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Steinle, Andreas; Wenzel, Eike; Huber, Jeanette; Horx, Matthias
Zukunft machen
Wie Sie von Trends zu Business-Innovationen kommen. Ein Praxis-Guide
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E-Book ISBN: 978-3-593-40394-6
Über Trends und Trendforschung, Prognostik und Zukunftsforschung kursieren Gerüchte, Halbwahrheiten und falsche Vorstellungen. Aber im Grunde ist es ganz einfach: Trends beschreiben Veränderungsbewegungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Sie manifestieren sich tagtäglich auf den Märkten und in unseren Lebensweisen, in Kultur, Politik und natürlich im Business. Als gesellschaftliche »Driving Forces« nisten sie sich gewissermaßen in den Quellcodes unserer Welt ein und transformieren Wünsche und Gewohnheiten, Märkte und Institutionen. Diese Prozesse kann man analysieren, diagnostizieren und kartografieren. Das ist gewissermaßen »Basic Work« der Trendforschung, ihr »kognitiver« Teil.
Dass Trends konkret, analysierbar und systematisch aufspürbar sind und keinen »hippen« Neuigkeiten-Kitsch von obskuren Zeitgeist-Propheten darstellen, das soll Ihnen dieses Buch zeigen. Wir möchten aber auch darüber hinausgehen. Es geht nicht nur um die Erkenntnis von, sondern um die Arbeit mit Trends. »Zukunft machen« verstehen wir in einem wörtlichen Sinne, als praktische Anleitung, wie Sie sich anhand von Trends einen Wettbewerbsvorsprung verschaffen können.
Wir beziehen uns mit diesem Arbeitsbuch auf eine Tradition, die längst nicht mehr in den Kinderschuhen steckt. Große Unternehmen aller Branchen haben heute ihre eigenen Trend-Think-Tanks, oder arbeiten in einem Netzwerk mit Zukunftsforschern zusammen. Trend- und Zukunftsforscher sind in vielen Unternehmen längst zu bewährten Partnern bei der Entwicklung neuer Strategien geworden. Auch immer mehr Marktforscher und Sozialwissenschaftler erkennen, dass es nicht mehr darum gehen kann, stur numerisch Markt-Daten abzulesen. Sie integrieren Elemente der Trendforschung in die Marktforschung, oder bedienen sich zumindest des Vokabulars der Zukunfts-Branche.
Mit diesem Praxis-Guide möchten wir Ihnen unser seit Jahren gewachsenes Trendwissen zur Verfügung stellen. Aber mehr noch möchten wir Sie |8|selbst zu trendkompetenten Zukunftsagenten machen. In »Zukunft machen« erhalten Sie Antworten auf folgende Fragen:
Wie verändern Trends und Megatrends unsere Märkte von heute und morgen?
Wie kann ich Trends früher und zielsicher erkennen und in unternehmerische Praxis umsetzen?
Wie gewinne ich aus meinem Trendwissen die richtigen Strategien, um mich innovativ auf meinen Märkten positionieren zu können?
Wie sehen meine Kunden in der Zukunft aus? Wie verändern sie sich, und wie kann ich diese Veränderungen möglichst schnell begreifen und verarbeiten?
Welche Wünsche und Werte werden für die Konsumenten von morgen wichtig und wie reagieren avancierte Unternehmen schon jetzt auf veränderte Kundenbedürfnisse?
In den ersten beiden Kapiteln führen wir Sie an die historischen Wurzeln der Trend- und Zukunftsforschung und versorgen Sie in aller Kürze mit dem notwendigen theoretischen Rüstzeug. Wir zeigen Ihnen, auf welchen Modellen (und Missverständnissen) das Zukunftsdenken seit Jahrhunderten beruht. Und dann geht es auch schon in die Praxis. Wir lassen Sie über unsere Schulter schauen und gewähren Ihnen Einblick in Modelle und Methoden der Trend- und Zukunftsforschung.
