Tonke Dragt, geboren 1930 in Batavia, heute Djakarta, verbrachte den größten Teil ihrer Kindheit in Indonesien. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie mit ihrer Familie in einem japanischen Gefangenenlager interniert; es war die Zeit ihrer frühen Jugend. »Uns war dort alles verwehrt, und so erfand ich in meiner Phantasie Geschichten, die in weiter Ferne spielen – Geschichten voller Abenteuer und ohne Stacheldraht.« Nach dem Krieg kam Tonke Dragt nach Holland, machte Abitur, besuchte dann die Akademie für Bildende Künste in Den Haag und war als Zeichenlehrerin an verschiedenen Schulen tätig. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Den Haag. Sie hat zahlreiche Bücher geschrieben; bei Beltz & Gelberg sind u.a. erschienen: Der Wilde Wald, Das Geheimnis des siebten Weges, Die Türme des Februar sowie Der Goldschmied und der Dieb. Für Der Brief für den König wurde Tonke Dragt 2004 mit dem »Griffel der Griffels« für das beste niederländische Jugendbuch der letzten 50 Jahre ausgezeichnet.
I
Tiuri kniete auf dem steinernen Boden der Kapelle und starrte in die bleiche Flamme der Kerze, die vor ihm stand. Wie spät mochte es sein? Er sollte ernsthaft über die Pflichten nachdenken, die ihn erwarteten, wenn er Ritter war, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Manchmal dachte er sogar überhaupt nichts. Er fragte sich, ob es seinen Freunden wohl genauso erging.
Er blickte zur Seite, zu Foldo und Arman, zu Wilmo und Jiusipu hinüber. Foldo und Wilmo schauten auf ihre Kerzen, Arman hatte sein Gesicht in den Händen verborgen. Jiusipu saß aufrecht und starrte nach oben; plötzlich jedoch änderte er seine Haltung und blickte Tiuri in die Augen. Sie sahen einander eine Zeit lang an; dann wandte Tiuri sich ab und richtete den Blick wieder auf die Kerze.
Woran mochte Jiusipu wohl denken?
Wilmo bewegte sich und machte mit dem Schuh ein scharrendes Geräusch auf dem Boden. Die anderen schauten alle gleichzeitig in seine Richtung. Wilmo neigte den Kopf, als ob er sich schäme.
Wie still es hier ist, dachte Tiuri kurze Zeit später. So still ist es in meinem Leben noch nie gewesen. Ich höre nur unsere Atemzüge und vielleicht, wenn ich gut hinhöre, das Klopfen meines Herzens …
Die fünf jungen Leute durften nicht miteinander reden – während der ganzen Nacht durften sie kein einziges Wort sagen. Und sie durften keinerlei Verbindung mit der Außenwelt haben. Sie hatten selbst die Kapellentür abgeschlossen und würden sie erst am nächsten Morgen um sieben Uhr wieder öffnen, wenn die Ritter König Dagonauts kamen, um sie abzuholen.
Morgen früh! Tiuri sah den Festzug vor sich: die Ritter auf ihren Pferden, deren Zaumzeug prächtig geschmückt war, die farbigen Schilde und die wehenden Banner. Auch sich selbst sah er, auf einem feurigen Pferd sitzend, in einen blinkenden Harnisch gehüllt, mit Helm und wehendem Federbusch.
Er schüttelte diese Vision von sich ab. Er durfte nicht an die Äußerlichkeiten der Ritterschaft denken, sondern sollte sich vornehmen, treu und ehrlich, tapfer und hilfsbereit zu sein.
Das Kerzenlicht tat seinen Augen weh. Er schaute zum Altar hinüber, wo die fünf Schwerter bereitlagen. Darüber hingen die Schilde; sie glänzten im flackernden Licht der Kerzen.
Morgen wird es zwei Ritter geben, die das gleiche Wappen tragen, dachte er. Vater und mich. Sein Vater hieß ebenfalls Tiuri; man nannte ihn den »Tapferen«. War er jetzt wohl noch wach und dachte an seinen Sohn? Ich hoffe, dachte Tiuri, dass ich ein genauso guter Ritter werde wie er.
Kurz darauf tauchte ein neuer Gedanke in ihm auf: Stell dir vor, wenn jetzt jemand an die Tür klopfte! Dann dürften wir nicht öffnen. – Er erinnerte sich an eine Geschichte, die Ritter Fartumar, dessen Schildknappe er gewesen war, ihm einmal erzählt hatte. Als der in der Nacht vor seinem Ritterschlag in der Kapelle gewacht hatte, war plötzlich laut gegen die Tür geschlagen worden. Er war damals mit drei Freunden dort gewesen, aber keiner von ihnen hatte die Tür geöffnet. Und das war auch ihr Glück, denn später stellte sich heraus, dass es ein Diener des Königs gewesen war, der sie auf die Probe stellen wollte.
Tiuri blickte wieder zu seinen Gefährten hinüber. Sie saßen immer noch in derselben Haltung. Es war bestimmt schon nach Mitternacht. Seine Kerze war fast ganz niedergebrannt; sie war die kürzeste von den fünfen. Vielleicht lag es daran, dass er am nächsten bei einem der Fenster saß. Es zog hier, er fühlte immer wieder einen kalten Luftzug an sich vorbeifließen.
Wenn meine Kerze ausgebrannt ist, zünde ich keine neue an, dachte er. Es schien ihm angenehmer, im Dunkeln zu sitzen, so dass die anderen ihn nicht sehen konnten. Er hatte keine Angst, dass er einschlafen könnte.
Schlief Wilmo? Nein, er bewegte sich.
Ich wache nicht so, wie es sich gehört, dachte Tiuri.
Er faltete die Hände und richtete seine Augen auf das Schwert, das er nur für eine gute Sache würde benutzen dürfen. Er sprach im Stillen die Worte, die er am folgenden Tag zu König Dagonaut sagen würde: »Ich gelobe, Euch als Ritter treu zu dienen und ebenso all Euren Untertanen und jedem, der meine Hilfe erbittet. Ich gelobe …«
Da wurde an die Tür geklopft – leise, aber deutlich vernehmbar.
Die fünf jungen Leute hielten den Atem an, aber sie blieben regungslos sitzen.
