Christoph und Sophie Schönberger (Hg.)

Die Reichsbürger

Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die »Reichsbürgerbewegung« galt lange als bloße Kuriosität. Seit dem Polizistenmord von Georgensgmünd ist jedoch einer breiteren Öffentlichkeit bewusst geworden, dass die »Reichsbürger« Staat und Gesellschaft in grundlegender Weise herausfordern. Dieses Buch vereint die praktische Erfahrung der Verfassungsschutzbehörden mit rechtswissenschaftlichen, historischen, psychologischen und soziologischen Überlegungen. Die Reichsbürgerbewegung zeigt sich hier als heterogene Szene, die sich mit dem Bezug auf das Deutsche Reich eine alternative Realität konstruiert und die Rechtsordnung der Bundesrepublik delegitimiert.

Vita

Christoph Schönberger ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Konstanz. Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Düsseldorf.

Inhalt

Maximilian Steinbeis: Anstelle eines Vorworts: Reichsgespenster

Wer ist hier verrückt?

Nur ein Trick

Christoph und Sophie Schönberger: Die Reichsbürger als Herausforderung für Staat, Recht und Wissenschaft: Eine Einführung

Literatur

Lars Legath: Reichsbürger und Selbstverwalter: Ein Fall für den Verfassungsschutz?

1.Einleitung  

2.Gesetzlicher Auftrag

3.Reichsbürger und Selbstverwalter

Reichsbürger

Selbstverwalter

Verhältnis zum Rechtsextremismus

4.Soziostrukturelle Erkenntnisse

Personenpotenzial

Geschlechterverhältnis

Altersverteilung

5.Struktur und Gruppierungen

»Staatenbund Deutsches Reich«

6.Strategien und Handlungsweisen

7.Fazit

Literatur

Christoph Schönberger: Geschichten vom Reich, Geschichten vom Recht: Der Fortbestand des Deutschen Reiches als rechtliche Imagination

1.Einführung: Das Reich – Vom deutschen Sehnsuchtsort zur juristischen Mumie

2.Der erste Reichsbürger: Wolfgang Ebel (1939–2014)

3.Das West-Berliner Reich der Deutschen Reichsbahn

Der Betrieb der West-Berliner S-Bahn durch die Deutsche Reichsbahn

Die Unklarheit der rechtlichen Situation der Deutschen Reichsbahn in West-Berlin: DDR-Behörde oder Reichsbehörde?

Wolfgang Ebels Klage auf Feststellung seines vermeintlichen Status als Staatsbeamter des Deutschen Reiches

4.Der Fortbestand des Deutschen Reiches als juristisches Delegitimierungstheorem der alten Bundesrepublik

Die Verdoppelung des Deutschen Reiches im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum deutsch-deutschen Grundlagenvertrag 1973

Die Delegitimierungsfunktion der Fortbestandslehre im geteilten Deutschland

Was geschah 1990 mit dem Deutschen Reich?

5.Das Reich der Reichsbürger

Literatur

Frieder Günther: »Die Uhr noch einmal zurückdrehen«: Die Reichsbürgerbewegung und die rechtlichen Narrative zum Fortleben des Deutschen Reiches nach 1945

1.Alliierte Weichenstellungen 1945 bis 1949

2.Deutsche Narrative zum Fortleben des Deutschen Reiches nach 1945

3.Die Reichsbürgerbewegung und die Narrative vom Fortbestand des Deutschen Reichs

Literatur

Thomas Schmidt-Lux: Reichsbürgerschaft als symbolische Emigration

1.Einleitung

2.Ein Fallbeispiel: Der Volksbundesrath

3.Reichsbürgerschaft als symbolische Emigration

Recht und Religion

Individuelle Lebenswege

Symbolische Emigration

4.Fazit

Literatur

Marius Hans Raab: »Reichsbürger« zwischen GmbH und GbR: Die psychologische Funktion einer alternativen gesellschaftlichen Realität

Eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung

Die Reichsidee als Verschwörungstheorie

Die illegitime Gesellschaftsordnung

Motivationspsychologie – was treibt uns an?

Reichsbürger-Ideen und Bedürfnisse

Was tun?

Literatur

Walter Fuchs und Andrea Kretschmann: Recht als Imagination und Symbol

1.Wer (und wie politisch) sind »Staatsverweigerer«?

2.Die Ablehnung von Recht und Staat

3.Imaginiertes Recht und soziale Verfasstheiten

4.Recht versus Recht

5.Recht als Ort des politischen Kampfes

Literatur

Sophie Schönberger: Das Imaginäre des Rechts: Wer ist hier eigentlich verrückt?

1.Einleitung: Die Rechtspersiflage der Reichsbürger

2.Der imaginäre Kern des Rechts

3.Der Verlust der Imagination, oder: Die Herrschaft des Unrechts

4.Legitimation und Identität

Die narrative Leerstelle der Delegitimation

Wer bin ich – und wenn ja wie viele?