Besonders wichtig ist uns dabei, dass jeder Schritt mit konkreten Übungsanleitungen, ausreichend Best-Practice-Beispielen und noch weiteren Lernmaterialien wie Checklisten und Charts begleitet wird. »Zukunft machen« ist im besten Sinne ein Workbook. Auf der CD-ROM finden Sie sämtliche Abbildungen, Tabellen und Übungen aus dem Buch, so dass Sie jederzeit und im Kollegenkreis damit arbeiten können. Außerdem beinhaltet die CD-ROM weitere Grafiken, die Sie selbstverständlich auch für Präsentationen einsetzen können. Je tiefer Sie Einblick in unser Handwerk erhalten, desto mehr sind Sie gefordert, selbst zu agieren.
Hier beginnt die zweite Stufe der Trendforschung: Erkenntnis über externe Faktoren wird zu interner Kommunikation und Veränderung. »Zukunft machen«, das heißt, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, selbst aktiv werden und lernen sollen, Ihre eigene Zukunft und die Ihres Unternehmens zu gestalten. Trendforschung kann nicht »von oben herab« verordnen, wie eine Innovation auszusehen oder eine Strategie zu verlaufen hat. Angewandte Trendforschung ist keine »Guru-Arbeit«, sondern ein Selbst-Reflexionsprozess|9|. Sinnvoll ist Arbeit mit Trends dann, wenn sie in einem Unternehmen einen Resonanzprozess erzeugt. Letztlich geht es um einen Kulturwandel und eine Wahrnehmungs-Veränderung. Wie Alvin Toffler, der Zukunftsforscher, es einmal formulierte: »Es geht in Zukunft darum, nicht mehr aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft zu lernen!«
In diesem Sinne wünschen die Autoren Ihnen viel Spaß bei der Lektüre. Und viel Erfolg bei der Zukunfts-Arbeit!
Kelkheim im Sommer 2007
Matthias Horx
|10|Kapitel 1
»Es gibt keine Wissenschaft ohne Phantasie,
und keine Kunst ohne Fakten.«
Vladimir Nabokov
Ist die Zukunft breit oder lang? Diese seltsame Frage stellte die Performance-Künstlerin Laurie Anderson viele Jahre lang auf ihren Performances dem Publikum. Das wusste natürlich damit wenig anzufangen und antwortete stets mit etwas genuscheltem oder schrägem »Yeah!« Für uns aber, als Trend- und Zukunftsforscher oder an Trend- und Zukunftsforschung Interessierte, stellt diese Frage eine interessante Herausforderung dar. Sie handelt im Kern von unseren Zukunftsbildern, die in jeder Kultur, jedem Individuum, jeder Organisation verschieden sind. Sie stellt direkt-indirekt die Frage nach dem Wesen von Veränderung. Wenn man so will: nach dem Wesen der Welt überhaupt.
Entsteht die Zukunft in einem linearen, beschleunigten und damit auch kanalisierbaren und vorhersagbaren Prozess – können wir also von hier und heute aus eine logische Linie in die Zukunft zeichnen? Beschleunigt sich die Entwicklung (von Märkten, Technologie, Ökonomie, Gesellschaft) ständig, sodass der Tunnel, durch den wir fahren, in gewisser Weise enger und determinierter wird? Oder – das ist mit »breit« gemeint – entwickelt sich Zukunft als Fächer von Möglichkeiten? Als steigende Komplexität und Vielfalt? Als Multiversum eher denn als Universum?
Beides hat, als Denkmodell und Metapher, erhebliche Auswirkungen auf unser Denken, auf unsere Mindsets, auf die Art und Weise, wie unser Hirn die Welt abbildet. Und natürlich auf die Frage, wie weit Zukunft prognostizierbar oder überhaupt in irgendeiner Weise operationalisierbar ist. Wir werden noch sehen, wie wichtig diese Ausgangsfragen sind und welch wichtige Rollen sie bereits in der Vergangenheit spielten. Beginnen |11|wir also dort, wo jede Zukunft scheinbar herkommt: mit der Vergangenheit.
