THOMAS ACHENBACH
MITARBEITER IN
AUSNAHMESITUATIONEN
TRAUER, PFLEGE, KRISE
Ein Leitfaden für Führungskräfte, Personalverantwortliche und Betriebsräte
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Soforthilfe für menschliche Ausnahmesituationen Geraten Mitarbeiter in persönliche Krisen - durch Todes- und Pflegefälle, Erkrankungen oder Ähnliches – wissen Führungskräfte oft nicht, wie sie sich verhalten sollen. Trauerbegleiter Thomas Achenbach zeigt anhand zahlreicher Beispiele, wie Unternehmen den Umgang mit menschlichen Krisen zu einem Teil ihrer Unternehmenskultur machen, und wie Trauer und Pflege ins Betriebliche Gesundheitsmanagement integriert werden können. Das Buch enthält zahlreiche Checklisten und Vorlagen zum Download sowie eine No-go-Liste, die vor Fauxpas bewahrt. So können Chefs, Personaler und Betriebsräte kompetent agieren und Betroffene angemessen unterstützen.
Vita
Thomas Achenbach ist Redakteur, Blogger und zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des Bundesverbands Trauerbegleitung, in dem er auch Mitglied ist. Als Trauerbegleiter ist er spezialisiert auf die Themen Männertrauer und Trauer im Arbeitsleben, www.thomasachenbach.de.
EINLEITUNG
Teil 1Der verantwortliche Umgang mit persönlichen Krisen im Unternehmensalltag
1. ANGESTELLTE IM AUSNAHMEZUSTAND: WISSEN, WAS GESCHIEHT
Die Fragilität des Lebens in der Personalpolitik berücksichtigen
Was Pflege, Zerbrechlichkeit und Tod für Gefühle auslösen können
Gefühle in einer Pflegesituation
Gefühle bei Verlust und Trauer
2. GUTE FÜHRUNG – GUTER UMGANG MIT BETROFFENEN
Wie sich eine gute Unternehmenskultur auswirken kann: drei Beispiele
Erster Ansprechpartner Führungskraft: Womit Sie rechnen müssen
Wie die eigene Haltung Halt geben kann: Tipps für eine hilfreiche Gesprächsführung
Wie Unternehmen eine gute Krisenkultur einführen und pflegen können
Warum der direkte Vorgesetzte nicht immer als erster Ansprechpartner geeignet ist
3. GUT VORBEREITET FÜR ALLE FÄLLE: INFORMIEREN, INFORMIEREN, INFORMIEREN!
Sorgen Sie für fundierte, allen jederzeit zugängliche Informationen
Trost, Mutmacher und Vorbilder: Wie Betroffene voneinander profitieren können
Bieten Sie firmeninterne Vorträge und Informationsveranstaltungen an
Mit Notfallmappen gut gewappnet sein für den Ernstfall
4. KRISEN ERFORDERN INDIVIDUELLE LÖSUNGEN UND WORTE
Spezialfall Pflegesituation: Chancen und Möglichkeiten
Umgang mit Tod und Trauer: Trauerkarenzzeit
Überbringen einer Todesnachricht: die Dos und Don’ts
Das Kondolieren: passende Worte
5. WENN EIN MITARBEITER VERSTORBEN IST: MATERIALIEN, RÄUME UND RITUALE
Der Arbeitsplatz des Verstorbenen: Was geschieht damit?
Die Kraft der Rituale nutzen
Was das Intranet zusätzlich leisten kann
Welche Räume es bräuchte: eine Wunschvorstellung
6. KOLLEGEN UND TEAMS IN KRISENFÄLLEN: ACHTUNG, PSYCHODYNAMIK!
Über Ohnmacht und Schuldfragen
Team-Workshops nach einem Trauer- oder Todesfall
Krankheit im Team, lange Abwesenheiten, Ressourcenfragen
7. DER UMGANG MIT PRIVATEM BESITZ UND PERSÖNLICHEN UNTERLAGEN UND DIE NEUBESETZUNG DER STELLE DES VERSTORBENEN
Abwicklungspflichten des Unternehmens sowie der Erben und Angehörigen
Wem gehört eigentlich was?
Persönlicher Besitz
Akten
Digitales
Firmeneigentum an privaten Aufbewahrungsorten des Mitarbeiters
Zeitpunkt und Transparenz
Kollegen und den Betriebsrat einbeziehen
Den Abwesenheitsautomatismus aktivieren
Die Stelle wieder besetzen
8. DIE TRAUERANZEIGE: EIN WICHTIGES SIGNAL NACH AUSSEN UND INNEN
Die Formulierung der Anzeige ist eine wichtige Aufgabe
Aspekt Nummer eins: Für wen ist die Todesanzeige gedacht?
