Martina Wildner wurde 1968 im Allgäu geboren. Nach einigen Semestern Islamwissenschaften studierte sie an der Fachhochschule Nürnberg Grafikdesign. Sie lebt als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschienen von ihr bisher unter anderem die Romane Jede Menge Sternschnuppen (Peter-Härtling-Preis),
Königin des Sprungturms (Deutscher Jugendliteraturpreis) sowie die drei schaurigen Abenteuer mit Hendrik, Eddi und Ida: Das schaurige Haus (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis), Die Krähe am unheimlichen See und Der verfluchte Baum.

Mädchen : Jungen

Das ist das Schöne am Fußball: Alles ist einfach und klar. Ein Tor ist ein Tor, ein Dribbling ein Dribbling und ein Fallrückzieher, falls man ihn kann, ein Fallrückzieher.

Das normale Leben hingegen ist voller Uneindeutigkeiten und Halbwahrheiten. Noch verwirrender wird es, wenn sich das normale Leben mit dem Fußball mischt. So wie an jenem Tag.

Auf dem Platz begrüßte mich keine, nicht mal unsere Trainerin sah mir richtig in die Augen. Während des Trainings bekam ich nie den Ball zugespielt, kein einziges Mal. Meine Mitspielerinnen rannten an mir vorbei, als wäre ich unsichtbar, und reagierten auch nicht auf mein Zurufen. So lief ich ziellos hierhin und dorthin, erschöpft von der Sinnlosigkeit meines Tuns und von der unglaublichen Hitze, die sich zwischen den hohen Häusern staute.

Langsam wurde mir klar, dass da wohl jemand etwas ausgeplaudert hatte.

Nach Trainingsschluss trabten wir zu dem Kübel, der, wie an Tagen um die 30 Grad üblich, bis an den Rand mit Wasser gefüllt am Spielfeldrand stand. Fabienne steckte den Kopf hinein und schüttelte das Wasser mit einem Schwung aus ihrem langen, blonden Pferdeschwanz, sodass alle nass wurden.

Ich wollte auch zu dem Kübel, aber ich wurde weggedrängt. Deswegen blieb ich ein wenig abseits stehen, atmete die staubige Luft des Kunstrasenplatzes ein, klopfte mir das Granulat von den Stutzen und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war einfach zu heiß für alles.

Plötzlich bekam ich einen Stoß von hinten. Ich fiel nach vorne und landete mit dem Bauch auf dem feuchten Kunstrasen. Bevor ich etwas sagen konnte, zischte Paula: »Du liegst im Weg!«

»Du hast doch mich geschubst!«, antwortete ich, während ich mich aufrappelte. Mein Trikot war am Bauch patschnass. Das war eigentlich angenehm, eine Erfrischung, doch die anderen schauten mich böse an.

»Mit Verräterinnen reden wir nicht mehr«, sagte Paula und verschränkte die Arme.

»Ja!«, sagte Gesa. »Wer zu Stern 09 geht, braucht sich nicht zu wundern.«

»Was? Ich? Zu Stern 09?«

Die anderen schauten noch finsterer drein. Stern 09 war unser Feind, denn sie waren die einzige ernst zu nehmende Konkurrenz in der Liga. Man ging da nicht hin, wenn man beim FFC war.

»Wer erzählt denn so etwas?«, fragte ich.

Keine antwortete.

»Fabienne?«

»Ich hab gar nichts erzählt!«

»Nein, ich meine, hat dir Betty …?« Fabienne war meine beste Freundin im Team, deswegen wandte ich mich an sie, in der Hoffnung auf Gnade.

»Nein, hat sie natürlich nicht.« Fabienne drehte sich weg.

»Haha!«, machte Paula. »Wir sind unserem Star zu lahm! Zu lahaaam, lahaaam!« Hätte ich heute bloß nicht dieses uralte Philipp-Lahm-Trikot angezogen. Sie und Gesa hüpften herum und taten so, als gingen sie mit Krückstock. Die anderen lachten fies.

»Ich geh doch gar nicht zu …«, sagte ich. Eigentlich wollte ich erklären, dass ich nie und nimmer vorhatte, zu Stern 09 zu gehen. Ich wollte wechseln, ja, aber zu Blau-Weiß, in eine Jungenmannschaft, die meinem Team völlig egal sein konnte.