In der menschlichen Geschichte existiert keine Kultur, die sich nicht mit der Zukunft auseinandersetzte. Denn anthropologisch ist die menschliche Kultur mit dem Zukunftsbegriff zutiefst verwoben. Das kognitive Hirn, also jenes Hirn, dessen Komplexität über die pure Steuerung von Umweltreaktionen hinausgeht, ist automatisch ein Zukunftshirn, weil es seine musterbildenden Überschüsse im Sinne einer prognostischen Arbeit einsetzt. »Was passiert?« – das ist die Grundfrage des Cortex überhaupt, und wird dann, in all seinen Ableitungen wie »Was passiert, wenn…?« und »Was passiert, wenn ich (die anderen, etwas und so weiter)…?«, zum historischen Bewusstsein.
Immer schon in der Geschichte gab es deshalb Vermittlungsinstitutionen zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. In den tribalen Gesellschaften waren es die Schamanen, die Zukunft voraussahen und durch Visionen sichtbar machten. In den ersten Hochkulturen dann die Hohepriester, die sie sogar »produzierten« durch Einflussnahme auf die Mächtigen, durch gewaltige Beeinflussungsrituale. Das Beispiel der Maya zeigt, wie solche »Zukunftshysterien« völlig aus dem Ruder laufen und ganze Zivilisationen zerstören können. In vielen Kulturen war die Zukunftsprognose jedoch Teil einer ständigen Selbstregulation und Selbstevaluation. Man kann sagen, dass »gelungene Zivilisation« nichts anderes ist als die Synchronisierung einer Zukunftsprognose mit dem morphischen Prozess der Gesellschaft selbst. Was bei den Maya radikal misslang, gelang in vielen anderen Kulturen: Man konnte sich eine mögliche Zukunft visionieren, und sich dann, in einer gemeinsamen Anstrengung, dorthin auf den Weg machen.
Bis in die Antike herrschte jedoch in den allermeisten gesellschaftlichen Systemen ein zyklischer Zukunftsbegriff vor. Die meisten archaischen Kulturen sind durch Ahnenkulte geprägt, und die Ahnen sagen uns, dass alles ewig wiederkehrt. Die Deutung der Zukunft war also nichts anders als die Deutung von Wiederkehr – des Wetters, des Viehs, des Regens, des Unglücks, der Feier (ein starkes Motiv auch in allen Religionen, einschließlich |12|des Christentums). Das Zeitkontinuum war nicht linear, sondern in Schleifen geordnet und allenfalls durch eschatologische Erwartungen relativiert.
Delphi: Der erste Think-Tank der Welt
In der Antike, mit Beginn vor etwa 2 800 Jahren, entstanden in Griechenland die ersten komplexen Zukunftsinstitutionen – die unabhängigen Orakel. Orakel waren stadtferne, mit den jeweiligen Herrschern nur durch indirekte Bande verbundene Institutionen, die bestimmten Göttern geweiht, aber auch von diesen eine gewisse Autonomie hatten. Ihre Aufgabe war eine Vermittlung zwischen den von den Göttern repräsentierten Mächten und Prinzipien und den weltlichen Institutionen und Angelegenheiten. Und in dieser Konfiguration, in dieser ersten Distanz zwischen den Systemen und den Prognosen, entstand zum ersten Mal so etwas wie die Idee von Fortschritt.
Ganze 500 Jahre, von etwa 600 bis 100 v. Chr. blieb das Orakel von Delphi eine mächtige und florierende Institution, die weit über alle Meere einen guten Ruf ausstrahlte und als Nabel der Welt galt: Herrscher, Staatsmänner, Philosophen, aber auch einfache Bürger der hellenischen Stadtstaaten suchten hier um Rat, und viele von ihnen kamen immer wieder. Sie unterwarfen sich dabei drastischen Ritualen – nicht nur mussten sie bei Opferungen zugegen sein, sie mussten auch bei Wasser und Wein teilweise tagelang in fensterlosen Kammern warten, bis das Orakel sich bequemte zu sprechen. Aber diese Inszenierungen – die Pythia auf dem Stuhl, die unverständliche Worte hervorbringt – waren eben nur die »Benutzeroberfläche« als Teil des gesamten »Systems Delphi«. Dahinter stand ein Priesterorden, der übrigens auch bisweilen von Frauen geführt werden konnte. Der Orden sammelte das Wissen seiner Zeit und verfügte über das damalig schnellste Kommunikationsmittel: laufstarke junge Männer, die ständig zwischen den Städten und Reichen des hellenischen Archipels unterwegs waren.