Aspekt Nummer zwei: Welcher persönliche Akzent wird gesetzt?
Aspekt Nummer drei: der optimale Zeitpunkt
Aspekt Nummer vier: die Gestaltung der Anzeige
Aspekt Nummer fünf: Eine Traueranzeige ist keine Werbung
9. DER EINSATZ VON PROFESSIONELLEN BERATERN IM KRISENFALL
Vier Arten von professioneller Unterstützung für Angestellte
Option 1: Sozialberatung im Unternehmen durch eigene Mitarbeiter
Option 2: Sozialberatung eines externen Dienstleisters in den Räumen des eigenen Unternehmens
Option 3: Employee Assistance Programs/Externe Mitarbeiterberatung
Option 4: Externe Berater und Fachkräfte für den jeweiligen Einzelfall
Professionelle Trauerbegleitung
Professionelle Beratung für Angehörige pflegende Berufstätige
Teil 2Best-Practice-Beispiele, gute Ideen und Vorbilder
10. DIE PIONIERE DER TRAUERARBEIT IN UNTERNEHMEN: WIE SICH DIE HANDWERKSKAMMER KOBLENZ ALS VORREITER UM EIN WICHTIGES THEMA VERDIENT MACHT
11. EIN ARBEITSKREIS ZUM THEMA TRAUER IN DER ARBEITSWELT UND EIN FÄHRMANN ALS INITIATOR: WAS IN HAMBURG GESCHIEHT, IST IN DEUTSCHLAND BISLANG EINMALIG
12. ÜBER TRAUER SPRECHEN LERNEN: EINE VORBILDLICHE INITIATIVE ZUR AUSBILDUNG VON ERSTHELFERN BEI TRAUER AM ARBEITSPLATZ
13. WAS EINE ENGAGIERTE PERSON BEWIRKEN KANN: BEI DER VERKEHRSBETRIEBE HAMBURG-HOLSTEIN GMBH WIRD ES SICHTBAR
14. MUT ZUM VERTRAUEN BEI DER LIST AG: WIE EIN BAU-DIENSTLEISTER MIT EINER BESONDEREN PHILOSOPHIE DEN BEDÜRFNISSEN SEINER MITARBEITER BEGEGNET
15. FÜR ALLE FÄLLE: WIE DIE SOZIALBERATUNG BEI DER BEIERSDORF AG FUNKTIONIERT
16. VEREINBARKEITSLOTSEN PFLEGE UND BERUF: ANGESTELLTE MIT FACH- UND PFLEGEWISSEN AUSSTATTEN
17. VOR ORT TUT SICH WAS: ANKNÜPFUNGSPUNKTE UND WEITERE BEISPIELE ZUM THEMA PFLEGE
Teil 3Rechtliche Grundlagen
18. DIE FÜRSORGEPFLICHT DES ARBEITGEBERS IM KONTEXT VON TRAUER UND PFLEGE IN DEUTSCHLAND
19. ABWESENHEIT IM TODESFALL: DIE GESETZLICHEN REGELUNGEN
20. ARBEITSUNFÄHIGKEIT UND KRANKHEIT NACH EINEM TODESFALL
21. VIELE GESETZE, VIELE MÖGLICHKEITEN: PFLEGE UND IHRE BESONDERHEITEN IN DEUTSCHLAND
22. WENIGE GESETZE, VIELE INDIVIDUELLE REGELUNGEN: PFLEGE UND IHRE BESONDERHEITEN IN DER SCHWEIZ
23. NEUE GESETZE, NEUE REGELUNGEN: PFLEGE UND IHRE BESONDERHEITEN IN ÖSTERREICH
24. WAS DER TOD EINES ARBEITNEHMERS FÜR DAS VERTRAGSVERHÄLTNIS BEDEUTET
25. DIE GRUNDLAGEN DES BETRIEBLICHEN GESUNDHEITSMANAGEMENTS IM KONTEXT VON TRAUER UND PFLEGE
DAS TRAUER-PFLEGE-KRISE-NOTFALLSET
Anhang
ANMERKUNGEN
REGISTER
Prallen bei einem Angestellten eine Grenzsituation des Lebens und die Arbeitswelt aufeinander, ist die Führungskompetenz des Vorgesetzten, des Personalverantwortlichen und auch der Betriebsräte im Unternehmen besonders gefragt. Gut ausgestattet mit Wissen über die Bedürfnisse des betroffenen Kollegen sowie über die Pflichten und Unterstützungsmöglichkeiten des Unternehmens, einem hohen Maß an Einfühlungsvermögen, Organisationswillen und vor allem Menschlichkeit, können die Beteiligten entscheidend dazu beitragen, dass der Angestellte die Lebenskrise gut übersteht. Und sie können Schaden von dem Unternehmen abwenden, der infolge der Krise auftreten kann. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.