Es klopfte erneut.
Die jungen Männer schauten einander an, ohne jedoch zu sprechen oder sich zu rühren. Sie hörten, dass der Türknopf gedreht wurde. Danach hörte man das Geräusch von Schritten, die sich langsam entfernten.
Sie seufzten tief auf, alle fünf gleichzeitig.
Jetzt ist es passiert, dachte Tiuri. Es war merkwürdig, aber er hatte das Gefühl, dass er darauf gewartet hatte – während der ganzen Zeit seiner Wache. Sein Herz klopfte so laut, dass ihm schien, als müssten auch die anderen es hören. Komm, bleib ruhig, sagte er zu sich selbst. Vielleicht war es ein Fremder, der nicht wusste, dass wir hier wachen, oder jemand, der uns ärgern wollte oder auf die Probe stellen …
Trotzdem wartete er gespannt, ob er wieder etwas hören würde. Seine Kerze leuchtete noch einmal besonders hell auf und erlosch dann mit einem leisen Zischen. Jetzt saß er im Dunkeln.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er über seinem Kopf ein leises Geräusch hörte. Es war, als ob jemand mit den Fingernägeln am Fenster kratzte!
Und dann hörte er eine Stimme, so leise wie ein Hauch, die sagte: »Im Namen Gottes – mach die Tür auf!«
Tiuri richtete sich auf und schaute zum Fenster empor. Er sah nichts, keinen Schatten, so dass er hätte denken können, er hätte es sich nur eingebildet. Wenn es nur so wäre! Er konnte ja doch nicht tun, was die Stimme von ihm erbeten hatte, auch wenn sie noch so dringend geklungen hatte. Er barg sein Gesicht in den Händen und versuchte alle Gedanken zu verbannen, die in ihm umgingen.
Aber dann hörte er wieder die Stimme, ganz deutlich, obwohl es nicht mehr als ein Flüstern war: »Im Namen Gottes, mach auf!« Es klang fast noch dringender als beim ersten Mal.
Tiuri blickte zu seinen Freunden hinüber, doch die sahen aus, als hätten sie nichts gehört. Aber er hatte es wohl gehört! »Im Namen Gottes, mach auf!«
Was nun? Er durfte die Tür nicht öffnen … Wenn es nun aber ein Mensch in Not war, ein Flüchtling, der Asyl suchte?
Er horchte. Es war wieder still. Die Stimme klang jedoch in seinen Ohren nach; er würde sie niemals vergessen können. Oh, warum musste dies gerade jetzt passieren? Warum musste ausgerechnet er diesen Hilferuf hören? Er durfte nicht darauf antworten aber er würde auch nicht beruhigt sein, bevor er es getan hatte.
Er zögerte. Dann fasste er einen Entschluss. Er stand leise auf; es machte ihm Mühe, denn er war steif geworden von dem langen Knien auf dem kalten Boden. Er tastete sich an der Wand entlang in Richtung Tür. Ab und zu blickte er sich nach seinen Freunden um. Er glaubte nicht, dass sie etwas gemerkt hatten – oder doch? Arman schaute in seine Richtung, aber Arman würde ihn nie verraten.
Es schien endlos lange zu dauern, bis er die Vorhalle erreichte. Noch einmal warf er einen Blick zurück: auf seine Freunde, auf den Altar und die Schilde darüber, auf das Licht der vier Kerzen und die Schatten zwischen den Säulen und im Deckengewölbe. Dann ging er durch die kleine Vorhalle zur Tür und griff nach dem Schlüssel.
Wenn ich öffne, dachte er, habe ich die Regeln missachtet. Dann darf ich mich morgen nicht zum Ritter schlagen lassen.
Er drehte den Schlüssel um, öffnete die Tür einen Spaltbreit und sah hinaus.
Auf der Schwelle stand ein Mann, in eine weite Kutte gekleidet, die Kapuze über den Kopf gezogen. Tiuri konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen; dazu war es zu dunkel. Er machte die Tür ein bisschen weiter auf und wartete schweigend, dass der andere etwas sagen würde.
»Ich danke Euch!«, flüsterte der Unbekannte. Tiuri blieb schweigend stehen.
Der Unbekannte wartete einen Augenblick und sagte dann, immer noch im Flüsterton: »Ich bitte um Eure Hilfe; es geht um eine Angelegenheit von Leben oder Tod!« Als Tiuri keine Antwort gab, fuhr er fort: »Wollt Ihr mir helfen? … Wollt Ihr mir helfen?«, wiederholte er. »Um Himmels willen, warum sagt Ihr nichts?«
»Wie kann ich Euch denn helfen?«, flüsterte Tiuri. »Weshalb kommt Ihr hierher? Wisst Ihr nicht, dass ich morgen zum Ritter geschlagen werden soll und dass ich mit niemandem sprechen darf?«
»Das weiß ich«, antwortete der Unbekannte. »Gerade darum bin ich ja gekommen.«
»Ihr wärt besser woanders hingegangen«, flüsterte Tiuri erbost.
»Jetzt habe ich die Regeln übertreten und kann deshalb morgen nicht den Ritterschlag empfangen.«
»Ihr werdet den Ritterschlag besonders verdient empfangen«, sagte der Unbekannte. »Ein Ritter muss doch helfen, wenn er darum gebeten wird? Kommt nach draußen, dann werde ich Euch sagen, was Ihr für mich tun sollt. Rasch, rasch, es bleibt nicht viel Zeit!«
Nun ja, dachte Tiuri, jetzt habe ich schon gesprochen und die Tür aufgemacht – warum sollte ich nicht auch noch aus der Kapelle hinausgehen?
Der Unbekannte nahm ihn bei der Hand und führte ihn mit sich, an der Außenwand der Kapelle entlang. Seine Hand fühlte sich knochig und runzelig an – die Hand eines alten Mannes. Auch seine Stimme klingt alt, dachte Tiuri. Wer mag er wohl sein?
Bei einer kleinen Nische blieb der Unbekannte stehen. »Wir wollen uns hier verbergen«, flüsterte er, »und leise sprechen, damit uns niemand hört.« Als sie in der Nische standen, ließ er Tiuris Hand los und fragte: »Wie heißt Ihr?«
»Tiuri«, antwortete der Jüngling.