»Ach, sei einfach still«, unterbrach mich Paula. »Kommt, gehen wir!«

Die anderen gingen mit ihr mit und verschwanden in der Umkleide. Ich stand mit hängenden Armen da in der glühenden Nachmittagshitze auf unserem kleinen Fußballplatz zwischen den hohen, mit Graffiti besprühten Brandschutzmauern der Häuser.

FLY HIGH, stand da, in fetten, schwarzen Buchstaben. Ich las diese Worte immer, normalerweise beflügelten sie mich. Doch jetzt machten sie mich wütend. Hoch fliegen! Ich war ja größenwahnsinnig! Was wollte ich bei den Jungs?

Ich wartete am Bahnsteig auf die S-Bahn. Die Luft flimmerte über den Gleisen.

»Hast du was ausgeplaudert? Ich meine, aus Versehen vielleicht?« Ich war froh, Betty am Handy erreicht zu haben.

Den Verein zu wechseln lag in der Natur des Fußballspielers – und der Fußballspielerin. Trotzdem war es auf gewisse Weise verboten, ein Betrug am alten Verein. Wechseln wurde, egal wie man es anstellte, bestraft.

»Ich? Nein, nie im Leben«, antwortete Betty.

Ich wusste nicht, ob sie die Wahrheit sagte. Seit dem Training fragte ich mich, woher die Mädchen aus meinem Verein von der Sache erfahren haben könnten, denn außer mit Betty hatte ich mit niemandem darüber gesprochen.

»Ehrlich!«, rief Betty. »Ich hab nichts erzählt! Warum sollte ich auch?«

Ja, warum sollte sie? Zwar kannten sich Betty und Fabienne schon seit dem Kindergarten, doch Fabienne war meine Fußballfreundin und Betty war meine Schulfreundin. Keine nahm der anderen etwas weg. Das waren zwei voneinander getrennte Welten.

Die S-Bahn fuhr ein, und ich sagte: »Na ja, vielleicht hat mein Vater ja den Mund nicht halten können.«

»So wird es sein«, sagte Betty und lachte irgendwie erleichtert. Ich lachte auch.

Nein, ich wollte nicht auch noch mit Betty Streit haben.

Eine quälende und viel zu lange Nacht folgte. Die Dachwohnung meiner Mutter heizte sich im Sommer gnadenlos auf. Am Abend hatte ich mehrere Male Fabienne geschrieben, um ihr zu erklären, dass ich nicht zum Feind wechseln wollte, sondern nur in eine Jungenmannschaft, und das auch nur vielleicht.

Sie hatte nicht geantwortet. Wahrscheinlich hatte Betty halt doch geplaudert, weil sie wahrscheinlich gar nicht wusste, was man mit Wechselgerüchten anrichten konnte. Oder man hatte es mir angesehen? Vielleicht strömte jeder, der wechseln wollte, einen gewissen Geruch aus. Ja, den Wechselgeruch. Über diesen Gedanken schlief ich ein.

Eigenartigerweise fehlte Betty am nächsten Morgen in der Schule; sie war selten krank, weshalb ich ihr Fehlen als schlechtes Gewissen wertete. Wahrscheinlich hatte sie Fabienne eben doch etwas erzählt. Aber warum?

Jetzt saß ich in einer winzigen, stickigen Umkleidekabine, die eigentlich für die Schiedsrichter gedacht war. Gleich würde ich bei meinem neuen Verein vorspielen. Mir war klar: Wenn ich im Probetraining versagte, hatte ich nichts mehr, weder mein altes Mädchenteam noch die neue Jungenmannschaft.

Also höchste Konzentration! Ich fasste Mut, indem ich tief einatmete, und überprüfte den Knoten meiner Schnürsenkel. Dann verließ ich die Kabine und ging die Treppe hinunter zum Treffpunkt im Erdgeschoss, wo der Platzwart in einem verglasten Kasten saß. Eine große Digitaluhr zeigte 16.51 Uhr. Um fünf Uhr ging es los, doch schon drei Minuten später hörte ich im Treppenhaus Geschrei und das Quietschen der Kunstrasennoppen auf dem PVC.

Noch ein paar Sekunden, dann würden sie mich sehen.

Ich hatte mein Haar zurückgebunden und trug ein dünnes, blaues Stirnband.

»Stopp, Jungs!«, rief der Trainer – er hieß Jurek – und wühlte sich durch die Horde. Die Jungs blieben stehen.

Jurek, er mochte etwa 25 Jahre alt sein, wandte sich an die Jungs und deutete auf mich.