Delphi war ein Think-Tank, wahrscheinlich der erste der Welt. Eine Art Spionagezentrum obendrein, in dem Politik gemacht wurde. Der Aufstieg von Aristoteles wurde etwa von Delphi vorausgesagt und politisch befördert. Die athenische Gerichtsbarkeit geht indirekt auf das Orakel zurück. Der Krieg gegen das persische Reich wurde von Delphi vorbereitet. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass der Rat an Krösus keineswegs nur ein Trick |13|war, – »Wenn Du den Thalys überschreitest, wirst Du ein großes Reich zerstören« –, sondern dass er auf einer genauen Einschätzung des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen Persern und den Soldaten des lydischen Reiches in Westanatolien basierte. Das Orakel produzierte eine »wissende Spiegelung«, in der sich der Kunde entweder selbst sehen – also erkennen konnte – oder eben nicht. (Gleichzeitig war das Orakel weise genug, um zu wissen, dass man bei manchen Kunden den Realitätshorizont nicht einfach verschieben konnte, wenn diese unter einer Verzerrung leideten.)
Renaissance: In großen Schritten der Zukunft entgegen
Das Mittelalter (800 –1350) brachte zunächst den zyklischen Zeitbegriff zurück, in dem allein die religiöse Transzendenz den Platz der Zukunft einnahm. Zukunft blieb reiner Schicksalsraum.
Die Renaissance (1350 –1750) brachte zum ersten Mal einen ansatzweise rationalen Zukunftsbegriff hervor, der Wissenschaft und Kultur beeinflusste. Leonardo da Vincis Zeichnungen offenbaren bis heute ihren utopischen Charakter. Das Zeitalter der Wissenschaften begann, und mit ihm entwickelte sich die Grundidee des Fortschritts. Utopische Sonnenstaaten hatten damals in den Vorstellungsräumen Konjunktur, Zukunft wurde ein Möglichkeitsraum.
Die Aufklärung (1750 –1900) »erfand« schließlich die Zukunft als Raum der definitiven Möglichkeiten. In den revolutionären Umbrüchen Europas nach und um die französische Revolution wurde sie gewissermaßen zur Parole. Zukunft wurde vom Möglichkeitsraum zum Gestaltungsraum.
In der Moderne geriet der Zukunftsbegriff dann in den Mittelpunkt des Denkens überhaupt. Die Perspektive wurde gewissermaßen an den Horizont verlagert und die Zukunft radikal linearisiert. Die industrielle Revolution brachte zwischen 1870 und 1970 beschleunigten technologischen Fortschritt, der die Zukunft zu einer Art unaufhaltbaren Dampfmaschine werden ließ.1
Im letzten halben Jahrhundert hat sich der Zukunftsbegriff aufgespalten und immer neue Varianten hervorgebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Europa eher ein existentieller Zukunftspessimismus, der bald in die Zukunftseuphorie des Wirtschaftswunders überging. Die |14|technischen und sozialen Durchbrüche der 60er Jahre begründeten dann den Hyperfuturismus, der sein jähes Ende zwar in der Ölkrise und der Rezession der 70er Jahre fand, heute aber immer noch Renaissancen erlebt. Im breiteren Diskurs herrschten jedoch von nun an die »Paradigmen der Begrenzung«: Umwelt- und Friedensbewegungen dominierten von nun an den Zukunftsdiskurs mit eher apokalyptischen Zukunftsbildern.