Mitten in die intensivste Schreibphase platzte der Suizid eines langjährigen und von mir sowie vielen anderen sehr geschätzten Kollegen. Er war ein Mann der Marke »Feiner Kerl«, zum einen ganz und gar mit seiner Tätigkeit identifiziert, zum anderen immer authentisch und durchaus mit einer gewissen Selbstironie ausgestattet. Ein Mann, den wir immer als integer, bodenständig und bei aller Zielorientierung und Unternehmensloyalität als sehr menschlich erlebt haben. Einer der wenigen, die diese Vereinbarkeit vorbildlich gelebt haben. Einer, den irgendwie alle mochten.
Plötzlich erlebte ich mich selbst als stark betroffen, bis in meine Tiefen erschüttert von diesem Ereignis, mit meiner eigenen Ohnmacht und Sprachlosigkeit konfrontiert. Und zugleich stand ich als Trauerbegleiter und Buchautor weiterhin Menschen in solchen Situationen zur Seite. Dies ist ein Zwiespalt, in dem wir als Begleiter besonders aufmerksam sein müssen, ob wir unserer Tätigkeit gerecht werden können. Und diesen Zwiespalt erleben Sie – je nach persönlicher Betroffenheit mehr oder weniger ausgeprägt – als Führungskraft, Teamleiter oder als Mitglied des Betriebsrats, wenn ein Angestellter des Unternehmens mit einer Grenzsituation des Lebens konfrontiert wird.
Es war tröstend, erleben zu dürfen, wie vorbildlich das Unternehmen, in dem er zuletzt beschäftigt war, reagierte. Die von der Firma geschaltete Traueranzeige war in einem sehr freundschaftlichen und menschlichen Tonfall gehalten. Für die Kollegen vor Ort, von denen ein Teil seine Schockstarre nur schwer abschütteln konnte, war schon psychosoziale Unterstützung organisiert, bevor ich mich überhaupt anbieten konnte. Und es gab einen Erinnerungsgottesdienst, bei dessen Gestaltung langjährige Kollegen mitwirken konnten.
Alles war durchweg vorbildlich. Zwar sind die Nachwirkungen noch immer spürbar, zwar gibt es immer noch Kollegen, die ihre Fassungslosigkeit über das Geschehen kaum in Worten ausdrücken können und wie gelähmt erscheinen. Und doch haben die Personalverantwortlichen hier genau richtig reagiert: mit Menschlichkeit und Zugewandtheit. Und mit dem Mut, sich selbst als betroffen und verletzlich zu zeigen. Also mit einer mit reichlich Lebenskompetenz unterfütterten Führungskompetenz.
Eine derart positiv ausgeprägte Trauerkultur, einen solchen souveränen Umgang mit Mitarbeitern in Krisensituationen erlebe ich selten. Das Thema Trauer und Krise am Arbeitsplatz hat keineswegs selbstverständlich einen festen Platz in Unternehmen. Auch gute Lösungen und Strategien für Mitarbeiter, die in eine Pflegesituation geraten, sind noch nicht allgemeiner Konsens oder gar Standard, obwohl dieses Thema allen voran immer drückender wird.
Das wird sich vermutlich bald ändern. Alle Statistiken sprechen dafür und die ersten Tendenzen werden bereits sichtbar. Noch sind es zarte Pflänzchen, die hier und da blühen, meistens eher unbemerkt. Doch allein schon die Erfahrungen der vergangenen etwa zehn Jahre lassen erahnen, dass hier eine Veränderung eingesetzt hat.
Ich erinnere mich noch genau an den ersten Mitarbeiter unseres Unternehmens, der es wagte, als Mann zwei Monate lang in die Elternzeit zu gehen. In den ausklingenden 2000er-Jahren war das beinahe schon eine Provokation. Auf jeden Fall war es eine Pioniertat, etwas, das es vorher noch nie gegeben hatte.
