Dichtung und Sagen der Inselkelten
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Der typisch irische Glaube an die »andere Welt« macht sich an dem alten Göttergeschlecht der Tuatha Dé Danann fest, das die Insel ihrer mythischen Geschichte nach als Erstes besiedelte. Mit Ankunft der Kelten sollen sie sich zurückgezogen haben in eine Welt unterhalb der Hügel und Berge Irlands, wo sie von nun an als magische Naturwesen hausen und gelegentlich die Tore zu ihrer Welt auch für die Menschen öffnen sollten. Von Reisen in diese schwer zugängliche Welt voller Licht und Freude, eine Art Schlaraffenland, erzählen viele beliebte irische Sagenstoffe, aber auch von den Gefahren, die eine Begegnung zwischen Mensch und Feenwesen bergen konnte. Nicht zuletzt griffen auch die Brüder Grimm voller Begeisterung auf irische Stoffe zurück, aus denen Grimms Elfenmärchen hervorgingen. Der Historiker Arnulf Krause weiß um die Verquickung von realgeschichtlicher Migrationen und Einwanderungsmythen im kollektiven Gedächtnis und schildert den unerschöpflichen Fundus irischer und walisischer Dichtung, der Sagen und Erzählungen von Dämonen und Göttern, Helden und Königen enthält und in eine ferne Vergangenheit zurückreicht.
Dieses E-Book ist Teil der digitalen Reihe »Campus Kaleidoskop«. Erfahren Sie mehr auf www.campus.de/kaleidoskop
Über den Autor
Arnulf Krause ist promovierter Germanist und Skandinavist, erfolgreicher Sachbuchautor und Experte für germanische Heldensagen und die Dichtung der Edda. Er lehrt als Honorarprofessor am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn.
Die Elfen aus der Anderwelt
Die irischen Einwanderungen: Monster, Götter und Kelten
Die Vertreibung in die Unterwelt
Die Anderwelt
Reisen in die Andere Welt
Die irische Heldengalerie
CúChulainn und der große Rinderraub
Elfen, Kobolde und Zaubernebel: Sagen und Märchen der keltischen Völker
Die irischen Elfen und die Brüder Grimm
Exkurs: Halloween und das keltische Jahr
Exkurs: Tiere – Pflanzen – Monster
Literaturverzeichnis
Quellen
Sekundärliteratur
Campus Kaleidoskop
Impressum
Die sagenhafte Welt der Britischen Inseln Im frühen Mittelalter gehörte die Kultur der festlandkeltischen Stämme schon lange der Vergangenheit an, sogar ihre Sprachen hatte man vergessen. Mehr oder weniger unabhängige Kelten lebten nur noch am Rande Europas: im Umkreis der Iren, Schotten und Waliser auf den Britischen Inseln und unter den Bretonen. Diese Völker bewahrten trotz aller Veränderungen, denen auch sie unterworfen waren, Traditionen der alten keltischen Kultur, auf die zum Teil schon verwiesen wurde. Ohne sie wüsste man nichts von den zahlreichen Mythen und Sagen, von den Göttern und Heldenkriegern der keltischen Welt, in denen auch der Arthur- Stoff seine Wurzeln hat.