Heute kann man unterschiedliche kulturelle Prägungen des Zukunftsbegriffs in den einzelnen Kulturen deutlicher unterscheiden: In Europa herrscht eine generelle Zukunftsskepsis, die in Zukunftsfeindlichkeit überzugehen droht. In den USA befindet sich der idealistische Futurismus, der die amerikanische Gesellschaft zutiefst geprägt hat, in starken Turbulenzen. Und im fernen Osten entwickelt sich heute ein ähnlich linearer Zukunftsbegriff wie bei uns in den 60er Jahren: Alles ist Technik, alles beschleunigt sich. Die japanische wie die chinesische Gesellschaft ist heute eine abenteuerlich Mixtur aus traditionellen Gesellschaftsformen und linearer Technikbeschleunigung, deren Integration noch abzuwarten ist.
Heute treten folgende Archetypen auf der Bühne der Zukunftsschau auf:
Der Doomsayer sieht die Zukunft als Drohgebärde. Der Verkünder der Apokalypse ist natürlich eine uralte Figur, die im Kontext von Religion und Machtbewahrung immer schon vorkam. Aber im Zeitalter der Massenmedien stehen ihm ungleich größere Ressourcen zur Verfügung. Dies sind vor allem Erwartungsressourcen: die Globalisierungsprozesse und Phänomene im Übergang zur Wissensökonomie versetzen viele Menschen in Angst und Schrecken. Kommunikativ hat der Doomsayer also immer einen großen Vorteil: Seine Aussagen werden gehört. Und Doomsayer haben immer Recht, denn wenn das, was sie prophezeien, nicht eintritt, haben sie eben genug gewarnt.
Der Erlösungsvisionär sieht die Zukunft als finale Verheißung. Auch heute gibt es noch jene »Propheten des beschleunigten Fortschritts,« die Zukunft als Transzendenzbegriff aufrechterhalten.2 Ray Kurzweill zum Beispiel prophezeit uns »die Singularität«3 (zum Beispiel in seinem Buch |15|»Singularity«) für die kommenden Jahre schon seit einigen Jahrzehnten.
Die Marketing-Gauklerin sieht die Zukunft als gesteigerte Nachfrage. Die globale Konsumgesellschaft und der Aufstieg des Marketings zur Leitbranche hat einen weiteren Typus von Prognostiker hervorgebracht, im Kontext der als »Trendforschung« bezeichneten Konsumbetrachtung. Hier wird Zukunft vor allem als eine Veränderung der Konsumnachfrage verstanden.
Der Zukunftsbürokrat sieht die Zukunft als endloses Vielleicht. In den komplexen Organisationen der Weltwirtschaft hat sich eine Vielzahl von Alltagsprognostikern herausgebildet, die sich ununterbrochen mit der Diagnostik und Prognose von Teilsystemen beschäftigen.
Der Future-Teller sieht die Zukunft als Geschichtenerzählung. Er ist bemüht, eine narrative Ebene zu entwickeln. Dazu nutzt er als Hauptinstrument den Spiegel – Prognose als Spiegelung der Gegenwart.
Wir sollten hier zunächst das Archteypische herausstellen: Wir kennen diese Typen seit vielen tausend Jahren. Gleichzeitig zeigt sich in dieser Typologie, dass Prognostik immer auch ein Nachfragephänomen ist: Die prognostischen Typologien passen sich an unsere medialen und ökonomischen Systeme an und modernisieren sich entlang medial-kognitiver Veränderungen.