… und hinter tausend Dokumenten keine Welt

5.Rechtsmagie und Machtphantasie

6.Der fragile Kern rechtlicher Ordnung

Literatur

konstantin und annalena küspert: von der freiheit und der pflicht zum widerstand

Autorinnen und Autoren

Anstelle eines Vorworts: Reichsgespenster

Maximilian Steinbeis

Jedes Land hat seine Prepper, Freemen, Impfgegner, Schulverweigerer und Selbstverwalter. Sich zu ermächtigen gegenüber dem Staat und dem Recht, sich für autonom und autark und frei zu erklären und die Zumutung, sich ein- und unterzuordnen zum Besten der Gesellschaft, mit stolzer Geste von sich zu weisen – das ist eine Versuchung, die Menschen auf der ganzen Welt verspüren. Der libertäre Furor derer, die ihr erliegen, kann ziemlich bizarre und mitunter auch sehr gefährliche Dimensionen annehmen. Aber die spezifische Form, die dieses Phänomen in Deutschland angenommen hat, ist mehr als nur bizarr. Hier haben wir es zumeist mit Leuten zu tun, die mitnichten ein freies, wildes Libertärenleben fernab von Staat und Recht anstreben, sondern im Gegenteil: Sie scheinen von Staat und Recht gar nicht genug zu bekommen und führen darum ein wahres Höllenspektakel auf. Ein Gespensterrecht und einen Gespensterstaat lassen sie aufmarschieren, eine grausige Scharade aus zusammenhanglosen, heillos widersprüchlichen Bruch- und Versatzstücken von Recht-, Amt- und Förmlichkeit, sodass man man fast denken könnte, sie wollten sich über Staatsrecht und Rechtsstaat lustig machen, würden sie das alles nicht so furchtbar ernst meinen und nehmen.

Aus binnenjuristischer Sicht liegt es nahe, diese Leute – die sogenannten Reichsbürger – kurzerhand der Psychiatrie zu überantworten: Die spinnen halt, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Das wäre aber sehr schade. Sie haben dem Recht und denjenigen, die sich wissenschaftlich und politisch mit ihm beschäftigen, sehr wohl etwas zu sagen. Wenngleich nicht immer gleich klar ist, was. Dem nachzugehen ist das Ziel der Beiträge in diesem Band.

Wer ist hier verrückt?

Die Begegnung mit den Reichsbürgern, so Sophie Schönberger, stößt uns auf den »imaginären Kern des Rechts«: Reichsbürger sind Leute, die die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verfassungsordnung nicht in erster Linie für falsch und ungerecht, sondern für gar nicht erst existent halten – für eine bloße Illusion: Es gibt sie nicht und hat sie nie gegeben. Der Staat, in dem wir leben und der das für uns geltende Recht setzt, ist – was immer das genau sein soll – immer noch das Deutsche Reich.

Aus ihrer Sicht ist unser Glaube an die Geltung des bundesdeutschen Rechts genauso verrückt wie uns aus unserer Sicht ihr Unglaube. Und warum auch nicht? Die Geltung des Rechts kann, so Sophie Schönberger, nicht logisch begründet und nicht mit Gewalt erzwungen, sondern nur imaginiert werden – es gilt, wenn und soweit wir erwartbarerweise von seiner Geltung überzeugt sind. Wir glauben einer Erzählung, die uns die Geltung des geltenden Rechts imaginieren lässt, etwa dass sich mit der Präambel des Grundgesetzes »das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben« hat.

Wenn man diese Erzählung für einen Tatsachenbericht hält, dann ist es nicht mehr als folgerichtig, die Präambel des Grundgesetzes zu einer Lüge zu erklären. Wie ein enttäuschter Katholik, den an der Dreifaltigkeitslehre Zweifel beschleichen, erliegt der Reichsbürger halb verzweifelt, halb elektrisiert der Verlockung der Häresie: Extra ecclesiam bestimmt er so gut wie jeder andere, was zum Heil führt und was nicht. Und das fühlt sich gar nicht schlecht an. Gerade noch war er eine arme Wurst mit Steuerschulden und Sorgerechtsstreit, den fürchterlichen Bürokraten und ihrem Juristendeutsch hilflos ausgesetzt. Plötzlich ist ihm die Macht verliehen, das alles mit einem Fingerschnipsen verschwinden zu lassen. Er muss nur die Worte »Die Bundesrepublik ist eine GmbH« aussprechen, und schnipp: alles weg! Alles Illusion!

Wenn das in seiner Macht steht, dann kann er sich geradeso gut gleich zum König krönen lassen. Dann kann er sich all die magischen Amtsbezeichnungen und Stempel und Urkunden und Ausweise und Legitimationen und Briefköpfe, auf die sich bis eben noch die Autorität der ihn drangsalierenden Jurist_innen zu gründen schien, einfach selber ausstellen. Weniger als die der bundesrepublikanischen Staatsillusionisten sind sie jedenfalls auch nicht wert.

Nur ein Trick

Dieser Desillusionierungs-Trick kann Recht weg-, aber nicht herzaubern. Er ermächtigt, indem er delegitimiert: Was ihr für Recht haltet, gibt es gar nicht! Aber wenn es ans Legitimieren geht, endet seine Kraft. Recht ermächtigt, wen es bindet, und bindet, wen es ermächtigt, und solange sich der Reichsbürger-König immer nur ermächtigt, aber an nichts bindet, kann er mit seinem Zauberstab herumfuchteln, Dokumente abstempeln und mit juristisch klingenden Begriffen um sich werfen wie er will. Es bleibt halt doch am Ende nur ein Trick.

So wird das geltende Recht entwertet, aber kein anderes an seine Stelle gesetzt. Der Reichsbürger ist kein Revolutionär und Staatsgründer, aber ein Rechts- und Staatsfeind ist er trotzdem. Er fällt mit seinem Desillusionierungs- und Delegitimierungstrick womöglich auch weniger aus dem Rahmen, als man so meinen sollte. Was unser amtierender Verfassungsminister CSU-Chef Horst Seehofer mit seiner »Herrschaft des Unrechts« in Bezug auf das Dublin-System der europäischen Zuständigkeitsverteilung im Asylrecht gemacht hat, kann man durchaus auch in diesem Sinne deuten. Der Mann ist (Stand August 2019) immer noch im Amt. Es sind schon Leute aus geringeren Gründen vom Glauben abgefallen.