»Ach, Tiuri, Euch werde ich vertrauen können.«
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Tiuri.
Der Unbekannte neigte sich ihm zu und flüsterte: »Ich habe hier einen Brief, einen sehr wichtigen Brief. Ich kann getrost sagen, dass das Wohl oder Wehe eines ganzen Königreiches davon abhängt. Ein Brief für den König Unauwen.«
König Unauwen! Tiuri hatte viel von ihm gehört. Er regierte das Land westlich der Berge, und man sprach von ihm als von einem edlen und aufrichtigen Fürsten.
»Dieser Brief muss dem König überbracht werden«, sagte der Unbekannte. »So schnell wie möglich.«
»Ihr wollt doch wohl nicht …«, begann Tiuri ungläubig.
»Derjenige, der den Brief überbringen soll, ist der Schwarze Ritter mit dem Weißen Schild«, unterbrach ihn der Unbekannte. »Er befindet sich zur Zeit in der Herberge Yikarvara im Wald. Euch bitte ich, den Brief zu ihm zu bringen. Ich selbst kann es nicht tun; ich bin alt und werde von Feinden verfolgt.«
»Weshalb bittet Ihr nicht einen anderen?«, fragte Tiuri. »Die Stadt ist voller Ritter; es gibt genug Leute, denen Ihr vertrauen könnt.«
»Keinen einzigen von diesen Rittern kann ich darum bitten«, antwortete der Unbekannte. »Sie fallen viel zu sehr auf. Hab ich Euch nicht gesagt, dass es von Feinden nur so wimmelt? In der ganzen Stadt liegen Spione auf der Lauer, in der Hoffnung, den Brief rauben zu können. Nein, einen berühmten Ritter kann ich nicht brauchen. Es muss jemand sein, der unbekannt ist und nicht auffällt. Gleichzeitig jedoch muss ich es verantworten können, ihm diesen Brief anzuvertrauen. Ich suche jemanden, der ritterlich, aber trotzdem kein Ritter ist! Ihr seid derjenige, den ich haben muss: Ihr wurdet für würdig befunden, morgen den Ritterschlag zu empfangen; aber Ihr seid auch jung und habt noch nicht von Euch reden gemacht.«
Gegen diese Worte konnte Tiuri nichts einwenden. Er versuchte wieder, die Gesichtszüge des Unbekannten zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. »Ist dieser Brief von großer Bedeutung?«, fragte er.
»Von unendlich großer Bedeutung!«, flüsterte der Unbekannte.
»Kommt, zögert nicht länger«, fuhr er mit bebender Stimme fort.
»Sonst verliert Ihr zu viel Zeit! Ganz hier in der Nähe, hinter der Kapelle, steht ein Pferd auf der Weide; wenn Ihr das nehmt, könnt Ihr in drei Stunden bei der Herberge sein – wenn Ihr schnell reitet, braucht Ihr wahrscheinlich noch weniger Zeit. Es ist jetzt ungefähr Viertel nach eins. Ihr könnt um sieben Uhr wieder hier sein, wenn Ihr abgeholt werdet, um vor König Dagonaut zu erscheinen. Erfüllt mir doch meine Bitte!«
Tiuri spürte, dass er nicht ablehnen konnte. Die Regeln, die ein angehender Ritter beachten musste, waren sicher wichtig, aber diese Bitte um seine Hilfe war noch wichtiger.
»Ich werde es tun«, sagte er. »Gebt mir den Brief und sagt mir, wie ich die Herberge finden kann.«
»Danke!«, seufzte der Unbekannte erleichtert und fuhr rasch im Flüsterton fort: »Die Herberge heißt Yikarvara. Kennt Ihr das Jagdhaus von König Dagonaut? Dahinter führt ein schmaler Weg in nordwestlicher Richtung. Reitet ihn entlang, bis Ihr zu einer Lichtung im Wald kommt. Von dort gehen zwei Wege ab; nehmt den linken Pfad, dann kommt Ihr von selbst zur Herberge. Was den Brief betrifft: Gebt mir Euer Ehrenwort als Ritter, dass Ihr ihn wie Euer eigenes Leben behüten werdet und dass Ihr ihn keinem anderen geben werdet als dem Schwarzen Ritter mit dem Weißen Schild.«
»Ich bin noch kein Ritter«, sagte Tiuri, »aber wenn ich schon einer wäre, würde ich mein ritterliches Ehrenwort geben.«
»Gut. Falls Euch jemand den Brief rauben will, müsst Ihr ihn vernichten – aber nicht, bevor es wirklich nötig ist. Verstanden?«
»Verstanden«, sagte Tiuri.
»Und merkt Euch das Folgende gut: Wenn Ihr beim Schwarzen Ritter mit dem Weißen Schild angekommen seid, müsst Ihr ihn fragen: Warum ist Euer Schild weiß? Er wird antworten: Weil in Weiß alle Farben enthalten sind. Dann wird er Euch fragen: Woher kommt Ihr? Und Ihr müsst antworten: Ich komme von weit her.
Erst danach dürft Ihr ihm den Brief aushändigen.«
»Das Losungswort«, murmelte Tiuri.
»Richtig, das Losungswort. Wisst Ihr jetzt genau, was Ihr tun müsst?«
»Ja«, sagte Tiuri. »Gebt mir nun den Brief.«
»Noch etwas«, sagte der Unbekannte. »Seid vorsichtig; passt gut auf, ob man Euch nicht folgt. Hier ist der Brief; sorgt gut für ihn.«
Tiuri nahm den Brief in Empfang. Er war flach und nicht groß; Tiuri fühlte, dass er versiegelt war. Vorsichtig steckte er ihn unter sein Hemd, auf die Brust.
»Könnt Ihr ihn so nicht verlieren?«, fragte der Unbekannte.
»Nein«, sagte Tiuri, »so ist er sicher aufbewahrt.«
Der Unbekannte ergriff seine Hände und drückte sie. »Dann geht«, sagte er. »Gott segne Euch!« Er ließ Tiuris Hände los, wandte sich um und ging. Einen Augenblick später war nichts mehr von ihm zu sehen.