Dass man »die Zukunft nicht voraussehen kann«, ist heute ein ewiges Bonmot auf allen Veranstaltungen – vor allem auf jenen, bei denen es um die Zukunft geht. Doch die Bilanz der Prognostik ist gar nicht so schlecht, wie sie uns in der veröffentlichten Meinung verkauft wird. Wir müssen unterscheiden zwischen
memorierten Fehlprognosen, die natürlich einen hohen Unterhaltungswert haben, denn nichts ist schöner als das Scheitern eines Prognostikers, und
gelungen Prognosen, die in Vergessenheit gerieten. Diese haben natürlich keinerlei Unterhaltungswert, weil sie nicht auf einer kognitiven Dissonanz beruhen: »Eingetretene Prognosen sind langweilig, denn sie sind ja eingetreten.«
|16|In seinem Buch The Next 100 Years – Then and Now (Die nächsten 100 Jahre – Damals und Heute, 2002) hat der amerikanische Publizist Robert Cartmill den Versuch unternommen, die Qualität von Langfristprognosen wissenschaftlich zu evaluieren. Cartmill verglich 495 Voraussagen von 79 verschiedenen Prognostikern, die um das Jahr 1900 herum Voraussagen für das Jahr 2000 trafen. Das Ergebnis fällt für die Zunft der Zukunftsforscher nicht triumphal, aber auch nicht negativ aus. Am besten schnitt ein gewisser John E. Watkins ab, ein Museumskurator, der seine Prognosen im Ladies Home Journal veröffentlichte. Watkins sah präzise die moderne Kriegsführung voraus, beschrieb Fernsehen und Fax, das Handy, die dominante Entwicklung des Automobils. Seine genauen Angaben über die Zukunft der Ernährung – Konservieren, Tieffrieren, Convenience-Food – legen nahe, dass er seine Recherche (er schrieb Briefe an befreundete Experten) als Bedarfsanalyse, nicht als technische Machbarkeitsanalyse betrieb.
Ähnlich pragmatisch und aus der Sichtweise des gesunden Menschenverstandes verfuhr Junius Henry Browne, ein Kaufmann, der im Jahre 1893 eine 100-Jahres-Prognose wagte: »Die sozialen und politischen Umstände des Jahres 1993 werden meiner Meinung nach durch deutliche Verbesserungen der heutigen Verhältnisse gekennzeichnet sein (…) Das Leben wird mehr und mehr zu Humanität tendieren, zur Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums. Sozialismus, der immer noch in der Luft liegen wird, wird in einer modifizierten und rationalisierten Form Anerkennung finden. Es wird mehr Gleichheit, Bildung und Glück existieren als in unserem ausgehenden Jahrhundert.«4
Diese Prognose nimmt in der Tat unsere heutige Gesellschafts-Konstitution präzise voraus – und ist gleichzeitig viel treffender als alle schrillen gesellschaftlichen Utopien des 20. Jahrhunderts. Aber gleichzeitig ist eine solche Schilderung unglaublich langweilig. Wer möchte schon wissen, dass es alles, was es heute gibt, auch morgen geben wird – vielleicht nur etwas anders, etwas komplexer?
Eine kleine Geschichte eingetretener Prognosen
Kriege: Friedrich Engels sah den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und Zweifronten-Grabenkrieg mit anschließender Russischer Revolution voraus. H.G. Wells den Zweiten Weltkrieg, allerdings mit einem anderen Anfangsverlauf. Hermann Hesse war schon 1920 davon überzeugt, dass ein |17|Ausbruch bevorstand, auch wenn er sich nie auf ein Datum festlegte: »In Germany (…) the spiritual mood has something anarchical but also religious and fanatical; it’s a mood of apocaylpse and of a future thousand Year Reich.«5
Sozialer Wandel und Feminismus: Elisabeth Burgoyne Corbett, französische Utopistin, beschrieb in New Amazonia – A Foretaste of the Future, 1889 Geburtenkontrolle und 100-Jahre-Lebensspannen. Dazu sah sie die Fitnesswelle voraus; zum Beispiel imaginierte sie ein Verbot von Aufzügen und Liften aus Fitnessgründen, damit die Menschen wieder Treppen steigen!6