»Hört zu: Das ist Jo. Sie hat bei uns ein Probetraining, alles klar?«

Ein paar Jungs musterten mich von oben bis unten, sehr kurz und sehr abschätzig. Aber das war vorauszusehen gewesen, denn ich war ein Mädchen und noch dazu hässlich: ein Mädchen mit dünnem, schnittlauchglattem Haar, Kartoffelnase, matschgrünen Augen, schmalem Mund und zu großem Kinn. Ich hatte eckige Schultern und praktisch keine Taille. Rasch interessierte sich die Horde schon nicht mehr für mich und drängte sich lärmend an mir vorbei zur Tür hinaus, jeder in seinem blauen Trainingsshirt. Weil dadurch alle gleich aussahen, waren mir nur zwei Jungs auf den ersten Blick aufgefallen: einer mit knallrotem Haar wie Ron Weasley und einer mit Undercut.

Ich folgte ihnen auf den Platz. Es war ein riesiges Gelände, das ein wenig im Niemandsland lag, zwischen Autobahn, Schrebergärten und dem Flughafengelände. Gerade flog eine startende Maschine über unsere Köpfe hinweg. Das Geräusch war laut, doch die Jungs schien es nicht zu stören. Sie waren daran gewöhnt, schlenkerten ihre Beutel und übten Bottle-Flips. Einmal kullerte eine Flasche über den Boden, einer kickte sie weg, ein andrer stolperte drüber, keiner hob sie auf. Als ich es tat und sie dem Werfer zurückgab, lachten alle.

Auf dem Platz schnappte sich der Rothaarige einen Ball und jonglierte damit. Ich zählte mit und hörte bei 163 auf. Später balancierte er den Ball eine halbe Minute auf dem Kopf, um ihn von dort auf die Hacke fallen zu lassen und ihn wieder nach vorne zu kicken, wo er weiterjonglierte. Wenn das alle hier so beherrschten, konnte ich einpacken.

Dann begann das Training. Schon das Erwärmungsprogramm war zehnmal anstrengender als das bei meiner Mädchenmannschaft. Wir machten komplizierte Passübungen, und ich musste mich sehr konzentrieren, um mithalten zu können.

Eine Übung kannte ich gar nicht und vor Aufregung verstand ich auch Jureks kurze Erklärung nicht richtig. Gleich der erste Ball ging total daneben und der Undercut stöhnte hörbar auf.

Als mir die Übung beim zweiten Mal auch nicht gelang, drehte er sich genervt weg, und als ich den Ball das dritte Mal bekommen sollte, schoss er ihn mir so scharf zu, dass ich ihn gar nicht kriegen konnte. Irgendjemand lachte.

Mein Kopf musste ganz rot sein inzwischen.

Zum Glück war jetzt erst einmal Trinkpause, danach sollte ein kleines Spiel stattfinden. Ich hoffte, da punkten zu können.

Jurek teilte die Mannschaften ein und fragte mich nach meiner Position.

»Wo spielst du normalerweise?«

»Äh …«, sagte ich zögernd. »Am liebsten Mittelfeld oder … Sturm.«

»Sturm!«, rief der Undercut, der übrigens Niclas hieß, und lachte meckernd. Die anderen lachten mit.

»Ruhe!«, schnauzte Jurek. »Gut. Jo spielt im Mittelfeld. Also los.«

Wir nahmen unsere Positionen ein.

Im Spiel durfte ich nichts falsch machen, auf gar keinen Fall.

Ich hatte drei Ballkontakte. Aus dem einen resultierte ein Fehlpass, der andere belief sich auf eine kurze Berührung, denn der Rothaarige luchste mir den Ball sofort ab, beim dritten machte ich einen fantasielosen Rückpass. Sehr indirekt diente er zwar dem Spielaufbau, und danach, nach sieben weiteren Ballkontakten fiel sogar ein Tor für unsere Mannschaft, aber mehr hatte ich nicht zum Spiel beigetragen.

»So, Schluss! Da habt ihr noch nicht alles gezeigt. Das will ich morgen besser sehen. Beim nächsten Training gibt’s Noten. Also: Bälle und Hütchen einsammeln und die Leibchen auf den Haufen!«

Ich zog mein Leibchen aus und legte es auf den Kunstrasen. Die Jungs warfen sie, eins flog mir ins Gesicht.

»Ron!«, rief Jurek. Der rothaarige Junge hatte geworfen. Hieß er tatsächlich Ron? »Niclas! Jo! Misha! Ihr tragt das Tor da rüber.«

Niclas machte eine Grimasse. Ron und er fassten auf der einen Seite an, Misha und ich auf der anderen. Misha und ich mussten rückwärtsgehen. Ich stolperte.