Tiuri wartete einen Moment und ging dann leise und schnell in die andere Richtung. Er warf einen kurzen Blick auf die schwach erleuchteten Fenster der Kapelle, wo seine Freunde noch vor dem Altar wachten. Los, ermunterte er sich selbst, ich muss mich beeilen.
Und er machte sich auf die Suche nach der Weide, wo ein Pferd für ihn bereitstehen sollte.
Es war eine schöne Sommernacht; am Himmel schimmerten viele Sterne. Hinter der Kapelle fand Tiuri tatsächlich ein Pferd. Es war an einem Zaun angebunden und hatte weder Zügel noch Sattel.
Glücklicherweise bin ich schon öfter auf einem Pferd ohne Zaumzeug geritten, dachte Tiuri, während er mit zitternden Händen den Strick zu lösen begann. Er bedauerte, dass er sein Messer nicht bei sich hatte, denn der Strick war mit vielen Knoten befestigt. Er hatte überhaupt keine Waffen bei sich; die lagen in der Kapelle.
Das Pferd wieherte leise; in der Stille klang es trotzdem sehr laut. Tiuri sah sich um. Nachdem sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er in nicht allzu weiter Entfernung ein Gebäude – vermutlich der Bauernhof, zu dem die Weide gehörte.
Endlich hatte er den Strick gelöst. »Komm«, flüsterte er dem Pferd zu, »geh mit.«
Das Pferd wieherte erneut. Ein Hund begann zu bellen, und ein paar Augenblicke später ging im Bauernhof ein Licht an. Tiuri bestieg das Pferd und schnalzte mit der Zunge. »Vorwärts!« Langsam setzte sich das Tier in Bewegung.
»He, hallo!«, rief plötzlich eine laute Stimme. »Wer ist da?« Tiuri dachte gar nicht daran, zu antworten!
Der Hund bellte laut und wütend, und aus dem Hof kam ein Mann mit einer Laterne in der Hand. »Dieb!«, rief er. »Bleib stehen! Jan, Marten, kommt her! Ein Dieb verschwindet mit meinem Pferd!«
Tiuri erschrak. Stehlen – das war wirklich nicht seine Absicht! Aber er hatte keine Zeit zu verlieren. Er beugte sich nach vorn und trieb das Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Das Tier gehorchte und begann zu traben.
»Schneller!«, flüsterte Tiuri aufgeregt. »Schneller!«
Hinter ihm erklang wirrer Lärm: Geschrei, Rufe und wütendes Hundegebell. Das Pferd schreckte zusammen; es legte die Ohren an und lief schnell wie der Wind.
Es tut mir Leid, dass ich mir Ihr Pferd ausleihen muss, sagte Tiuri in Gedanken zu dem Mann, den er noch immer rufen hörte. Ich stehle es nicht; ich bringe es Ihnen gleich zurück.
Als er sich nach einer Weile umschaute, war er schon weit von dem Bauernhof entfernt, und irgendwelche Verfolger waren nicht zu sehen. Trotzdem ritt er mit derselben Geschwindigkeit weiter.
Er sagte sich, dass der Unbekannte ihn ja auch hätte informieren können, dass das Pferd jemand anderem gehörte. Der Brief schien tatsächlich sehr wichtig zu sein und außerdem sehr geheim. Tiuri ließ das Pferd etwas langsamer laufen und fühlte nach, ob er das wertvolle Dokument noch sicher bei sich trug. Ja, es steckte an derselben Stelle. Er blickte aufmerksam in die Runde, weil er sich erinnerte, dass der Unbekannte von Feinden gesprochen hatte, die auf der Lauer lägen. Er sah jedoch niemanden. Er starrte in die Richtung, in der die Stadt lag, die fast völlig dunkel erschien. Dann warf er einen Blick auf die Kapelle; sie schimmerte klein und weiß auf einem Hügel. Schließlich ritt er auf den Wald zu.
Der Wald lag nicht weit von der Stadt Dagonauts entfernt. Er war sehr groß, und es gab dort Stellen, die noch nie eines Menschen Fuß betreten hatte. Den Weg zum Jagdhaus kannte Tiuri gut; er war mehrmals im Gefolge des Königs mit auf der Jagd gewesen.
Im Wald war es viel dunkler, aber der Weg war breit, so dass Tiuri weiterhin schnell reiten konnte. Ab und zu ließ er das Pferd jedoch im Schritt gehen, um sich gut umsehen zu können. Er sah niemanden – und doch schien es ihm, als sei der Wald mit unsichtbaren Wesen bevölkert, die ihn bespitzelten und belauerten und bereitstanden, ihn zu überfallen …
Aber er erreichte das Jagdhaus, ohne dass etwas geschehen wäre, und fand mühelos den Weg, von dem der Unbekannte gesprochen hatte. Der Pfad war schmal und kurvenreich, so dass Tiuri gezwungen war, langsamer zu reiten.
Ich hoffe, dass ich zeitig zurück bin, sagte er zu sich. Unvorstellbar, dass ich nicht da wäre, wenn die Ritter des Königs uns holen kommen! Aber der Unbekannte hat ja gesagt, dass ich die Herberge in drei Stunden erreichen kann.
Er dachte an den Schwarzen Ritter mit dem Weißen Schild, dem er den Brief bringen sollte. Er hatte vorher noch nie von ihm gehört. Wer war er? Woher kam er? König Dagonaut hatte keinen einzigen Ritter, der eine solche Waffenrüstung trug – er stand also wahrscheinlich in Diensten des Königs Unauwen. Warum er sich hier aufhielt, so weit entfernt von seinem Land, war ebenfalls rätselhaft. Tiuri erinnerte sich an Geschichten von Reisenden aus dem Süden, die Rittern aus Unauwen begegnet waren. Sie zogen manchmal über den Großen Südweg nach Evillan, dem unfreundlichen Land auf der anderen Seite des Grauen Flusses. Dort regierte einer der Söhne von König Unauwen.