Der Chef, so hörte man im Flurfunk, sei alles andere als amüsiert gewesen. Und schlimmer noch: Er habe im Gespräch die Frage in den Raum gestellt, ob so etwas nicht schädlich für die Karriere sein könnte. Wir anderen Mitarbeiter, die wir überwiegend gerade mit ganz anderen Themen als Familienplanung beschäftigt waren, vernahmen das alles mit einer Mischung aus Faszination und Unverständnis. Einerseits fanden wir es alle prima, dass da jemand dem Chef die Stirn bot und moderne Möglichkeiten für sich in Anspruch nahm. Andererseits wussten wir so wenig über das, was da vorging. Was war das überhaupt, diese Elternzeit für Männer? Warum war es auf einmal möglich, warum hatte es das vorher nicht gegeben? Natürlich war uns nicht entgangen, dass das Thema Vereinbarkeit von Familien- und Arbeitsleben irgendwie im Trend lag. Meistens durch eine in den Nachrichten auftauchende Meldung. Aber konkrete Details dazu kannten wir nicht.
Dass jetzt einer unserer Kollegen in unserem Unternehmen so etwas ganz Neues wagte, das fanden wir schlichtweg großartig. Wenn das möglich war, musste wohl doch etwas im Umbruch sein. Womöglich etwas Größeres als gedacht. Das war bereits spürbar. Auch wenn unklar war, ob es nicht bald wieder abgeschafft werden würde – von einer Führung, die von traditionellen männlichen Sichtweisen geprägt war und Männer in ihrer Karriere behindern würde, die die Elternzeit wagten.
Das alles ist jetzt bereits rund 12 Jahre her. Heute ist der besagte Kollege – anders als der damalige Chef – immer noch in unserem Unternehmen tätig, inzwischen sogar selbst in einer leitenden Position. Er hat in der Zwischenzeit noch ein zweites Kind bekommen und ist abermals zwei Monate in Elternzeit gegangen. Da war das allerdings schon weniger spektakulär und nicht mehr ganz so neu. Heute ist es Standard.
So gibt es tatsächlich eine Menge von Entwicklungen in der Arbeitswelt, von denen wir noch vor wenigen Jahren niemals gedacht hätten, dass sie einen solchen Verlauf nehmen würden.
Im vergangenen Jahr beklagte der Geschäftsführer eines IT-Unternehmens aus unserer Region im persönlichen Gespräch, dass ihm gleich mehrere Kandidaten für die Besetzung einer leitenden Stelle kurzfristig abgesprungen seien. Und das, obwohl die Firma recht großzügig auf fast alle der von den Bewerbern genannten Bedingungen eingegangen war. Verhandelt wurden zum Beispiel drei Tage pro Woche Homeoffice und total flexible Arbeitszeiten, die sich vor allem an die Bedürfnisse des Familienvaters anpassen sollten. Ein Kandidat wünschte eine 35-Stunden-Woche bei zusätzlicher Bezahlung von Sport- und Fitnessangeboten, die möglichst ebenfalls in der Arbeitszeit stattfinden sollten; dass das betreffende IT-Unternehmen keinen eigenen Fitnessraum bereitstellen konnte, war für diesen Kandidaten schon ein Ausschlusskriterium. Die Firma war weitgehend auf alle Wünsche eingegangen – aber sie war eben nicht der einzige potenzielle Arbeitsgeber. Und weil es andere gab, in größeren Städten, die dazu noch besser bezahlten, waren die Kandidaten allesamt abgesprungen.
Ein massives Entgegenkommen bei allen Bedürfnissen und Anforderungen, die ein Bewerber äußert, ist heute fast schon üblich. Bei vielen Unternehmen sogar schon, wenn es um die Anstellung von Auszubildenden geht.
Das verhält sich beim Umgang mit den Themen Tod und Pflege noch nicht so. Doch alle Experten sind sich einig darüber, dass diese Themen die Unternehmen künftig immer intensiver beschäftigen werden.