Dass das rechts-delegitimierende Erzählen von Gespenstergeschichten sogar der Bundesrepublik selbst nicht ganz fremd ist, zeigt Christoph Schönberger in seiner Rekonstruktion des »Reichs« im Reichsbürger. Auf das Deutsche Reich als irrealen Sehnsuchtsort, dessen funkelnd-geheimnisvolle Realität man gegen jede Evidenz behaupten und der mausgrauen Nachkriegsrealität entgegenhalten konnte, wollte auch die Verfassungsdoktrin der Bundesrepublik mit ihrer »Fortbestandsthese« über viele Jahrzehnte nicht verzichten. Der Zweck derselben war Delegitimierung – zunächst der DDR, aber dann auch der unfertigen, unsouveränen kleinen Bundesrepublik. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag 1973 taucht das Deutsche Reich in »schizophrener Verdoppelung« auf, einerseits mit der Bundesrepublik identisch und damit handlungsfähig, andererseits sie gesamtdeutsch überwölbend, aber handlungsunfähig.

Wie wenig Substanz hinter diesem ganzen Simsalabim tatsächlich steckte, zeigte sich bei der Wiedervereinigung, als die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte ganz ohne jedes Deutsche Reich den Zwei-Plus-Vier-Vertrag aushandelten: »Die juristische Mumie Deutsches Reich«, so Christoph Schönberger, »ließ man achtlos am Wegesrand liegen.« Und wie das so geht mit Toten, die man nicht begräbt: Sie kommen als Zombies wieder.

Hallo, Reichsbürger!

Die Reichsbürger als Herausforderung für Staat, Recht und Wissenschaft: Eine Einführung

Christoph und Sophie Schönberger

Auf den ersten Blick wirkte das Phänomen skurril, möglicherweise sogar ein wenig verspielt, kauzig im besten Fall, lächerlich im schlechtesten. Männer (ja, vor allem Männer), die ihre Grundstücke zu eigenen deutschen Mini-Staaten ausriefen, die sich mit hochtrabenden Titeln wie »Staatskanzler« oder »Generalbevollmächtigter des Deutschen Reiches« schmückten, Wappen und Flaggen entwarfen, eigene Ausweise und Urkunden druckten oder sich sogar in pathetischen Zeremonien einen falschen Hermelinmantel umhängten und zum König krönen ließen. Lange Zeit schienen die sogenannten Reichsbürger vor allen Dingen ein Fall für das bundesrepublikanische Kuriositätenkabinett zu sein. Spätestens jedoch, seitdem im Herbst 2016 ein Mitglied der Reichsbürgerszene auf seinem Grundstück im fränkischen Georgensgmünd einen Polizisten erschoss und wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ist nicht nur den Sicherheitsbehörden, sondern auch Politik und Öffentlichkeit zunehmend bewusst geworden, dass hinter der Reichsbürgerbewegung eine ernst zu nehmende Bedrohung für das Gemeinwesen steckt.

Eine genauere Beschreibung dessen, was die Reichsbürgerbewegung ausmacht, wird freilich durch verschiedene Besonderheiten der Szene erschwert. Das liegt vor allem an der extremen Heterogenität des Phänomens. Der größte Teil der Reichsbürgerszene ist, wenn überhaupt, nur sehr lose zusammengeschlossen. Meist handelt es sich um organisatorisch nicht vernetzte Einzelpersonen oder aber um instabile Kleingruppen, die sich nicht selten um dominante Führungspersönlichkeiten bilden, oft durch interne Rivalitäten von Abspaltungen bedroht sind oder sogar in der Gefahr stehen, ganz auseinander zu brechen. Ein Großteil der Kommunikationsstrukturen innerhalb der Szene beruht deshalb auch nicht auf festen sozialen Zusammenschlüssen, sondern auf der Konsumierung und Verbreitung entsprechender Inhalte über Internetseiten und soziale Medien.

Die inhaltliche Verbindung, die zwischen den »Reichsbürgern« bei all ihrem Facettenreichtum trotzdem ausgemacht werden kann, besteht darin, dass sie die legitime Existenz der Bundesrepublik Deutschland gänzlich negieren. Die geltende Verfassungsordnung wird nicht als etwas begriffen, dass es abzulehnen oder sogar zu bekämpfen gilt. Vielmehr werden die bestehenden staatlichen Strukturen schlicht als inexistent betrachtet. Die Bundesrepublik Deutschland ist für die »Reichsbürger« schlicht nicht real, ein reines Fantasiegebilde, eine Illusion, geschaffen und aufrechterhalten wahlweise von den Alliierten des Zweiten Weltkriegs oder etwa der »BRD GmbH«, einem globalen Wirtschaftsunternehmen, das sich zur Befriedigung seines Gewinnstrebens als legitimer deutscher Staat tarnt. Der wirkliche, eigentliche Staat soll demgegenüber noch im Deutschen Reich liegen. Das Deutsche Reich besteht fort und bildet den eigentlichen Kern des Gemeinwesens, der von den im Moment scheinbar herrschenden Strukturen nur unzulässig verdeckt wird. Aus diesem idealisierenden Bezug auf das Deutsche Reich, das in der Regel entweder das Deutsche Kaiserreich von 1871 oder aber das Reich der Weimarer Republik und seiner Verfassung von 1919, in den allermeisten Fällen aber gerade nicht das »Dritte Reich« des Nationalsozialismus ist, speist sich auch die Bezeichnung als sogenannte »Reichsbürger«, die freilich eine reine Fremdbeschreibung ist und von den Angehörigen der Szene in aller Regel vehement abgelehnt wird.