Tiuri überlegte, wie lange er wohl schon unterwegs war. Eine Stunde? Dann war es jetzt Viertel nach zwei. Vielleicht auch schon später – es schien sehr lange her zu sein, dass er in der Kapelle gekniet und die Stimme gehört hatte, die ihn bat, die Tür zu öffnen …
Die Gegend wurde allmählich hügelig; manchmal stieg der Weg an, dann führte er wieder hinab. Das Pferd schien besser sehen zu können als er selbst; jedenfalls schritt es ohne Zögern voran.
Still war es im nächtlichen Wald … aber nicht so still wie in der Kapelle. Tiuri hörte alle möglichen seltsamen, leisen Geräusche, die vielleicht von Tieren herrührten. Blättergeraschel und die Schritte des Pferdes und ab und zu das Knacken dürrer Äste, die abbrachen, wenn er dagegen stieß. Irgendetwas flog ihm ins Gesicht, so dass er erschrak. Natürlich war es nur ein Nachtfalter oder ein anderes Insekt.
Der Weg stieg nun wieder an, und es wurde heller. Hier standen weniger Bäume. Jetzt bin ich sicher in der Nähe der Lichtung, dachte er.
Kurz darauf erreichte er eine Hochebene, auf der kein einziger Baum stand. Das musste die Stelle sein, die der Unbekannte erwähnt hatte. Und jetzt links abbiegen.
Er ritt über die Ebene, als er plötzlich etwas hörte, das ganz anders klang als alle bisherigen Geräusche. Wiehern und Hufgetrappel!
Er konnte einen Teil des Waldes überschauen, und als er scharf hinsah, entdeckte er in der Feme dunkle Gestalten und das Blinken von Waffen. Ein Trupp Reiter zog rasch durch den Wald.
Tiuri zog sich unter die Bäume zurück und überlegte, wer diese Reiter wohl waren und was sie im Wald zu tun hatten, so mitten in der Nacht. Nach einer Weile traute er sich wieder auf die Ebene. Niemand war mehr zu sehen oder zu hören; es schien, als habe er geträumt. Er überließ sich jedoch nicht lange seinen Gedanken, sondern bog in den linken Weg ein, der von der Hochebene hinabführte.
Das kann man kaum als Pfad bezeichnen, dachte er, während er weiterritt. Es ist eine Art Spur, mehr nicht. Und er seufzte ärgerlich, weil er jetzt noch langsamer reiten musste. Ein Stück weiter war er sogar gezwungen, abzusteigen und das Pferd am Zügel zu führen, während er tastend den Weg suchte und ständig Angst hatte, sich zu verirren. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, und seine Füße wurden nass in dem hohen, taubedeckten Gras.
Wie spät mag es wohl sein? überlegte er immer wieder. Wenn es so weitergeht, bin ich nie und nimmer zeitig zurück.
Mittlerweile wurde es heller; hier und da begannen Vögel zu zwitschern. Er seufzte erleichtert, als der Weg endlich so viel breiter wurde, dass er wieder sein Pferd besteigen konnte.
In der grauen Phase kurz vor Tagesbeginn kam er auf eine zweite Lichtung. Dort stand ein kleines, hölzernes Gebäude; das musste die Herberge sein.
Tiuri stieg von seinem Pferd und band es an einem Baum fest. Dann ging er schnell zur Herberge hinüber. Sie war still und dunkel; alle Fenster und Türen waren geschlossen. Er ließ den Klopfer auf die Eingangstür fallen; es gab einen lauten, dröhnenden Schlag, der jeden wecken musste. In der Herberge war jedoch kein Geräusch zu hören. Er rüttelte an der Tür, aber sie war abgeschlossen. Ungeduldig ließ er den Klopfer nochmals niederkrachen. Nun wurde im Obergeschoss ein Fenster geöffnet. Ein Mann mit einer Schlafmütze auf dem Kopf lehnte sich hinaus und fragte mit schläfriger Stimme nach seinen Wünschen.
»Ist dies die Herberge Yikarvara?«, fragte Tiuri.
»Ja, sie ist es«, antwortete der Mann brummig. »Musst du mich deswegen wecken und vielleicht sogar meine Gäste? Diese Nacht kommen wir einfach nicht zur Ruhe!«
»Seid Ihr der Wirt?«, fragte Tiuri. »Ich möchte einen von Euren Gästen sprechen.«
»Mitten in der Nacht?«, sagte der Mann erbost. »Das geht nicht! Komm morgen wieder.«
»Es ist sehr wichtig!«, sagte Tiuri in dringendem Ton. »Bitte … macht das Fenster nicht wieder zu.«
Der Mann lehnte sich weiter hinaus. »Wer bist du?«, fragte er.
»Und wen musst du sprechen?«
»Wer ich bin, tut nichts zur Sache«, sagte Tiuri flüsternd. »Ich suche den Schwarzen Ritter mit dem Weißen Schild.«
Der Mann machte ein eigenartiges Geräusch; Tiuri war sich nicht im Klaren, ob es böse klang oder erstaunt. Jedenfalls war die Schläfrigkeit aus der Stimme des Mannes verschwunden, als er rief:
»Einen Moment, ich komme herunter.« Sein Kopf verschwand, und kurz darauf hörte Tiuri das Knarren der Riegel, die zur Seite geschoben wurden. Dann öffnete sich die Tür, und der Mann erschien auf der Schwelle. Er trug ein Nachthemd und hielt eine brennende Kerze in der Hand.
»Soso«, sagte er, während er Tiuri von Kopf bis Fuß musterte.
»Ich bin der Wirt von Yikarvara. Und nun erzähl mir mal, warum du mich aus dem Schlaf geholt hast.«
»Ich komme wegen des Schwarzen Ritters mit dem Weißen Schild«, antwortete Tiuri. »Ich muss ihn dringend sprechen.«
»Das ist schon das zweite Mal heute Nacht«, sagte der Wirt.
»Aber es wird nicht möglich sein, ihn sofort zu sprechen.«
»Ihr könnt ihn doch wecken!«, sagte Tiuri.
»Das ist nicht möglich«, wiederholte der Wirt. »Der Schwarze Ritter mit dem Weißen Schild ist nicht hier. Er ist zu Beginn der Nacht weggegangen.«
Tiuri erschrak. »Nein«, rief er, »das kann nicht sein!«
»Und warum nicht?«, sagte der Wirt ruhig.
»Wohin ist er gegangen?«, fragte Tiuri hastig.