Sozialer Wandel und Alterung: H.G.Wells prognostizierte in seinem Buch The Shape of Things to Come 1933 exakt den demografischen Wandel, wie wir ihn heute erleben. Er schilderte auch die Mentalitätsveränderung durch diese Entwicklung:
»Stellen wir uns einen jungen Mann in Shakespeares Zeit vor. Wenn er nicht jung starb, alterte er schnell. Im Alter von 40 wäre er schwer, alt und pompös. Noch flüchtiger wäre die Vitalität der Frauen. Deshalb würden beide jede Gelegenheit der frühen Liebe und des unreifen Abenteuers wahrnehmen. Die Welt wimmelte von Romeos und Julias auf dem Höhepunkt ihres Liebesverlangens lange vor der 20; in einem Alter also, wo heute Bildung und Studium den Lebenston bestimmen. Ein ganzes Leben wurde in einer Woche des Rausches entschieden, ohne Aussicht, ihm vor dem Tode eine entscheidend andere Wendung zu geben. …«7
Heute (also in der Zukunft) aber endet das Leben nicht mit dem ersten Versuch. Die Jahre zwischen 40 und 70, früher eher eine Schutthalde der Konsequenzen der ersten Dekaden, bilden nun die Jahre der Arbeit des Ausdrucks und der wirklichen Selbstentdeckung. Es gab eine Zeit, in der über 40-Jährige sich wie Überlebende fühlten; sie »hielten durch«, sie »blieben dabei«, und spätestens mit 50 erreichten sie den Zustand dumpfer Anschauungen und körperlichen Zerfalls. Aber nun, wo wir uns in unseren gewichtigeren Jahren befinden, während unsere Körper und Ansichten unbeschädigt bleiben, stehen wir nicht mehr im Wege jugendlicher Zumutungen und juveniler Penetranz.
Der Personal-Computer: Ein klassisches Vorurteil lautet: Der PC wurde nicht prognostiziert. Falsch. Genau das tat Gordon Moore mit seinem Moores Law. Er sah Computerkapazität auf jedem Schreibtisch.
Das Internet: In Die Welt in 100 Jahren von Robert Sloss aus dem Jahre 1912 wurde die Welt der »Ortlosen Kommunikation« genau geschildert: |18|»Die Bürger der drahtlosen Zeit werden überall mit ihrem »Empfänger« herumgehen, der irgendwo im Hut oder anderswo angebracht, auf eine der Myriaden von Vibrationen eingestellt sein wird. Der Empfänger wird trotz seiner Kompliziertheit ein Wunder der Kleinmechanik sein. Konzerte und Direktiven, ja alle Kunstgenüsse und das Wissen der Erde werden drahtlos übertragen sein. Monarchen, Kanzler, Diplomaten, Bankiers, Beamte und Direktoren werden ihre Geschäfte erledigen und ihre Unterschriften geben können, wo immer sie sind, sie werden eine legale Versammlung abhalten, wenn der eine auf der Spitze des Himalaya, der andere an einem Badeorte ist…«8
Auch H.G. Wells »sah« 1937 das Internet in aller Klarheit und Deutlichkeit: »Die Zeit rückt näher, in der wir an jedem beliebigen Ort der Welt in unserem Zimmer sitzen können und mit einem Projektor jedes beliebige Buch, jedes Dokument in exakter Kopie betrachten können.«9 Und Marshall McLuhan wusste schon 1964: »Men are suddenly nomadic gatherers of Knowledge, nomadic as never before, informed as never before – but also involved into the total social process as never before.«10
Die Konsumgesellschaft: Edward Bellamy prognostizierte 1888 in seinem berühmten Bestseller Looking Backwards Einkaufszentren, Emanzipation und Konsumindustrie.
Die Wissensökonomie: Peter Drucker erfand in The Age of Discontinuity 1954 bereits diesen Begriff – und beschrieb ausführlich die Konsequenzen.
Virtuelle Realität: Stanislaw Lem erfand in den 60er Jahren den Begriff der »Phantomatik« und sagte eine »künstliche zweite Umwelt« voraus.