Das Ausmaß an Bedeutung, die dem spezifischen Bezug auf das Deutsche Reich zukommt, kann dabei innerhalb der Szene stark variieren. In sehr unterschiedlichen Ausprägungen findet sich die »Reichsideologie« insofern teils im Zentrum der eigenen Position, teils aber auch eher marginal am Rand des eigenen Gedankenkonstrukts. Aus diesem Grund bestehen auch fließende Übergänge zum Milieu der sogenannten Selbstverwalter, die stark von der Bewegung der vor allem in Nordamerika verbreiteten »sovereign citizens« inspiriert sind und weniger von einer abstrakten Reichs- als einer konkreten Freiheitsidee geleitet sind. In dieser ideologischen Variante des »Reichsbürgertums« führt die Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland dazu, dass es jedem Individuum freisteht, sich für unabhängig zu erklären, einen souveränen Staat auf seinem eigenen Grundstück auszurufen und nur noch nach eigenen selbstgesetzten Regeln zu leben. Wolfgang P. etwa, der Reichsbürger, der in Georgensgmünd einen Polizisten erschoss, hatte um sein Grundstück lange gelbe Linien gezogen, mit denen er den »Regierungsbezirk Wolfgang« abgrenzen wollte. Wenn im vorliegenden Band aus Gründen der sprachlichen Einfachheit meist nur von den »Reichsbürgern« die Rede ist, so ist damit in der Regel das angrenzende Milieu der Selbstverwalter mitgemeint.

Die wissenschaftliche Durchdringung dieser ganz besonderen Form von Staatsverweigerung steht bisher noch ganz am Anfang. Das gilt insbesondere für die genaue Erkenntnis der tatsächlichen Strukturen und Erscheinungsformen des Reichsbürgermilieus. Eingehendere Darstellungen des Phänomens kommen bisher in erster Linie aus dem journalistischen Bereich.1 Umfassendes empirisches Material, das versucht, die Szene insgesamt zumindest im Überblick zu erfassen, ist bisher vor allen Dingen über die Behörden des Verfassungsschutzes verfügbar. Was wir heute empirisch valide aus dem Milieu der Reichsbürger wissen, wissen wir vor allen Dingen über sie.2

Darüber hinaus hat sich über die letzten Jahre hinweg eine sehr spezifische Form praktischer Empirie bei Behörden und Gerichten gebildet, die schon seit längerem in ganz besonderer Weise mit den »Reichsbürgern« konfrontiert sind. Besonders Gemeindeverwaltungen stehen schon seit geraumer Zeit vor dem praktischen Problem, dass eine zunehmende Anzahl von »Reichsbürgern« ihre Autorität nicht anerkennt und ihre Anordnungen nicht befolgt. Stattdessen sehen sie sich mit unendlich ausufernden schriftlichen Stellungnahmen der »Reichsbürger« konfrontiert, in denen diese ihre Ansichten über die Nichtexistenz der Bundesrepublik Deutschland und die fehlende Legitimität der jeweiligen Behörde extensiv dartun. Solche Einlassungen können mitunter auch Drohungen gegenüber den vermeintlich illegal handelnden Beamten enthalten. Vereinzelt sprechen »Reichsbürger« sogar persönlich in den Behördenräumen vor und versuchen, die dortigen Mitarbeiter einzuschüchtern.3 Eine Zeit lang wurde diese verbale Bedrohungsstrategie zum Teil noch dadurch verschärft, dass Anhänger der Reichsbürgerszene Behördenmitarbeiter durch fingierte Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe, die über ein kompliziertes internationales Vollstreckungsgeflecht durchgesetzt werden sollten, auch finanziell unter Druck zu setzen versuchten.4 Da sich die Strategie jedoch im Ergebnis als erfolglos erwies, scheint diese Praxis mittlerweile weitestgehend wieder eingeschlafen zu sein.

Die Behörden haben inzwischen interne Bewältigungsstrategien entwickelt, wie mit diesen unangenehmen Begegnungen am effektivsten und professionellsten umgegangen werden kann. Dabei hat sich eine Erkenntnis recht schnell durchgesetzt: Diskussionen und rationale Argumente verfangen im Umgang mit den Reichsbürgern nicht. Mehr als die Feststellung, dass man hinsichtlich der Existenz der Bundesrepublik Deutschland grundlegend anderer Auffassung ist, führt in der Auseinandersetzung nicht weiter. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, den dienstlichen Schriftwechsel mit »Reichsbürgern« auf das absolut notwendige Mindestmaß zu beschränken. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig, die bestehenden Regeln und Gesetze den Reichsbürgern gegenüber konsequent durchzusetzen. Dies gilt sowohl für die Missachtung behördlicher Anordnungen oder etwa das Nichtbezahlen behördlicher Geldforderungen als auch für Beleidigungen, Bedrohungen oder andere strafrechtliche Delikte, die von »Reichsbürgern« begangen werden und durch Behördenmitarbeiter konsequent zur Anzeige gebracht werden sollten.5 Zwar lassen sich »Reichsbürger« auf diese Weise nicht von ihren Ansichten abbringen. Umgekehrt wird jedoch verhindert, dass »Reichsbürger« in ihren Überzeugungen noch bestärkt werden, wenn die Behörden ihnen gegenüber das Recht nicht durchsetzen.6