»Wenn ich das wüsste, würde ich es dir bestimmt sagen«, antwortete der Wirt. »Aber ich weiß es nicht.« Er schien zu merken, wie erschrocken Tiuri war, denn er fügte hinzu: »Ich glaube aber, dass er zurückkehren wird – jedenfalls wenn er ein ebenso guter Ritter ist, wie er aussieht. Du kommst wegen ihm, nicht von ihm, stimmt’s?«
»Wegen ihm«, sagte Tiuri.
»Was hast du ihm mitzuteilen?«
»Das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte Tiuri. »Aber es eilt. Wisst Ihr, wann er zurückkommt?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen«, antwortete der Wirt, »aber auch das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt nichts von diesem Ritter. Es ist eine merkwürdige Geschichte.« Er kratzte sich so heftig am Kopf, dass seine Schlafmütze herunterfiel.
»Oje, aber etwas müsst Ihr doch wissen!«, sagte Tiuri. »Wann ist er weggegangen und weshalb? Und in welche Richtung ist er gegangen?«
»Das sind viele Fragen auf einmal«, sagte der Wirt. Er bückte sich mühsam und hob seine Schlafmütze auf. »Komm mit in die Wirtsstube«, fuhr er fort. »Ich mag diese feuchte Morgenkälte nicht; sie ist nicht gut für meine steifen Beine.«
In der Wirtsstube stellte er seine Kerze auf den Tisch und zog sich die Schlafmütze wieder über. Tiuri, der ihm gefolgt war, fragte ungeduldig: »Wohin ist der Schwarze Ritter gegangen?«
»Er kam gestern Morgen«, sagte der Wirt. »Ein merkwürdiger Gast – nicht dass ich daran zweifle, dass er ein tapferer Ritter ist, o nein! Im Gegenteil, er hat großen Eindruck auf mich gemacht. Er war ganz allein, nicht einmal einen Schildknappen hatte er bei sich. Er trug eine pechschwarze Rüstung, nur der Schild, den er am Arm trug, war weiß wie Schnee. Das schwarze Visier hatte er heruntergeklappt; er schlug es nicht auf, als er mich um ein Zimmer fragte, und auch nicht, als er hineinging.
Nun, er bekam natürlich ein Zimmer, und später brachte ich ihm sein Essen dorthin, denn darum hatte er mich gebeten. Ich dachte, dass ich dann sicher sein Gesicht zu sehen bekäme – aber das war nicht der Fall! Er hatte seine Rüstung abgelegt, und auch den Helm hatte er abgesetzt; aber nun trug er eine schwarze Seidenmaske, durch die ich nur seine Augen sehen konnte. Seltsam, nicht wahr? Er hat sicher ein Gelübde abgelegt oder so was Ähnliches. Weißt du etwas darüber?«
»Wo ist er hingegangen?«, fragte Tiuri nochmals.
Der Wirt schien ein wenig verärgert zu sein, antwortete aber trotzdem. »Das wollte ich ja gerade erzählen«, sagte er. »So gegen zwei – ich lag im Bett – wurde plötzlich laut gegen die Haustür geschlagen. Ich blickte aus dem Fenster und sah dort noch einen schwarzen Ritter stehen! »Lasst mich ein!«, rief er. »Hält sich hier der Schwarze Ritter mit dem Weißen Schild auf?«·Jas, sagte ich.
»Aber es ist schon ziemlich spät …«
»Mach die Tür auf!«, ruft er. »Oder ich schlage sie entzwei!«
Ich fliege hinunter und öffne die Tür. Der Ritter steht vor mir; er ist ebenfalls in eine pechschwarze Rüstung gehüllt, aber sein Schild ist rot wie Blut. Er fragt in barschem Ton: »Wo ist der Schwarze Ritter mit dem Weißen Schild?« – Er schläft«, sage ich.
»Dann wecke ihn, sagt er. »Ich muss ihn sprechen. Und zwar sofort, wenn ich bitten darf!
Ehrlich gesagt war ich ein wenig erschrocken, und ich beeilte mich, ihm zu gehorchen. Bevor ich jedoch das Zimmer meines Gastes erreicht hatte, kam dieser schon die Treppe herunter. Er war völlig angekleidet, hatte seinen schwarzen Harnisch an und seinen Helm auf, das Visier heruntergeschlagen. Er trug all seine Waffen bei sich, und der weiße Schild hing an seinem Arm. So kam er nach unten und ging in die Wirtsstube. Der Schwarze Ritter mit dem Roten Schild geht ihm entgegen, und dann bleiben sie voreinander stehen. Der Ritter mit dem Roten Schild zieht seinen Handschuh aus und wirft ihn dem anderen vor die Füße. Der Ritter mit dem Weißen Schild hebt ihn auf und fragt: Wann?« – Jetzt!«, sagt der Ritter mit dem Roten Schild.«
Der Wirt machte eine kleine Pause, um Atem zu holen, und schloss dann seinen Bericht: »Danach verließen sie nebeneinander die Wirtsstube, ohne noch ein Wort zu sagen, und ein paar Minuten später ritten sie zusammen weg, in den Wald.«
»Zum Zweikampf«, sagte Tiuri.
»Ja, das glaube ich auch«, sagte der Wirt. »Und bis jetzt ist keiner der beiden zurückgekehrt.«
»Sie sind also um zwei Uhr weggegangen?«, fragte Tiuri. »Wie spät ist es jetzt?«
»Ungefähr halb fünf, glaube ich«, sagte der Wirt. »Es wird schon hell.«
»In welche Richtung sind sie gegangen?«, erkundigte sich Tiuri. Der Wirt ging mit ihm hinaus und zeigte es ihm. »Aber ich weiß nicht, wohin sie reiten wollten«, fügte er hinzu.
»Ich werde versuchen, ihren Spuren zu folgen«, sagte Tiuri schnell. »Ich danke Euch!« Und ehe der Wirt noch etwas sagen oder fragen konnte, war er auch schon zu seinem Pferd geeilt, hinaufgesprungen und fortgeritten.