Niclas sagte was zu Ron, sie sahen her, dann tuschelten sie irgendwas. Ich verstand: »Mann, nicht mal ein Tor kann sie tragen. Ey, sie ist voll der pain in the ass

»Höhö«, machte Ron und lachte.

Die Schiedsrichterkabine war klein und man war allein. Doch im Moment war ich froh darüber und ließ das Wasser auf meinen Rücken prasseln. So stand ich ein paar Minuten unter dem harten Strahl. Ich war pain in the ass.

Was hatte ich nur getan? Mein Mädchenteam hasste mich, weil ich rauswollte, die Jungs hassten mich, weil ich reinwollte.

Ich trocknete mich ab und setzte mich ins Handtuch gewickelt auf einen der zwei Stühle, die es in dieser Schiedsrichterkabine gab. Außerdem standen da ein Tisch und ein Spind.

Ich schaute auf mein Handy. Fabienne hatte mir geantwortet, endlich.

Sie schrieb: Ach so, du gehst zu den Jungs. Na, wenigstens nicht zu Stern 09.

Ich fragte: Wie habt ihr das überhaupt erfahren?

Fabienne antwortete: Von Paulas Vater.

Ich lehnte mich zurück. Also von meinem. Wahrscheinlich hatte er vor Paulas Vater angegeben, wie gut und wie schnell ich sei und dass ich beim FFC nicht mehr ausreichend gefördert werde, so wie er das zu mir immer sagte. Dieser Idiot!

Ich hatte nun überhaupt keine Lust mehr, hinunterzugehen in den Vorraum, wo er saß und auf mich wartete. Aber ich konnte ja nicht ewig hier hocken.

»Wo hast du so lange gesteckt?«, fragte er mich, als ich endlich kam.

»Hab geduscht.« Ich schaute ihn nicht an. Warum gingen wir nicht?

»Ist was los?«, fragte er.

Ich schaute immer noch in die andere Richtung. Doch ich hielt es nur drei Sekunden aus, zu schweigen.

»Papa, was hast du Paulas Vater erzählt? Hast du wieder angegeben?«

»Nein, ich … Wo steckt denn Jurek?« Mein Vater sah sich um.

»Papa«, fuhr ich ihn an. »Was hast du zu Paulas Papa gesagt?«

»Nichts, nur dass du halt wechseln willst. Äh, vielleicht.«

»Sie denken, ich möchte zu Stern 09, weil mir der FFC ›zu lahm‹ ist.«

»Also, das hab ich so nicht gesagt«, antwortete mein Vater und raufte sich die Haare. Offenbar hatte er ein schlechtes Gewissen. Geschah ihm recht. »Und von Stern 09 … ach, da kommt er ja.«

Auch Jurek hatte sich geduscht. Er hatte feuchtes Haar und roch nach Duschbad.

»Wir wollten noch reden«, sagte mein Vater.

»Ja, genau«, antwortete Jurek.

Ich sagte nichts. Ich war sauer und wollte nicht reden. Worüber denn? Dass ich zu schlecht für die Jungenmannschaft war? Und dass es mein Vater geschafft hatte, es mir auch mit den Mädchen zu verderben?

»Wie war’s denn, Jo?«, fragte Jurek. »Hast dich ja prima geschlagen.«

Also verkackt, dachte ich. Er will es bloß nicht so ausdrücken.

»Nein, nein«, sagte der Trainer, der offenbar bemerkte, dass ich unzufrieden war. »Das sah doch schon ganz gut aus.«

»Ich hatte drei Ballkontakte.«

»Die Jungs kennen dich natürlich noch nicht. Das geht allen Neuen gleich.«

»Auch Jungs?«, fragte ich.

»Natürlich!«, rief mein Vater, ohne Jureks Meinung abzuwarten. »Wenn man neu ist, hat es jeder schwer, sogar ein Cristiano Ronaldo. Der war ein Winzling, als er zu Sporting Lissabon kam. Niemand hat ihn ernst genommen.«

O Gott, was redete mein Vater da? Schon vor dem Training hatte er Jurek meine ganze fußballerische Lebensgeschichte erzählt, auch dass ich im Alter von zwei Jahren mit einem Schaumstoffball eine teure Blumenvase umgeschossen hatte und dass der Schaumstoffball ein FC-Bayern-München-Ball war. Das war zu peinlich!