Die Britischen Inseln waren indes dem Festland und erst recht der Mittelmeerwelt fremd geworden, seitdem Rom seine Macht verloren und die Germanenstämme der Angeln und Sachsen dort weite Gebiete erobert hatten. Überhaupt wusste man seit jeher wenig über die keltischen Gebiete, vor Schottlands Bewohnern hatten sich die römischen Kaiser gar durch den Bau des Hadrianswalls zu schützen versucht. Dessen Befestigungsanlagen kannte noch der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop, der im 6. Jahrhundert Seltsames von Britannien berichtete:
Nach seinen Worten wird die Insel von dieser langen Mauer in zwei ungleiche Teile getrennt. Im Süden herrscht gute Luft, die Menschen leben wie anderswo und die Bäume stehen in voller Pracht, deren Früchte gut reifen; ebenso geben die Felder gute Ernte in einem wasserreichen Land. Im Norden hingegen kann ein Mensch kaum leben in einer Gegend, die von Schlangen, Nattern und ähnlichem Getier verseucht ist. Die Eingeborenen behaupten, jenseits der Mauer gebe man wegen der verderblichen Luft sofort den Geist auf, verirrte Tiere würden dort verenden. Für Prokop existiert in Schottland nicht nur ein völlig ödes, todbringendes Land, er sieht die Britischen Inseln insgesamt als Land der Toten an, in das die Seelen der Verstorbenen reisen, was gemäß dem oströmischen Historiker auf folgende Weise geschieht:
An der gegenüberliegenden Küste befinden sich viele Dörfer, deren Bewohner von Fischfang, Ackerbau und Schifffahrten nach Britannien lebten. Jene Leute behaupten, sie müssten die Seelen nach Britannien übersetzen. Wer des Nachts diesen Fährdienst leisten muss, legt sich schlafen, bis ihn der Führer des Seelenzuges weckt. Vor Mitternacht hören sie es an ihre Haustür klopfen und vernehmen die Stimme eines Unsichtbaren, der sie zur Arbeit ruft. Wie unter Zwang und Hypnose stehen sie auf und gehen zum Strand. Dort finden sie fremde Kähne, in denen alles zur Abfahrt bereit ist – ohne dass sie allerdings jemanden erblicken. Trotzdem steigen sie hinein und ergreifen die Ruder. Erst dann nehmen sie wahr, wie schwer die Schiffe durch die Mitreisenden sind, kaum erhebt sich der Kahn über die Oberfläche; zu sehen ist allerdings niemand. In einer Stunde rudern sie nach Britannien, während sie es sonst mit den Segeln kaum in einer Nacht und einem Tag schaffen. Nach der Ankunft merken sie, wie sich die Schiffe rasch leeren, und fahren schnell heimwärts. Keinen Menschen haben sie auf dieser Fahrt erblickt, glauben aber eine Stimme gehört zu haben, die die am Ufer Angekommenen namentlich aufruft und ihren gesellschaftlichen Rang und die Abstammung hinzufügt.
Prokop gestand das fantastisch Anmutende und Unglaubliche seiner Geschichte ein, die offensichtlich bis zu ihm nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, gedrungen war. Heutzutage erinnert sie an jene Elfen- und Feensagen, die sich gerade die Kelten Irlands und anderer Gebiete der Britischen Inseln erzählten. Ob eine dieser Geschichten tatsächlich den weiten Weg bis ins östliche Mittelmeer gefunden hat, ist ungewiss – trotzdem belegt Prokops Text, dass man sich schon damals Geschichten über den Nordwesten Europas erzählte, zu denen besonders die Kelten ein großes Maß beitrugen.
Denn in dem niemals von Rom besetzten Irland hatten sich alte Überlieferungen erhalten und weiterentwickelt. Obwohl die christlichen Priester und Mönche seit dem 5. Jahrhundert die Druiden zunehmend verdrängten, gab es doch noch den alten Dichterstand, der sich an den zahlreichen Häuptlingshöfen großer Beliebtheit und Achtung erfreute. Das galt weniger für den rezitierenden Barden als für den so genannten Fili, der für seinen Herrn Preislieder dichtete und Macht und Ruhm von dessen Vorfahren besang. Diese hoch angesehene Dichterkaste hatte eine – mündliche – Ausbildung von zwölf Jahren zu absolvieren und war strengstens organisiert. Dem erreichten Grad entsprechend durfte ein Fili nur in einem vorgeschriebenen Versmaß dichten, was Einfluss auf sein Dichterhonorar hatte, das bis zu zehn Kühe betragen konnte. Aber diese Poeten schufen nicht nur eigene Gedichte, sie bewahrten auch vorchristliche Geschichten, von denen sie mehrere hundert aus dem Gedächtnis vortragen konnten. Dichterschulen, die sich dieser Tradition verpflichtet fühlten, gab es in Irland wohl noch während des gesamten Mittelalters.
Außerdem wurden in den Klöstern zunehmend Erzählungen auf Pergament niedergeschrieben und so vor dem Vergessen bewahrt, darunter vor allem die Götter- und Heldensagen, die das vorchristliche Irland mit seiner keltischen Kultur widerspiegeln. Was fromme Mönche und andere im Mittelalter aufschrieben, ist vielfach zensiert und von offensichtlich Heidnischem gesäubert worden. Trotzdem bewahren diese Handschriften einen wertvollen Schatz keltischer Dichtungen, von denen manche auf ein hohes Alter zurückblicken können.