Im Osten war der Himmel rosa und orange gefärbt; gleich würde die Sonne aufgehen. Die Vögel zwitscherten und flöteten, trillerten und pfiffen fröhlich, als freuten sie sich auf den Beginn eines schönen Tages. Tiuri freute sich nicht; er ärgerte sich, weil es schon so spät war und er noch nicht mal seinen Auftrag erledigt hatte. Wie sollte es ihm je gelingen, rechtzeitig wieder in der Kapelle zu sein? Trotzdem folgte er weiter den Spuren der beiden schwarzen Ritter. Er hatte nun mal versprochen, den Brief zu überbringen, und sein Versprechen wollte er auch halten. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, in Gedanken unentwegt zu schimpfen. Er verwünschte den Schwarzen Ritter mit dem Roten Schild, weil dieser den Schwarzen Ritter mit dem Weißen Schild herausgefordert hatte, und er nahm es dem Ritter mit dem Weißen Schild übel, dass er die Herausforderung angenommen hatte. Und er verwünschte sie alle beide, weil sie keine deutlichen Spuren hinterlassen hatten, indem sie nicht einem Weg gefolgt, sondern quer durch den Wald geritten waren.
Es ist sicher schon fünf Uhr, dachte er. Es ist schon ganz hell. Wohin sind sie nur geritten?
Er stellte sich vor, wie erstaunt Dagonauts Ritter sein würden, wenn sie ihn um sieben Uhr nicht in der Kapelle antreffen würden. Was mochten der König, seine Eltern, seine Freunde und alle anderen wohl denken, wenn sie erfuhren, dass er in der Nacht vor seinem Ritterschlag weggelaufen war? Er hörte in Gedanken noch einmal die Worte des Unbekannten und kam, wenn auch seufzend, zu dem Schluss, dass er nicht anders hätte handeln können. Dann landete er mit einem Schock wieder in der Wirklichkeit, weil er die Spur verloren hatte.
Er war zu einer Lichtung gekommen, deren sandiger Boden völlig aufgewühlt und mit Spuren bedeckt war! Doch welche stammten nun von den beiden Rittern?
Er schaute sich aufmerksam um. Es sah so aus, als sei ein ganzer Trupp Reiter hier vorbeigekommen – vielleicht dieselben Reiter, die er während der Nacht gesehen hatte. Sie waren quer durch den Wald gestürmt und hatten dabei viele Pflanzen zertreten und Zweige geknickt. Die Spur der beiden Ritter konnte er jedoch nicht mehr finden. So wählte er schließlich die Richtung, aus der die Reiter gekommen waren; sie hatten einen deutlich sichtbaren Pfad gebahnt. Während er weiterritt, überlegte er, ob diese Reiter wohl etwas mit den schwarzen Rittern zu tun hatten. Obwohl es jetzt hell war, fühlte er plötzlich eine größere Angst als in der ganzen verflossenen Nacht …
Nach einer Weile hörte er etwas – ein leises, unruhig klingendes Wiehern. Einige Augenblicke später entdeckte er ein Pferd, das an einem Baum festgebunden war. Es war ein prachtvolles schwarzes Pferd mit einfachem Zaumzeug. Es sah ihn mit traurigen dunklen Augen an und wieherte erneut.
Tiuri streichelte ihm kurz über die Nase und flüsterte: »Hab noch etwas Geduld, ich werde nachschauen, wo dein Herr ist. Er wird bestimmt hier in der Nähe sein. Meinst du nicht auch?«
Er ritt ein kleines Stück weiter; dann sah er zwischen den Bäumen, im blassgrünen Gras, etwas liegen. Es war schwarz und weiß und rot … Sein Atem stockte; trotzdem sprang er rasch von seinem Pferd und lief dorthin.
Da lag ein Mensch auf dem Boden – in einer schwarzen, beschädigten und verbeulten Rüstung. Der Schild, der neben ihm lag, war weiß. Das Rote war Blut. Tiuri hatte den Schwarzen Ritter mit dem Weißen Schild gefunden, aber er war verwundet … oder sogar tot.
Er kniete neben dem Ritter nieder; der war auf jeden Fall schwer verwundet, aber er atmete noch. Er hatte keinen Helm auf; sein Gesicht war jedoch von einer schwarzen Maske bedeckt. Tiuri starrte auf ihn hinab, während er am ganzen Leib zitterte. Dann riss er sich zusammen. Er musste etwas unternehmen, nachschauen, wie es um den Verwundeten stand, ihn verbinden.
Der Ritter bewegte sich und flüsterte: »Wer ist da?«
Tiuri beugte sich über ihn. »Bleibt still liegen, Herr«, sagte er.
»Ich werde Euch helfen. Habt Ihr irgendwo Schmerzen?«
Er sah, dass der Ritter ihn durch die Maske hindurch anblickte.
»Ich kenne dich nicht«, sagte er mit schwacher Stimme, »aber ich bin froh, dass mich jemand gefunden hat, ehe ich sterbe. Kümmere dich nicht um meine Wunden; daran ist nichts mehr zu machen.«
»Sagt das nicht«, erwiderte Tiuri, während er vorsichtig den Harnisch zu öffnen begann.
»Mach dir keine Mühe«, flüsterte der Ritter. »Ich weiß, dass ich sterbe.«
Tiuri fürchtete, dass er Recht hatte. Trotzdem fuhr er mit seinem Bemühen fort, die Leiden des Verwundeten zu lindern. Er riss ein Stück Stoff aus seinem Gewand und verband ihn damit, so gut er konnte.
»Danke«, flüsterte der Ritter kurz darauf. »Wer bist du, und wie kommst du hierher?«
»Ich bin Tiuri«, antwortete der Jüngling. »Soll ich etwas Wasser holen? Vielleicht möchtet Ihr einen Schluck trinken.«
»Nicht nötig«, sagte der Ritter. »Tiuri … diesen Namen kenne ich. Bist du mit Tiuri dem Tapferen verwandt?«
»Das ist mein Vater«, sagte Tiuri.
»Wieso bist du hierher gekommen?«, fragte der Ritter.