Neben den Behörden sind zunehmend auch Gerichte unmittelbar mit den Reichsbürgern und ihren Ansichten konfrontiert. Vor etwa zehn Jahren begann diese Entwicklung zunächst mit der Befassung der Finanzgerichte: Reichsbürger, die sich weigerten, an die von ihnen nicht anerkannte Bundesrepublik Deutschland Steuern zu zahlen, strengten immer wieder Klagen an, mit denen sie die gerichtliche Feststellung erstreiten wollten, dass sie der Steuerhoheit dieses von ihnen nicht anerkannten Staates schon deshalb nicht unterliegen könnten, weil dieser legitimierweise überhaupt nicht existiere. Auffällig an diesen frühen Gerichtsverfahren ist nicht nur die Widersprüchlichkeit des Verhaltens der Kläger, die Verfahren vor den Gerichten eines Staates anstrengten, dessen Nichtexistenz sie genau von diesen, nach ihrer eigenen Ansicht illegitimen Gerichten bestätigen lassen wollten. Vielmehr waren die Gerichte gleichsam als Kehrseite dieses Widerspruchs zu diesem frühen Zeitpunkt, als die Erkenntnisse über das Milieu der »Reichsbürger« noch sehr rudimentär waren, intensiv bemüht, deren Argumentation zu widerlegen und mithilfe juristischer Methodik darzulegen, warum die Bundesrepublik Deutschland als legitimer Staat existiere.7 Mittlerweile sind diese Unsicherheiten aus den entsprechenden Gerichtsurteilen verschwunden. In Kenntnis des Milieus, dem sich die Richter bei derartigen Entscheidungen gegenübersehen, verweisen gerade die Finanzgerichte zunehmend nur noch formal darauf, dass eine Anrufung bundesdeutscher Gerichte mit dem Argument, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht existiere, widersprüchlich und damit rechtsmissbräuchlich sei, sodass in der Sache gar nicht mehr entschieden werden müsse.8

Waren es zunächst eher skurrile Einzelfälle, welche die Gerichte mit dem Phänomen der »Reichsbürger« beschäftigten und neben dem Steuerrecht etwa das Sozialrecht9 oder das Staatsangehörigkeitsrecht10 betrafen, hat sich die Situation seit dem Polizistenmord von Georgensgmünd auch für die Gerichte schlagartig geändert. Da die Behörden in den Bundesländern nun nach und nach systematisch begannen, Angehörigen der Reichsbürgerszene die Waffen- und Jagdscheine zu entziehen und sich die Betroffenen in vielen Fällen gegen diese Maßnahmen wehrten, kam nun bundesweit eine Großzahl entsprechender Fälle vor die Verwaltungsgerichte. Rechtlich kam es dabei jeweils entscheidend auf die Frage an, ob Personen, die in irgendeiner Form der Reichsbürgerszene zugerechnet werden konnten, im sicherheitsrechtlichen Sinne »zuverlässig« waren, ob also erwartet werden konnte, dass sie sich in Zukunft im Umgang mit ihren Waffen an die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland halten würden. Parallel zu diesen Fällen finden sich vereinzelte Entscheidungen zu verwandten sicherheitsrelevanten Erlaubnissen, die von der luftsicherheitsrechtlichen Zuverlässigkeit eines Lufthansa-Piloten11 bis hin zur notwendigen Zuverlässigkeit für die Erteilung einer Sonderzufahrtserlaubnis für das Münchner Oktoberfest12 reichen.

In der Entwicklung der Rechtsprechung lässt sich dabei eine deutliche Zäsur angesichts des Polizistenmordes vom Oktober 2016 erkennen. Während das Verwaltungsgericht Gera im Jahr 2015 noch allein aus der Nähe zur Reichsbürgerszene nicht per se auf die Unzuverlässigkeit eines Waffenbesitzers schließen wollte,13 waren die Gerichte ab dem Herbst 2016 bundesweit einhellig der Auffassung, dass »Reichsbürger« die erforderliche waffenrechtliche Zuverlässigkeit nicht besitzen. Vereinzelte Fälle, in denen sich Reichsbürger dennoch gegen den Entzug ihrer Waffenbesitzkarte wehren konnten, beruhten daher allein noch auf tatsächlichen Unsicherheiten dahingehend, ob der Betroffene wirklich der Reichsbürgerszene zuzurechnen war – eine Frage, die aufgrund der fehlenden festen Organisations- und Mitgliedschaftsstrukturen der Reichsbürgerszene mitunter schwierig zu beantworten sein kann.14

Zu diesen sicherheitsrechtlichen Fällen treten auch immer wieder vereinzelte Gerichtsverfahren hinzu, in denen darüber gestritten wird, ob Beamte, die der Reichsbürgerszene angehören, disziplinarrechtlich belangt oder sogar ganz aus dem Dienst entfernt werden können. Hier bestehen jedoch in der Rechtsprechung keine Zweifel: Wer als »Reichsbürger« die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennt, kann von seinem Dienstherrn aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden.15

Kleine Erfolge vor Gericht haben die »Reichsbürger« daher bisher vor allem dann errungen, wenn nicht um ihre Zuverlässigkeit oder ihre Verfassungstreue, sondern schlicht um ihre geistige Gesundheit gestritten wurde. Denn Fälle, in denen »Reichsbürger« etwa nachhaltig die Zahlung der KfZ-Steuer oder fahrzeugbezogener Bußgelder verweigern, wurden in der Vergangenheit immer wieder von den Behörden genutzt, um eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung anzuordnen (landläufig als »Idiotentest« bezeichnet). Die Ergebnisse dieser Untersuchung können in einem zweiten Schritt zur Entziehung des Führerscheins führen, wenn dabei psychische Erkrankungen festgestellt werden, welche die Eignung zur Führung eines Fahrzeugs ausschließen. Da es hier nach rechtlichen Maßstäben nicht um die Zuverlässigkeit oder die Rechtstreue, sondern allein um die geistige Gesundheit der »Reichsbürger« geht, hatten diese mit ihren Klagen gegen die Anordnung einer solchen Untersuchung bisher vor Gericht meist Erfolg. Nach Einschätzung der Gerichte kann nämlich allein aus ihren abweichenden Ansichten über die Existenz der Bundesrepublik Deutschland nicht ohne weitere Anhaltspunkte auf eine psychische Erkrankung geschlossen werden.16