Doch Jurek ging auf den Ronaldo-Vergleich nicht ein. »Na ja, die müssen sich halt erst mal dran gewöhnen, dass da ein Mädchen mitspielt. Das wird schon.«

»Prima«, sagte mein Vater. »Dann kommen wir also morgen wieder?«

Ich wollte einwerfen, dass ich am Mittwoch Keyboardunterricht hatte, doch Jurek sagte schon: »Jawoll, alles klar.«

Wir gingen zum Auto.

»Papa, morgen hab ich Keyboard.«

»Das sagst du halt ab.«

»Jetzt hab ich heute schon den Zahnarzttermin abgesagt.«

Ich hatte meiner Mutter nichts von dem Probetraining bei Blau-Weiß gesagt. Stattdessen hatte ich ihr erzählt, ich müsse mit einer Freundin ein Referat für die Schule vorbereiten.

»Dann verschiebst du es eben«, schlug mein Vater vor.

»Keyboard kann man nicht verschieben.«

»Man kann alles verschieben.«

»Aber …«

»Das ist wichtig, hörst du? Und Andrea versteht einfach nichts von Fußball.«

»Papa, das ist doch alles Mist. Paulas Vater erzählst du Blödsinn, Mama gar nichts …«

»Das kriegen wir schon geregelt. Pass auf, wenn du berühmt bist, denkst du an dieses ganze Pillepalle nicht mehr.«

»Papa! Du spinnst doch!«

Mein Vater war ein eigenartiger Mensch. Von seinen Eltern, die schon lange tot waren, hatte er ein winziges Häuschen geerbt, in dem er wohnte, seit er sich von meiner Mutter getrennt hatte. Vielmehr sie von ihm. Aber das ist eine andere Geschichte. In dem Häuschen gab es unten eine kleine Küche und eine Art Wohnzimmer, wo mein Vater schlief, und oben unter dem Dach einen kleinen Raum, der ausgebaut war. Dort schliefen wir, also meine um ein Jahr ältere Schwester Katrina und ich, wenn wir bei ihm waren. Im Garten, der im Verhältnis zu dem Häuschen riesig war, wuchs vor allem Gras, das mein Vater auf einer bestimmten Fläche immer ordentlich auf Fußballrasenlänge mähte.

Dort zupfte er das Unkraut, dort düngte er, und dort zog er mit einem Kreidewagen, den er sich extra angeschafft hatte, die Linien, die das Spielfeld begrenzten. Natürlich gab es auch ein Tor. Die Fußbälle, von denen er immer die besten kaufte, und die orangefarbenen Hütchen, um die ich unter seiner Anleitung Dribbeln übte, verwahrte er sorgsam in einem extra für diese Geräte errichteten Schuppen. Vor dem Schuppen stand ein Fahnenmast und dort hing eine Deutschlandfahne. Manchmal beobachtete ich meinen Vater, wie er selber Jonglieren übte, links, rechts oder im strengen Wechsel. Sein Rekord lag bei 27.

Neben dem kleinen Fußballplatz standen Mirabellen- und Pflaumenbäume, doch mein Vater mochte sie nicht, denn ihre Früchte fielen aufs Spielfeld.

Eine dicke, hohe Thujahecke trennte unseren Garten von unserem Nachbarn. Das war gut: Alle Bälle blieben darin stecken und fielen nicht aufs Nachbargrundstück, wo ein riesiger Molosserhund sein Unwesen trieb. Mit dem Nachbarn war mein Vater zerstritten und der Hund war sein größter Feind.

An der Wand in dem Zimmer, das ich bei meinem Vater mit Katrina teilte, hing auf meiner Seite ein Bild von Cristiano Ronaldo. Viele hassen ihn, viele nennen ihn eitel, aber das ist Neid. Er ist der beste Fußballer der Welt!

Jetzt saßen wir im Auto. Mein Vater hatte die Klimaanlage angeschaltet und schimpfte über den Verkehr und die anderen Autofahrer, die nie so fuhren, wie er sich das vorstellte.

Schließlich, als wir in eine Nebenstraße abgebogen waren, um den Stau zu umgehen – er kannte alle Abkürzungen dieser Stadt –, sagte er: »Du wärst das erste Mädchen dort.«

Blau-Weiß dazu zu bringen, ein Mädchen vorspielen zu lassen, war eine nicht ganz unkomplizierte Angelegenheit gewesen, denn Blau-Weiß war ein echter Männerverein ohne Frauenabteilung. Mein Vater hatte den Kontakt von seinem Chef, dessen Sohn in der D2 spielte. Der Bruder dieses Chefs war selber Trainer von Blau-Weiß und hatte mich gewissermaßen empfohlen. Ohne diese Empfehlung wäre es wohl nie zu dem Probetraining gekommen.