»Ich … ich kam Euretwegen … es tut mir so Leid, dass …«
»Du kommst meinetwegen?«, fiel der Schwarze Ritter ihm ins Wort. »Meinetwegen? Gott sei Dank, dann ist es vielleicht noch nicht zu spät …« Er schaute Tiuri an; die Augen hinter der schwarzen Maske glänzten. Dann sagte er: »Hast du etwas für mich?«
»Ja, Herr«, sagte Tiuri. »Einen Brief.«
»Ich wusste, dass mein Schildknappe einen Boten finden würde«, seufzte der Ritter. »Einen Augenblick«, sagte er, als Tiuri den Brief hervorholen wollte. »Solltest du mich nichts fragen?«
Plötzlich erinnerte sich Tiuri, dass er das Losungswort sagen mußte. »Warum … warum ist Euer Schild weiß?«, stammelte er.
»Weil in Weiß alle Farben enthalten sind«, antwortete der Ritter. Seine Stimme klang nun viel kräftiger. Es war eine Stimme, die Tiuri großes Vertrauen einflößte. Dann fragte er: »Woher kommst du?«
»Ich komme von weit her«, gab Tiuri zur Antwort.
»Zeig mir jetzt den Brief«, befahl der Ritter. »O nein – sieh erst nach, ob uns niemand bespitzelt.«
Tiuri sah nach. »Es ist niemand in der Nähe«, sagte er, »außer unseren Pferden.« Er holte den Brief hervor und zeigte ihn dem Ritter.
»Ach, Herr«, sprudelte es aus ihm heraus, »wie Leid tut es mir, dass Ihr im Zweikampf unterlegen seid!«
»Im Zweikampf?«, sagte der Verwundete. »Es hat überhaupt kein Zweikampf stattgefunden! Mich hat noch nie jemand geschlagen. Der Schwarze Ritter mit dem Roten Schild hat mich in einen Hinterhalt gelockt. Seine Roten Reiter sprangen auf mich zu und griffen mich an. Es waren viele.«
»Wie abscheulich!«, murmelte Tiuri entsetzt.
»Aber sie haben nicht gefunden, was sie suchten«, sagte der Ritter. »Sie wollten nicht nur mich umbringen, sondern auch den Brief vernichten – den Brief, den du mir gerade zeigst! Steck ihn wieder gut weg – dann werde ich dir sagen, was du damit tun sollst
… Erst aber berichte mir, Tiuri, wie es kommt, dass du mir den Brief überbringst.«
Tiuri erzählte es ihm.
»Gut«, flüsterte der Ritter und schwieg dann einen Moment.
»Mach nicht so ein sorgenvolles Gesicht«, fügte er freundlich hinzu. Tiuri spürte, dass er unter seiner Maske lächelte, und er wünschte, dass er wüsste, wie dieses Gesicht aussah.
»Hör zu«, sagte der Ritter. »Ich muss mich kurz fassen, denn ich habe nicht mehr viel Zeit … Dieser Brief ist für König Unauwen, und er ist sehr, sehr wichtig. Jetzt, da ich ihn nicht mehr überbringen kann, musst du es tun!«
»Ich …?«, flüsterte Tiuri.
»Ja, ich weiß niemand anderen, der es besser könnte. Du bist dazu in der Lage; ich vertraue dir. Du musst dich sofort auf den Weg machen; es darf nicht noch mehr Zeit verloren gehen. Du musst in westlicher Richtung reiten – erst durch den Wald und dann den Blauen Fluss entlang, bis du seine Quelle erreicht hast. Dort wohnt Menaures, ein Einsiedler … Nimm diesen Ring von meinem Finger; wenn du ihn dem Einsiedler zeigst, wird er wissen, dass ich dich geschickt habe. Er wird dir helfen, übers Gebirge zu kommen, denn das schaffst du nicht allein. Jenseits der Berge zeigt sich der Weg von selbst …« Der Ritter streckte die Hand empor und sagte: »Hier, nimm meinen Ring … Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber du bist im Augenblick der richtige Mann für diesen Auftrag.«
Tiuri zog vorsichtig den Ring von seinem Finger.
»Ich möchte es ja tun«, sagte er, »aber ich weiß nicht …«
»Du musst es tun«, sagte der Ritter. »Ich will dir jedoch nicht verschweigen, dass es schwierig sein wird. Du weißt bereits, dass Feinde hinter diesem Brief her sind; viele Gefahren werden dich bedrohen. Darum halte deine Sendung geheim; erzähle niemandem davon. Und gib diesen Brief nur König Unauwen.«
»Was … was steht darin?«, fragte Tiuri, während er den Ring langsam über seinen eigenen Finger streifte.
»Das ist ein Geheimnis«, antwortete der Ritter. »Du darfst ihn nicht öffnen. Nur wenn Gefahr droht, dass du ihn hergeben müsstest, sollst du ihn lesen, so dass du die Botschaft mündlich überbringen kannst. Den Brief selbst musst du dann natürlich vernichten. Aber das darf nur im Notfall geschehen.« Er schwieg kurz und fragte dann, mit viel schwächerer Stimme: »Willst du den Brief überbringen?«
»Ja, Herr«, sagte Tiuri.
»Gelobe es mir bei deiner Ritterehre«, flüsterte der Ritter.
»Ich gelobe es bei meiner Ritterehre«, sagte Tiuri. »Allerdings«, fügte er hinzu, »bin ich noch kein Ritter.«
»Du wirst aber einer werden«, sagte der Ritter. »Und würdest du mir jetzt bitte meine Maske abnehmen? Dem Tod soll man immer mit offenem Visier entgegentreten …«
Mit zitternden Händen tat Tiuri, worum man ihn gebeten hatte. Als er das ruhige, edle Gesicht des Schwarzen Ritters sah, rührte es ihn so, dass er dessen Hand ergriff und ihm schwor, den Brief sicher zu überbringen. »Und ich werde Euch an Euren Mördern rächen!«, sagte er.
»Das ist nicht deine Aufgabe …«, flüsterte der Ritter. »Du sollst nur mein Bote sein.«
Er schloss die Augen. Seine Finger bewegten sich leicht in Tiuris Hand und ruhten dann still.
Tiuri schaute ihn an und ließ vorsichtig seine Hand los. Er ist tot, wusste er. Er war zutiefst betrübt, obwohl er den Ritter ja gerade erst kennen gelernt hatte. Dann barg er sein Gesicht in den Händen und betete für dessen Seele.