Die Beiträge des vorliegenden Bandes versuchen auf der Grundlage dieser tatsächlichen Entwicklungen dem Phänomen der Reichsbürger auf einer analytisch-verstehenden Ebene wissenschaftlich näher zu kommen. Das Ziel des Bandes liegt daher nicht in erster Linie darin, die akuten Probleme von Gerichten und Behörden zu begleiten und praktische Handlungsempfehlungen zu geben. Vielmehr soll ein erster Beitrag dazu geleistet werden, das gesellschaftliche Phänomen besser zu verstehen, das sich in der Reichsbürgerbewegung zeigt. Welche gesellschaftliche Entwicklung wird durch das Erstarken der Reichsbürgerbewegung angezeigt? Was sind die Ursachen für ihre Entstehung? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen kann sie haben? In welchem Maße werden Grundfesten des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch die wachsende Zahl von Anhängern dieser Bewegung in Frage gestellt? Die Beiträge des Bandes beschreiben näher die Ideologiebruchstücke und Betätigungsformen der Angehörigen der Reichsbürgerbewegung. Dabei wird immer wieder eine widersprüchliche Fixierung der Reichsbürger auf die staatlichen Institutionen und das staatliche Recht deutlich, die doch zugleich grundlegend abgelehnt werden. Ihre Fixierung auf das Deutsche Reich knüpft an eine der zentralen juristischen Lehren der alten Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung an. Reichsbürgertexte beziehen sich denn auch regelmäßig auf die zentrale Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dazu, die im Jahr 1973 zum damaligen Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten ergangen war. Das Bundesverfassungsgericht hatte damals freilich eine Teilidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem fortbestehenden Deutschen Reich angenommen. Die Reichsbürger negieren hingegen die juristische Existenz der Bundesrepublik und wollen als Rechtsordnung allein das Recht des fortbestehenden Deutschen Reiches gelten lassen.17 Die widersprüchliche Fixierung der Reichsbürger auf die staatliche Hoheitsgewalt zeigt sich auch in deren Praxis, selbst ausgedachte und hergestellte Ausweise, Identitätspapiere und Hoheitszeichen zu verwenden, die sich auf das Deutsche Reich oder die früheren deutschen Einzelstaaten wie etwa Preußen beziehen.18 Analysiert man die Ideologiebruchstücke der Reichsbürger näher, so zeigt sich, dass es sich um Figuren einer fundamentalen Delegitimierung der bestehenden Staats- und Rechtsordnung handelt. Im Reichsbürgermilieu werden nur in sehr geringem Ausmaß positive Visionen einer anderen Staats- und Gesellschaftsordnung entwickelt. Die Reichsbürger stehen nicht für eine andere politische Legitimität ein, sei diese nun anarchistisch, völkisch oder sonstwie zu verstehen. Ihre Behauptung des Vorhandenseins einer eigentlichen Legalität des Reiches, die durch die Rechtsordnung der Bundesrepublik nur usurpatorisch verdrängt sein soll, hat deshalb auch in erster Linie einen rein negativen Inhalt und zielt auf die Delegitimierung des Bestehenden. Es bleibt bei den Reichsbürgern denn auch häufig im Vagen, auf welches vergangene Reich sie sich genau beziehen. Anders als in älteren deutschen kulturellen Traditionen steht das Reich bei ihnen nicht für eine moralisch-politische Vision.19 Im Selbstverständnis der Reichsbürger trägt der Bezug auf das Deutsche Reich Züge einer sektenhaften Wahrheit, die bekannt und geglaubt werden muss, ohne dass eine Widerlegung denkbar wäre oder andere Auffassungen daneben bestehen könnten. Dabei zielt die persiflierende Inbesitznahme staatlicher Formen, Dokumente und Begründungselemente auf eine laienhafte Selbstermächtigung durch Recht, die es erlaubt, Ohnmachtserfahrungen gegenüber dem staatlichen Recht in imaginäre Macht zu verwandeln.20 Für die Reichsbürger steht nicht etwa eine staatsferne Selbstorganisation in Freiheit im Vordergrund, sondern vielmehr der Glaube an eine andere, vermeintlich bereits existierende oder fortexistierende Rechtsordnung.

Zur Reichsbürgerbewegung finden nicht selten Menschen, deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft prekär ist, weil sie sich in persönlichen, familiären oder beruflichen Krisen befinden. Auf unterschiedliche Weise ist diesen Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft verloren gegangen und bei ihnen der Eindruck entstanden, auf sehr grundlegende Weise »im Falschen« zu leben. Sie finden den Zugang zu den Reichsbürgern vergleichsweise leicht, weil diese Bewegung nur in geringem Maß organisatorisch verfestigt ist und besonders stark durch virtuelle Kommunikation im Netz funktioniert. Der Anschluss an die Reichsbürgerbewegung ermöglicht eine »symbolische Emigration« wie sie in anderer Weise auch für den Bereich religiöser Konversion beobachtet werden kann. Sich als Reichsbürger zu verstehen, erlaubt eine grundlegende Distanznahme zur herrschenden Gesellschaft und stellt für von dieser Bewegung angezogene Menschen nach ihrem eigenen Verständnis eine Problemlösung dar.21 Das kulturelle Fundament für dieses Lösungsangebot liegt in einer spezifisch deutschen Fixierung auf die Autorität des Rechts, die im internationalen Vergleich, von Österreich abgesehen, einzigartig sein dürfte.22