Der Fall der Mauer: Viele russische Dissidenten prognostizierten den Zusammenbruch der Sowjetunion schon frühzeitig. Andrej Amalrik schrieb in einem Essay 1974: »Das sowjetische Imperium wird im Jahr 1990 Geschichte sein.«11 Auch der Publizist Emanuel Tood schrieb bereits 1974, dass er den Kollaps der Sowjetunion »in zwanzig Jahren« annahm.
11. September 2001: Ein Think-Tank für die US-Regierung um Peter Schwarz sagte 1999 fast auf den Punkt genau die Art und Weise voraus, mit der sich die terroristischen Aktivitäten im 21. Jahrhundert entfalten würden: »The nature of terrorism is changing – the United States will be victim of high technology attacks on their own territory in the next five years!«12
Der Zusammenbruch des Neuen Marktes: Der amerikanische Wirtschaftsjournalist Michael J. Mandel veröffentlichte 1999 ein Buch, in dem |19|er die Ereignisse in der Finanzwelt der Jahre 2001 bis 2005 exakt voraussagte.13
Pessimismus gegen differenzierte Weltsicht: Das Beispiel Club of Rome und QOCD-Prognose
1972 prognostizierte der Club of Rome in »The Limits of Growth« gewaltige Rohstoffkostenexplosionen und Hungerkatastrophen für das Jahr 2000 auf einer, wie Dennis Meadows selbst zugab, geringen Datenbasis; »Nur 0,1 Prozent der Daten, die wir zu einem verlässlichen Weltmodell brauchen, sind heute verfügbar.«14 Wie wir heute wissen, war dies eine glatte Fehlprognose. Aber genau diese blieb am tiefsten in der öffentlichen Meinung verankert.
Eine gründliche Gegenstudie der OECD »Facing the Future«, herausgegeben im Jahre 1973, verstand sich als kritische Hinterfragung der Clubof-Rome-Doomsayer. Sie wurde nie populär. Diese Studie war keineswegs »unkritisch«, aber sie differenzierte die möglichen Verläufe aufgrund besseren Datenmaterials und verfolgte keine propagandistisch-mediale Absicht. Unter anderem wurden antizipiert:
zweiter Ölschock,
sinkender Wachstumsraten in der Ersten Welt, Aufschwung Fernasiens,
steigende Arbeitslosigkeit,
die Gesamtnachfrage nach Lebensmitteln im Jahre 2000 wird die Produktionsmöglichkeiten nicht überschreiten,
neue Rohstoffquellen und Technologien entwickeln sich in moderaten Zeitabständen.
Der richtige Weg zur Zukunftsprognose
Eine Analyse der Erfolgsquoten ergibt folgende Schlussfolgerung:
Spezialistentum macht zukunftsblind: Ausgerechnet da, wo sich der Prognostiker auf einem bestimmten Fachgebiet zuhause fühlt – wo ein Journalist die Zukunft der Zeitungen, ein Telefonerfinder die Zukunft der Telefonie voraussagt –, ist das Ergebnis oft desaströs falsch. Der Grund liegt in der Einengung des Sichtwinkels und in der Projektion |20|eigener Interessen. (Dieses Argument gilt auch für eine der klassischen Methoden der modernen Prognostik, der Delphi-Studie).
Sozialer Wandel schlägt Technologie: Die meisten Fehlprognosen fanden nicht auf dem Gebiet der Technik statt, die »blinden Flecke« lagen vielmehr dort, wo es um weiche und soziale Faktoren ging – Rollenwandel zwischen Mann und Frau, Bildung, andere Beziehungen zwischen Menschen. Diese weichen Faktoren beeinflussen oft die anderen, die eher linearen Pfade der Entwicklung und sind deshalb oft Grund für Fehlprognosen.
Verknüpftes Allgemeinwissen: Die besten Ergebnisse wurden mit gesundem Menschenverstand erzielt – von Museumskuratoren und Kaufleuten. Diese Menschen verfügen über eine besonders breite Allgemeinbildung. Es ist zu vermuten, dass ihre hohe Fähigkeit der Verknüpfung nonkontingenter Systeme, das heißt gesunder Menschenverstand, zu den Erfolgen führte.