voraussetzungen uns selbst und unsere Kinder darauf vorbereiten, enge Beziehungen zu bewahren und sie gleichzeitig zu ändern? Heute gehen wir noch davon aus, dass eine Trennung oder Scheidung nicht passieren sollte. Also müssen wir anfangen zu lernen, wie wir, wenn es denn geschieht – und es geschieht ständig –, damit am besten umgehen. Denn auch die Kinder werden die Erfahrung mit zwei oder drei Bonusfamilien machen, wenn sie aufwachsen. Und sie selbst werden zwei, drei Beziehungen hintereinander haben und nicht diese eine, »bis dass der Tod uns scheidet«. Statt daraus eine Tragödie zu machen, sollten wir darin im Jahr 2020 lieber eine grundlegende Komponente des Lebens sehen. Es ist eine neue Welt, in der wir leben.
Meine Mutter: »Alle netten Jungen wollen tanzen lernen, und du bist doch ein netter Junge.«
Ich habe es »Indianern« zu verdanken, dass das Leben in meinem Elternhaus, als ich etwa acht Jahre alt war, erträglich wurde. Sie kamen mir in Form eines »Indianerclubs« zu Hilfe, der damals von der größten Zeitung Dänemarks ins Leben gerufen worden war. Gierig verschlang ich die Indianerbeilagen der Zeitung – sie erschienen immer sonntags, besaßen ein hohes fachliches Niveau, sie waren gut geschrieben und anschaulich mit detailgetreuen Zeichnungen illustriert. Nach einigen Monaten der Lektüre entschloss ich mich, mir in dem nahe liegenden, nicht weit von unserem Haus in Ebeltoft entfernten Wald ein Tipi zu bauen. Die meiste Zeit war ich dort allein, manchmal aber auch mit Freunden. Nach und nach fing ich an, meine ganze Freizeit im Wald zu verbringen. Obwohl meine Eltern es nie ausgesprochen haben, bin ich mir sicher, dass sie insgeheim sehr froh waren, dass ihr Sohn endlich ein spannendes und lehrreiches Interessengebiet für sich entdeckt hatte, endlich ein »gesundes Interesse«, wie es damals hieß. Und deswegen erlaubten sie mir, das Haus zu verlassen. Ganz einfach. Ende des ersten Jahres hatte ich dort ein vollständig ausgestattetes Zuhause. Und irgendwie schienen meine Eltern verstanden zu haben, dass dies meine persönliche Angelegenheit war, in die sie sich nicht einzumischen hatten.
Auch erklärte ich mir ihre Erlaubnis damit, dass sich mein Vater für mich einsetzte, wenn ich nicht anwesend war. Und eine andere Theorie lautete, dass meine Eltern davon ausgingen, es sei sowieso nur eine Phase, die mit Einbruch der Kälte im Herbst aufhören werde. Doch tatsächlich ging es drei, vier Jahre so weiter, und in all den Jahren wurde ich von unserem Familienhund, einer schwarzen Dachsbracke, begleitet. Später, mit elf oder zwölf Jahren, habe ich dann auch draußen im Tipi übernachtet.
Ich liebte den Wald.