Auf derzeitigem Kenntnisstand sind viele Fragen zu den Reichsbürgern nach wie vor offen. Es fehlt hierzu weitgehend an wissenschaftlicher Empirie, da die entsprechenden Daten und Erkenntnisse bisher allein von Behörden und Gerichten im Rahmen sehr spezifischer Aufgaben und Strukturen erhoben wurden. Die Übergangszonen zwischen Reichsbürgerbewegung und Rechtsradikalismus23 oder rechter Systemkritik von innen im Bereich der AfD24 sind noch nicht näher untersucht, ebenso wenig diejenigen zur organisierten Kriminalität25. Offen ist auch, welche Attraktivität die Reichsbürgerbewegung paradoxerweise gerade für Staatsdiener insbesondere im Bereich der Sicherheitskräfte besitzt. Es fehlt überdies auch an näheren Untersuchungen zur regionalen Verteilung der Reichsbürger, zu möglichen Spezifika in Ost- und Westdeutschland oder im Verhältnis zwischen ländlichem Raum und Metropolen. In diesem Zusammenhang wäre auch zu fragen, ob die Reichsbürgerbewegung bereits als Antwort auf den Rückzug des Staates aus der Fläche seit den neunziger Jahren verstanden werden kann. Der vorliegende Band bietet einen ersten wissenschaftlichen Aufschlag zu vielen dieser Fragen und wird hoffentlich weitere Forschung über dieses beunruhigende Phänomen anregen.

Literatur

Burghardt, Peter/Pittelkow, Sebastian/Riedel, Katja, »Schlag gegen Schleusernetz«, Süddeutsche Zeitung, 9./10. Mai 2018, Nr. 106, S. 6.

Caspar, Christa/Neubauer, Reinhard, »Durchs wilde Absurdistan: Was zu tun ist, wenn ›Reichsbürger‹ und öffentliche Verwaltung aufeinandertreffen«, in: Dirk Wilking (Hg.), »Reichbürger«. Ein Handbuch, 3. Aufl., Potsdam 2018, S. 119–207.

Ginsburg, Tobias, Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern, Berlin 2018.

Müller, Dieter/Rebler, Adolf, »Die Reichsbürger und das Verkehrsrecht«, Deutsches Autorecht 2017, S. 349–354.

Roth, Maximilian, »Waffenrechtliche Unzuverlässigkeit bei Reichsbürgern«, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, 2018, S. 1772–1775.

Scheidler, Alfred, »Der Reichsbürger und sein Führerschein«, Der Verkehrsdienst, 2018, S. 115–122.

Schmidt-Bremme, Götz, »Die ›Malta-Masche‹ der Reichsbürger«, Deutsche Notar-Zeitschrift, 2017, S. 322–325.

Speit, Andreas (Hg.), Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr, Berlin 2017.

Reichsbürger und Selbstverwalter: Ein Fall für den Verfassungsschutz?

Lars Legath

1.Einleitung  26

Das Jahr 2016 hat vieles verändert. Zuerst wurde am 25. August bei einer Zwangsräumung in Reuden (Sachsen-Anhalt) ein Polizeibeamter und ein Angehöriger des Reichsbürgermilieus bei einem Schusswechsel verletzt.27 Nur wenige Monate später kam es dann sogar zum ersten Mordopfer eines Reichsbürgers, als ein Polizeibeamter am 19. Oktober in Georgensgmünd (Bayern) bei der Vollstreckung mehrerer Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse erschossen wurde.28 Der Mord in Georgensgmünd ist der traurige Höhepunkt einer zunehmenden Radikalisierung von Teilen des Reichsbürger- und Selbstverwaltermilieus, die spätestens in den frühen 2010er Jahren begann.29

Die Ereignisse in Sachsen-Anhalt und Bayern führten sowohl auf gesellschaftlicher, politischer, aber auch behördlicher Ebene zu einer Neubewertung des Phänomens der Reichsbürger und Selbstverwalter. Hatten die Verfassungsschutzbehörden vor diesen Ereignissen lediglich solche Gruppierungen im Blick, die inhaltliche oder personelle Überschneidungen zum Rechtsextremismus aufwiesen, wurde im November 2016 das gesamte Reichsbürger- und Selbstverwaltermilieu zum Beobachtungsobjekt erhoben.30

Doch sind die Verfassungsschutzbehörden für ein Phänomen zuständig, das bis zum Jahr 2016 häufig noch – auch von den Behörden selbst – überwiegend als Ansammlung von Spinnern, Esoterikern und Verschwörungstheoretikern betrachtet wurde?

Zur Klärung dieser Frage wird im Folgenden nach der Darstellung des gesetzlichen Auftrags der Verfassungsschutzbehörden (2.) das Phänomen Reichsbürger und Selbstverwalter näher untersucht. Neben der historischen Genese des Milieus und seiner ideologischen Grundannahmen (3.) werden auch erste soziostrukturelle Erkenntnisse über das Milieu (4.) sowie über seine Struktur (5.) dargestellt.

2.Gesetzlicher Auftrag

Zu Beginn soll kurz auf den gesetzlichen Auftrag der Verfassungsschutzbehörden eingegangen werden.

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) sammeln die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder Informationen unter anderem über »Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben«. Als Bestrebung gegen den Bestand des Bundes oder eines Landes sind nach § 4 Abs. 1 a BVerfSchG »solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss zu verstehen, der darauf gerichtet ist, die Freiheit des Bundes oder eines Landes von fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen«.

Aufgrund der fundamentalen Ablehnung der Bundesrepublik und ihrer gesamten Rechtsordnung sowie der Proklamation eigener Fantasiestaaten auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland können die Ziele und Handlungen von Milieuangehörigen als Bestrebungen i. S. d. BVerfSchG angesehen werden, womit eine Zuständigkeit der Verfassungsschutzbehörden zu bejahen ist.

Neben der Ablehnung des Grundgesetzes und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) zählen außerdem gebiets- und geschichtsrevisionistisches Gedankengut sowie antisemitische Einstellungen zum ideologischen Mindset von Teilen des Milieus. Das Eintreten für diese Positionen kann somit auch als Bestrebungen gegen die fdGO angesehen werden, da hierdurch zentrale Verfassungsgrundsätze beseitigt oder außer Geltung gesetzt werden sollen (§ 4 Abs. 1 c BVerfSchG).