Natürlich hätte ich es in jedem anderen Verein leichter gehabt, aber es musste unbedingt Blau-Weiß sein, denn Blau-Weiß waren die Besten. In einem schlechteren Verein würde man sich den Stil versauen, so mein Vater. »Die bolzen nur«, sagte er stets.

Er hielt an der Ecke, ich stieg eilig aus, warf die Tür zu und winkte meinem davonbrausenden Vater nach.

Belo Horizonte : Manaus

»Ach, wo kommst du denn her?« Aus dem Nichts war Katrina vor dem Haus aufgetaucht. »Ich dachte, du hast mit Betty ein Referat vorbereitet?«

»Hab ich ja.« Ich hatte Katrina nichts von dem Probetraining bei den Jungs erzählt.

»Wieso hat dich Papa dann hergefahren? Der wohnt doch ganz woanders.«

»Er hat mich nicht hergefahren. Er hat mir bloß meine … äh … Schienbeinschoner … gebracht.«

Katrina konnte einen wirklich wahnsinnig machen. Immer musste sie widersprechen, immer nachbohren. Das ging sie doch alles gar nichts an.

»Ach so. Aha.«

Ich schloss die Haustür auf. Wir stiegen hoch, in den vierten Stock.

In der Wohnung roch es nach Eierkuchen. Meine Mutter hatte also gute Laune. Hatte sie schlechte, gab es Nudeln mit Tomatensoße.

»Und, seid ihr mit dem Referat vorwärtsgekommen?«, fragte sie mich zur Begrüßung. »Wie war noch mal das Thema?« Sie deckte den Tisch in der Küche.

»Äh, Dings … äh, Bodenschätze in Brasilien.« Ich hatte mir über das Thema gar keine Gedanken gemacht. Wieso fiel mir jetzt ausgerechnet Brasilien ein? Ich wusste doch gar nichts über Brasilien, außer dass Deutschland Brasilien im Halbfinale bei der WM 2014 mit 7:1 geschlagen hatte.

»Oh ja, Brasilien!«, rief meine Mutter. Bei fernen Ländern geriet sie leicht ins Schwärmen. »In Brasilien gibt es ja alles, Gold, Edelsteine, Diamanten …«

»Und Samba ...«, sagte Katrina.

»Samba ist kein Bodenschatz.«

»Bodenschätze gibt’s doch nur im Plural.« Katrina war wirklich eine Nervensäge, aber das war mir nur recht. Ein Streit mit ihr brachte meine Mutter von ihren komischen brasilianischen Diamanten weg. Warum hatte ich nicht Saudi-Arabien gesagt? Da wäre mir wenigstens das Erdöl eingefallen.

Die Eierkuchen waren fertig. Sie lagen gestapelt auf einem Teller. Ich schnappte mir gleich den ersten.

»Hey!« Betty stupste mich im Unterricht an. »Ich hab heut Nacht von dir geträumt!«

»Und das fällt dir jetzt ein?«, fragte ich ein bisschen genervt. Ich musste in Mathe immer ziemlich aufpassen, damit ich überhaupt irgendetwas kapierte. Betty dagegen konnte immerzu plappern und bekam trotzdem gute Noten.

»Ja, ich hab geträumt, wir fliegen nach Brasilien.«

»Das hast du dir doch ausgedacht!«

»Nein, ehrlich. Wir waren im Urwald, in Manaus, und haben im Amazonas gebadet.«

»Toll!« Ich schüttelte mich. Mir war Bettys Traum unheimlich, weil ich ja gestern behauptet hatte, wir hätten an einem Referat über Brasilien gearbeitet. Irgendwie musste sich mein Brasilien in ihren Kopf übertragen haben.

»Du, man kann wirklich im Amazonas baden!«, flüsterte Betty. »Es sind ja nur wenige der 40 Piranha-Arten wirklich gefährlich.«

»Ach ja?«

»Jo!«, rief der Lehrer. »Was habe ich eben erklärt?

»Sie haben über …« Ich glotzte an die Tafel. »Äh, ich hab nicht aufgepasst«, sagte ich.