»Unternehmen zu führen heißt heute: Bewusstsein zu führen«, sagt der dm-Gründer Götz Werner in dem Film Die stille Revolution. Der Film stellt die viel zitierte Unternehmensphilosophie der Upstalsboom-Hotelkette in den Mittelpunkt und unterstreicht die These: Moderne Mitarbeiterbindung sollten wir heute definieren als die Frage »Was tut eigentlich meinen Mitarbeitern gut?«, wie es Hotel-Chef Bodo Janssen in dem Film ausdrückt.1
Das Bewusstsein der Unternehmenszugehörigen auch für die Themen Tod und Vergänglichkeit offenzuhalten ist die Kunst, um die es in diesem Buch gehen wird. Die Notwendigkeit dafür belegen allein schon Zahlen des Statistischen Bundesamtes, aber auch die allgemeine Entwicklung zeigt eindeutig, wo die Reise hingeht. Die Zahl der Pflegebedürftigen, die von Menschen im erwerbsfähigen Alter – die dann vermutlich selbst schon auf eine fortgeschrittene Berufskarriere zurückblicken können – gepflegt werden wollen und müssen, hat mit der erhöhten Lebenserwartung deutlich zugenommen und steigt weiterhin an. 2017 gab es bereits 3,4 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland, ab 2030 erreichen die Babyboomer-Jahrgänge die Altersgruppen mit höherem Pflegebedarf.2 Somit wird das Thema »Mitarbeiter in Pflege« in den kommenden Jahren zu einem der wichtigsten Themen in der Unternehmensführung werden. Denn die meisten pflegebedürftigen Menschen werden daheim gepflegt und deshalb wird auch die Zahl der pflegenden Angehörigen stark zunehmen.
Die Politik hat das inzwischen erkannt und ein paar erste zögerliche Gegenmaßnahmen getroffen, die aber bislang noch nicht den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen (mehr dazu im Teil 3, Rechtliche Grundlagen). Darin liegt eine Gefahr, zum einen für die betroffenen Personen, aber ebenso für die Unternehmen und die Wirtschaft. Denn wenn wir als Gesellschaft keine guten Modelle finden, wie private Pflege und Berufstätigkeit vereinbart werden können, werden diese pflegenden Angehörigen dem Arbeitsmarkt nicht oder nur teilweise und sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen.
Erschwerend kommt hinzu, dass die gesamte Pflegebranche derzeit ein großes Imageproblem hat. Jahrelang haben Themen wie die niedrige Bezahlung der Pflegekräfte, der personelle Notstand und die allgemeine Überforderung in Krankenhäusern, Altenheimen und allen sonstigen Pflegeeinrichtungen oder sogar Gewalt in der Pflege die allgemeine Debatte beherrscht. Wenn heute jemand einen Angehörigen in einer Pflegesituation betreuen lassen möchte, braucht es großen Mut, die persönliche Kontrolle abzugeben und die Unsicherheit in Kauf zu nehmen, ob nicht eine der genannten Unwägbarkeiten negative Folgen für das eigene Familienmitglied haben könnte. Deshalb betreuen viele Arbeitnehmer ihre Angehörigen in einer Krisensituation lieber selbst – ganz abgesehen von den Kosten.
Für die gesamte Pflegebranche stellt die private Pflege von Angehörigen einen nicht zu unterschätzenden stabilisierenden Faktor dar, wie die Initiative »Wir! Stiftung pflegender Angehöriger« betont: »Ohne Angehörigenpflege bricht die Pflege in Deutschland zusammen, denn die Grundlage der Pflege in Deutschland ist die Angehörigenpflege.«3 Die daheim pflegenden Angehörigen allerdings sind überwiegend von einer massiven Überlastung betroffen: »Deutschlands größter Pflegedienst ist erschöpft«, konstatierte dementsprechend die Barmer Krankenkasse bei einer Anfang Januar 2019 stattfindenden Pressekonferenz.4
Die Themen Tod und Trauer stehen in engem Zusammenhang mit der Pflege von Angehörigen. Denn je länger die Menschen arbeiten gehen, desto öfter sind sie auch in ihren Berufskarrieren mit altersschwachen, kranken und sterbenden Angehörigen konfrontiert. Wer damit beginnt, sich um einen pflegebedürftigen Angehörigen zu kümmern, begibt sich auf einen langen Weg – im Durchschnitt, wie später noch zu belegende Zahlen besagen, rund acht Jahre lang.
Abgesehen davon steht der Tod sowieso immer vor der Unternehmenstür. Unternehmen, Vorgesetzte, Teams, alle Angestellten haben sich unausweichlich immer wieder damit auseinanderzusetzen, dass Mitarbeiter an eventuell tödlichen Krankheiten wie Krebs erkranken, sich das Leben nehmen oder durch einen Unfall sterben. Hat eine Firma 100 oder 200 Mitarbeiter, ist ein regelmäßiger Kontakt mit dem Thema zu erwarten.