Angesichts ihrer Ideologie, insbesondere wegen der Ablehnung der bestehenden Rechtsordnung, stellen Reichsbürger und Selbstverwalter mit waffenrechtlichen Erlaubnissen eine besondere Gefahr dar. Aktuell verfügen nach Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden noch 940 Reichsbürger und Selbstverwalter über eine oder mehrere waffenrechtliche Erlaubnisse.31 Neben dem legalen Waffenbesitz wurden außerdem bei Durchsuchungen immer wieder auch illegale Waffen bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern gefunden. Daneben kam es in der Vergangenheit auch zu schweren Gewaltdelikten, bei denen besonders Polizeibeamte und Behördenvertreter Ziel der Aggression waren. Sowohl die große Waffenaffinität als auch das Gewaltpotenzial gefährden die öffentliche Sicherheit, weshalb besonders durch den Entzug von waffenrechtlichen Erlaubnissen versucht wird, das entsprechende Eskalationspotenzial zu minimieren.

3.Reichsbürger und Selbstverwalter

Der Definition der Verfassungsschutzbehörden folgend handelt es sich bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern um »Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren und deshalb die Besorgnis besteht, dass sie Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen.«32

Reichsbürger

Die Unterscheidung zwischen Reichsbürgern und Selbstverwaltern ist dabei als idealtypische Beschreibung zu verstehen, die in der Realität häufig von Überschneidungen und Mischformen überlagert wird. Dem Verständnis der Verfassungsschutzbehörden nach unterscheiden sich beide Strömungen vor allem durch den Bezug auf ein historisches »Deutsches Reich«. Während dieser Bezug bei Reichsbürgern – nomen est omen – als zentraler ideologischer Bezugspunkt angesehen werden kann, ist dies bei Selbstverwaltern, falls überhaupt, nur am Rande der Fall. Diese beziehen sich hingegen häufiger auf universell gültige Menschenrechte.

Diese unterschiedlichen ideologischen Grundpositionen lassen sich vielleicht auch mit den unterschiedlichen historischen Genesen beider Strömungen erklären. So finden sich die Ursprünge der Reichsbürger in Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Raum (auf den sich ihre Verbreitung auch bis heute hauptsächlich beschränkt).33

Die ideologischen Wurzeln des Phänomens reichen zurück bis in die direkte Nachkriegszeit. Die Vorstellungen vom Fortbestand des Deutschen Reiches und der Illegitimität der noch jungen Bundesrepublik waren zentrale Positionen der 1949 gegründeten »Sozialistischen Reichspartei« (SRP).34 Auch in den folgenden Jahrzehnten entstanden Gruppierungen innerhalb des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus, die aufgrund eines vermeintlich erforderlichen Friedensvertrags auf der fehlenden Legitimation der Bundesrepublik und gebietsrevisionistischen Forderungen beharrten.

Im Jahr 1985 entstand schließlich unter dem Namen »Kommissarische Reichsregierung« (KRR) die erste »Reichsregierung«, der noch viele weitere folgen sollten. Gegründet wurde diese von Wolfgang Ebel (1939–2014), einem ehemaligen Reichsbahnbeamten.35 Von der KRR spaltete sich unter anderem im Jahr 2004 die »Exilregierung Deutsches Reich« um den selbsternannten »Reichskanzler« Norbert Schittke (*1942) ab. Auch wenn also bereits seit einigen Jahrzehnten entsprechende Reichsbürgergruppierungen bestanden, nahm der Zulauf solcher »Reichsregierungen« besonders in den Jahren nach 2004 an Fahrt auf.36

Selbstverwalter

Dagegen reichen die Wurzeln der deutschen Selbstverwalter bis über die Grenzen des europäischen Kontinents hinaus. Als wichtiger Bezugspunkt sind die »sovereign citizens« in den USA zu nennen, deren ideologische Wurzeln bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts liegen.37 Von dort wurden einige Argumentationsmuster übernommen, die in der Gegenwart auch innerhalb des deutschen Milieus weit verbreitet sind, beispielsweise die Vorstellung, dass jeder Deutsche aufgrund der Abwesenheit eines Staates seinem eigenen Staat kündigen und die »privatrechtliche Beziehung« zur »BRD-GmbH« beendigen könne. Auch die Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Person« ist weit verbreitet und drückt sich in diversen Namenszusätzen (beispielsweise »X aus der Familie Y«) aus.

Die Zahl der Anhänger dieser Ideologie in Deutschland nahm seit den frühen 2010er Jahren beständig zu. Aktuell ist davon auszugehen, dass ein Großteil des Personenpotenzials innerhalb des Milieus sich stärker auf ideologische Versatzstücke des »Selbstverwaltertums« bezieht.

Verhältnis zum Rechtsextremismus

Nach Auffassung der Verfassungsschutzbehörden handelt es sich bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern um einen Extremismus sui generis, also eigener Art. Dies wird unter anderem damit begründet, dass nur vergleichsweise geringe personelle Überschneidungen zwischen dem Milieu und dem deutschen Rechtsextremismus bestehen. So sind insgesamt nur ungefähr fünf Prozent der gegenwärtig bekannten Reichsbürger und Selbstverwalter auch rechtsextremistischen Bestrebungen zuzuordnen.38

Gleichwohl muss auf ideologischer Ebene eine vorhandene Anschlussfähigkeit bzw. Überschneidung zwischen beiden Phänomenbereichen konstatiert werden, auch wenn sich diese je nach Strömung unterscheidet. Die bereits erwähnte Ablehnung der völkerrechtlichen Legitimation und das Bestreiten der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland als zentrales Ideologem verbindet sich in Teilen mit geschichts- und gebietsrevisionistischen Positionen, aber auch mit völkischem oder antisemitischem Gedankengut.39