»Das hab ich gemerkt. Solltest du aber. Fußball ist nicht alles.«

Ich schwieg. Das sagte er nur, weil ich zweimal wegen eines Fußballspiels gefehlt hatte. Betty und ihre Scheißpiranhas!

»Wirst du jetzt eigentlich genommen bei den Jungs?«, fragte sie in der Pause.

»Keine Ahnung. Die Jungs sind total gut.«

»Du doch auch.«

Im Augenwinkel sah ich Fabienne mit ihren Freundinnen über den Hof gehen. Sie war in der Jahrgangsstufe drüber, also in der Neunten. Immerhin nickte sie mir zu.

»Für ein Mädchen vielleicht«, sagte ich zu Betty. »Aber Jungs spielen einfach ganz, ganz anders.«

»Aha. Hm.« Betty verstand vom Fußball nicht allzu viel. »Sehen sie wenigstens gut aus?«

»Äh, weiß nicht. Hab nicht darauf geachtet. Einer hat rote Haare und ein anderer einen Undercut. Er heißt Niclas und ist …«

»Aaah, ein Niclas!«

»Hör bloß auf! Der ist echt übel.«

»Aber er ist dir im Gedächtnis geblieben. Haarfarbe?«

»Weiß nicht. Pain-in-the-ass-blond.«

»Hä? Pain-in-die-was-blond?«

»Pain in the ass. So reden sie bei Blau-Weiß.«

»Cool, merk ich mir«, sagte Betty. »Eine echte Schule fürs Leben. Und wie hieß der Rothaarige?

»Ron.«

»Witzig. Wie Ron Weasley. Er ist bestimmt süß.«

»Nein, ist er nicht.«

»Und sonst?«, fragte sie.

»Nichts ›und sonst‹. Das war halt Training.«

»Und du willst wirklich zu den Jungs wechseln?«

»Mein Vater sagt, das sei wichtig. Und der Verband sagt es auch.«

»Welcher Verband? Der Wundverband? Der Gipsverband?«

»Oh, Betty! Der Verband eben. Er bestimmt, wer in die Landesauswahl darf. Und wenn man in der Landesauswahl ist, darf man nach Duisburg.«

»Düüüüsburg?«

»Das ist wichtig, das Wichtigste überhaupt.«

»Düüüüsburg, haha … Ich wüsste nicht mal, wie man das schreibt. Mit wie vielen ü?«

Duisburg war ja auch ein schwieriges Wort: Sah man es, sprach man es falsch aus, hörte man es, schrieb man es falsch. Wo es genau lag, wusste auch keiner, irgendwo in NRW.

Aber Duisburg war wichtig. Dort spielten die Landesauswahlen aller Verbände gegeneinander, dort wurde man für den Nationalkader ausgewählt und dort saßen die Scouts der großen Vereine am Spielfeldrand. Man wurde für den DFB gesichtet und so kam man in die Nationalmannschaft.

»Im Verband und beim DFB heißt es, dass es besser ist, in Jungenmannschaften zu spielen als in Mädchenmannschaften«, erklärte ich.

Betty schüttelte den Kopf. »Versteh ich nicht. Mathilda spielt beim Hockey doch auch in einer Mädchenmannschaft, genau wie Alena beim Handball.«

»Vielleicht ist das wie beim Eishockey«, gab ich zu bedenken.

»Hä? Eishockey? Wer spielt schon Eishockey?«

Mit fünf Jahren hatte mich meine Mutter zusammen mit Katrina beim Ballett angemeldet. An die erste Stunde kann ich mich noch genau erinnern, denn die Ballettlehrerin begutachtete unsere Beine. Mit Katrinas war sie zufrieden, zu meinen sagte sie: »Das wächst sich hoffentlich noch aus.«

Ich verstand nicht, was sie meinte, aber es wuchs sich nicht aus, jedenfalls nicht im nächsten Jahr. Die Beine zu strecken, war mir unmöglich, und beim Plié sah ich aus wie ein Hampelmann. Stattdessen kickte ich lieber die Staubmäuse im Ballettsaal herum, die sich hinter dem Klavier sammelten. Die Ballettlehrerin legte meiner Mutter nahe, für mich etwas anderes zu finden. Von da an ging ich in den Leichtathletikverein. Dort übte ich mit dem Fuß, mit Schlagbällen zu jonglieren, anstatt sie zu werfen, und als ich eine 4-Kilo-Kugel über die Tartanbahn kicken wollte, brach ich mir den Zeh.