Trauer wirkt zudem immer systemisch. Stirbt bei einem Angestellten ein Familienmitglied, ist auch die Abteilung betroffen. Nimmt sich jemand aus einem Team das Leben, hat das massive Auswirkungen auf die einzelnen Mitarbeiter, die Strukturen, vor allem aber auf die psychodynamischen Prozesse. Also unter Umständen auch auf das Unternehmensergebnis und die Jahresbilanzen.
Wohlüberlegte Strategien für und die Unterstützung von Menschen in einer Krise sind neben der menschlichen Notwendigkeit nicht nur wichtig hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit, sie bieten auch gute Chancen in Sachen Mitarbeiterbindung. Denn Menschen in einer Krise oder einer Verlustsituation sind extrem sensibel. Wer sich ihnen mit der nötigen Achtsamkeit und Empathie zuwendet, der tut etwas, das nicht allen gelingt.
Noch sind Firmen, die souverän auf sehr individuelle und zur jeweiligen Situation passende Weise mit den Themen Tod und Pflege umgehen und die auf solche Eventualitäten gut vorbereitet sind, eher die Ausnahme. Doch bald sollte all das Standard sein – so wie inzwischen die Elternzeit. Und wer dann in Sachen Tod und Pflege nicht viel zu bieten hat, verliert eventuell gute Mitarbeiter an andere Unternehmen, die hier besser aufgestellt sind.
Mit diesem Buch möchte ich Sie einladen, sich als Personalverantwortlicher oder als Führungskraft, als Teamleiter oder als Firmenchef, als Verantwortlicher für Betriebliches Gesundheitsmanagement oder als Betriebsrat oder einfach nur als interessierter Arbeitnehmer mit den großen Themen des Lebens auseinanderzusetzen. Sie betreffen jeden von uns immer wieder, denn Krankheit, Tod und Trauer gehören zum Leben wie unsere Arbeit. Und irgendwann betreffen diese Themen auch jeden persönlich. Im ersten Kapitel gehe ich hierauf noch ausführlich ein.
Nach mehreren Jahren der Zusammenarbeit mit Trauernden und von Krisen betroffenen Menschen darf ich Ihnen zudem versichern: Die Hinwendung zu diesen Themen lohnt sich. Nicht allein der anderen Menschen wegen, sondern auch, weil es einen selbst weiterbringen kann, da man sich mit den essenziellen Fragen des Lebens auseinandersetzt. Und weil es für die Unternehmungen, die Sie vertreten, am Ende des Tages vielleicht doch mehr Chancen bietet als Herausforderungen.
Aber sehen Sie selbst. Im ersten Teil des Buches beschreibe ich die vielfältigen Folgen, die menschliche Krisen der Angestellten für diese selbst und auf ihre Arbeit haben können. Zudem erläutere ich Strategien und Möglichkeiten, die Sie als Führungskraft, Personalverantwortlicher oder auch Betriebsrat zur Unterstützung des Betroffenen im Einzelfall einsetzen, aber auch vorsorglich einrichten können.
Im zweiten Teil berichte ich Ihnen von verschiedenen Unternehmen, die in besonderer Weise vorbildlich mit solchen Krisen umgehen.
Im dritten Teil stelle ich in Kürze die wesentlichen rechtlichen Grundlagen dar, die Sie, sofern Sie Personalverantwortung tragen, berücksichtigen sollten.
Im vierten Teil finden Sie Checklisten und Materialien zu wesentlichen Themen der Krisenbewältigung im Unternehmen, die Ihnen bei wiederkehrenden Aufgaben als Handlungsgrundlage, Leitfaden oder kurze Erinnerung dienen können. Unter www.campus.de/trauer-pflege-krise können Sie sich dieses Notfallset als PDF herunterladen. Das Passwort lautet: Trauer-Pflege-Krise-Notfallset.
So werden Sie gut ausgerüstet sein, um Angestellten, die einen Krisenfall erleben, gut begleiten und unterstützen zu können.
PS: Die Ungerechtigkeiten der deutschen Sprache lassen sich erst dann wirklich lösen, wenn wir uns vom »Der, Die und Das«, also der in der deutschen Sprache verankerten Geschlechtertrennung befreien können. Was das angeht, haben es die Engländer beneidenswert einfach – da gibt es nur ein sprachliches Geschlecht. Das große Mittel-I oder das Geschlechtersternchen und ähnliche Hilfskonstruktionen bieten keine wirklichen Lösungen, deshalb habe ich mich zugunsten des Leseflusses entschieden, darauf zu verzichten. Also hoffe ich auf eine starke weibliche Leserschaft – und auf Verständnis.
Teil 1