Zu der Zeit spielte ich schon mit den Jungs auf dem Pausenhof Fußball – falls ich durfte. Darüber entschied Eric, der Chef vom Schulhoffußball. Manchmal ließ er Gnade walten, aber natürlich wurde ich von ihm sofort angebrüllt, wenn ich danebenschoss. Außerdem musste ich den Ball aus den Brennnesseln holen, und ich wurde hinten reingestellt, dahin, wo ich die anderen – vor allem Eric – nicht beim Toreschießen störte. Dort hinten drin, als Innen- und Außenverteidiger gleichzeitig, musste ich rennen, ackern und mir ans Schienbein treten lassen. Ich rannte und ackerte und wurde zur biestigsten Verteidigerin des Schulhofs. Am Ende dieser Ausbildung hatte ich mich hochgearbeitet und durfte sogar Tore schießen.

Man könnte also meinen, wer eine Fußballausbildung auf dem Schulhof überlebt hatte, bräuchte sich vor einer reinen Jungenmannschaft nicht zu fürchten. Aber das Gegenteil war der Fall. Ein Verein war um vieles härter als ein Schulhof.

Ich ging noch zweimal zum Probetraining bei Blau-Weiß und kam mir immer noch lahmer und schlechter vor. Die meisten der Jungs übersahen mich komplett, und Niclas lachte mich aus, wenn ich den Ball verstolperte, oder er verdrehte die Augen, wenn mein Schuss mit Leichtigkeit vom Torwart abgewehrt wurde.

Mein Vater stand stets am Rand des Platzes und verfolgte das Training genauestens. Im Auto sprach er hinterher über das, was er gesehen hatte, oder über Fußball im Allgemeinen. Ich mochte diese Unterhaltungen nicht besonders.

Wie gesagt, er war ein eigenartiger Mensch. Dauernd plagte ihn eine Mischung aus Größenwahn, was mich betraf, und Minderwertigkeitsgefühlen, was ihn selbst betraf. Er war nie glücklich in seinen Jobs und verstritt sich auf Dauer mit jedem seiner Chefs oder den Kollegen. Dann bekam er Depressionen und ließ sich krankschreiben. Irgendwann wurde ihm gekündigt. Deswegen war seine jetzige Arbeit als Medikamentenkurier eigentlich ganz in Ordnung. Da war er meist allein im Auto unterwegs und seinen heimlichen Krieg gegen alle anderen Autofahrer bekam niemand mit.

Jetzt bremste er scharf und verfluchte einen Radfahrer.

»Bei den Jungs lernst du endlich richtigen Fußball«, sagte er. »Auf einem für dich angemessenen Niveau.«

»Aber Mädchen können doch auch Fußball spielen.« Ich fand es ungerecht, dass er auf dem Mädchenfußball herumhackte. Schließlich hatte ich jahrelang bei FFC gespielt. »Paula zum Beispiel. Sie kann voll gut dribbeln. Und Gesa schießt Ecken so präzise wie Toni Kroos.«

»Darum geht es nicht«, sagte mein Vater.

»Worum denn dann?«

»Es geht um … schönes Spiel. Jogo bonito!«

Den Ausdruck in der fremden Sprache hatte ich natürlich nicht verstanden. »Was soll das sein?«, fragte ich daher.

»Das schöne Spiel eben, das zu Zeiten von Zico, Falcao, Cerezo und Sócrates.« Das hatte er sich bestimmt bei Wikipedia angelesen.

»Meinst du den Sokratis, der mal bei Dortmund war?«, fragte ich.

Mein Vater stöhnte auf. Er erklärte mir, dass er vom letzten Jahrhundert sprach, einer Zeit um 1979, in der dieser Sócrates mit den drei anderen Spielern, die mein Vater aufgezählt hatte, für den brasilianischen Fußball gestanden hatte. Jogo bonito sei der portugiesische Ausdruck dafür.

»Und das können Mädchen nicht?«

»Theoretisch vielleicht schon. Aber nicht, wenn es ein zu hohes Leistungsgefälle innerhalb der Liga gibt. Ihr seid ja nur bei zehn Prozent der Spiele wirklich gefordert. Alle anderen laufen so ab: Dem Gegner den Ball abnehmen, ein Pass zu Fabienne oder zu dir, dann vor zu Paula und die drischt ihn rein. Das ist doch kein Fußball!«

Obwohl mein Vater selber nie Fußball gespielt hatte, hatte er unsere Taktik, die in 90 Prozent der Fälle funktionierte, ziemlich genau beschrieben.