Galley, Susanne

Das Judentum

 

 

 

 

Impressum

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Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

E-Book ISBN: 978-3-593-40432-5

|7|Vorwort

Wer sich daran macht, das Judentum kennen zu lernen, begibt sich auf einen langen und höchst interessanten Weg. Bereits mit dem ersten Wort des Buchtitels stößt man jedoch auf ein Problem: Das Judentum gibt es nicht und hat es nie gegeben. Wir haben es vielmehr mit einem komplexen Phänomen zu tun, das in seiner Vielfalt und Wandlungsfähigkeit nur schwer einzugrenzen und zu definieren ist.

Der vorliegenden Einführung liegt die Einsicht zugrunde, dass die jüdische Kultur in ihrer Geschichte überwiegend von religiösen Traditionen geprägt worden ist. Wir werden daher die Grundzüge und Wandlungen der jüdischen »Religion« in den Mittelpunkt der Darstellung rücken – wohl wissend, dass »Religion« ein moderner Begriff ist, welcher das Phänomen Judentum zumeist kaum angemessen erfasst. Eine zweite wichtige Beschränkung, die wir uns auferlegen müssen, besteht darin, bedeutende regionale Ausprägungen jüdischer Kultur, wie die jemenitische oder die kaukasische, weitgehend auszublenden. Die Geschichte, die wir erzählen werden, richtet ihren Blick vor allem auf diejenigen jüdischen Gemeinschaften, welche intensiv auf das Judentum Europas wirkten.

Um bei aller Komplexität und Verschiedenheit das einigende Band nicht aus den Augen zu verlieren, benötigen wir Grundmotive, deren Kontinuität und Entwicklung wir durch die Jahrhunderte hindurch beobachten können. Als Gravitationszentren jüdischen Lebens, die den Großteil der Traditionen auf sich ziehen und prägen, haben wir |8|die Tora und Israel ausgemacht. Sie werden uns als cantus firmus der folgenden Darstellung begleiten.

Jüdisches Denken war und ist geprägt von einem engen Zusammenhang von erzählter Geschichte (Haggada) und einer sorgfältig weiten Bereichen des Alltagslebens angepassten ethischen und rituellen Praxis (Halacha). Wir werden dieses Zusammenspiel von Haggada und Halacha unserer Darstellung als Struktur zugrunde legen.

Jedes einzelne Kapitel der chronologisch orientierten Darstellung wird somit die Interaktion zwischen der erzählten und erinnerten Geschichte und der religiösen und kulturellen Entwicklung des Judentums analysieren. Dabei gilt es vor allem, die Grundmotive Tora und Israel in ihren Wandlungen und Deutungen zu beobachten; die Einflüsse fremder Kulturen auf die jüdische Geschichte und Lebensweise zu würdigen und nach den Ursachen für die internen Konflikte zu forschen, welche sich in religiösen, sozialen und politischen Formen äußern konnten. Zur Abrundung der Darstellung werden wir die jeweils prägende(n) Schrift(en) und Person(en) einer Epoche näher vorstellen, um an deren Beispiel die Besonderheiten ihrer Zeit transparent zu machen.

Der Versuch, eine so reiche und alte Kultur wie die jüdische auf relativ eng begrenztem Raum und nach strengem Schema darzustellen, führt notwendig zu unzulässigen Vereinfachungen und Lücken. Diese Einführung möchte daher vor allem Neugierde wecken und dazu verhelfen, die notwendigen weiteren Studien vielleicht etwas strukturierter in Angriff zu nehmen.

Zuletzt und vor allem sei den Freunden, Studierenden und Kollegen herzlich gedankt, die mitgelesen, diskutiert und geholfen haben, den folgenden Text zu verfassen: meinem Mann, Marc Olivier Talabardon, ohne den gar nichts geht; meinen lieben Freundinnen Helga Völkening und Hiltrud Wallenborn, die mir gründlich und genau ihre |9|Meinung sagen; den Studierenden, die ich unterrichten darf, und unter ihnen insbesondere Christian Reiher, der die Graphiken digitalisiert hat, und Marie-Luise Schmidt, die alles über den Bund weiß.

|10|1. Einleitung

Das Judentum zeigt sich in seiner mehr als dreitausendjährigen Geschichte stets als eine ausgesprochen pluralistische Kultur, deren Ränder oft nur vage zu bestimmen waren und sind. Es präsentiert sich insofern als eine komplexe Größe, da es sich in wechselnder Gewichtung ethnisch, national, kulturell oder religiös definiert. So wird beispielsweise die Frage, ob säkulare Jüdinnen und Juden überhaupt als solche zu bezeichnen sind, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bis heute kontrovers diskutiert. Das Judentum weist deshalb so pluralistische Züge auf, weil es auf eine lange Geschichte und vielfältige Erfahrungen als Minderheit im Exil zurückblickt. Der Begriff »Exil« bezeichnete jedoch stets unterschiedliche geographische Räume, die zu jeweils eigenen Strategien der Selbstbehauptung und Akkulturation genötigt haben.

Die nächste Schwierigkeit, die sich mit dem Titel Das Judentum stellt, begegnet im Begriff Judentum. Allzu selbstverständlich wird er als Bezeichnung einer Religion oder einer Kultur verwendet, die weit älter ist als der Begriff selbst. Im Grunddokument des jüdischen Volkes, der Hebräischen Bibel, sucht man ihn nämlich vergeblich.

 

Judentum

Die Bezeichnung Judentum leitet sich vom hebräischen Wort Jehudi her, was mit »Bewohner des Königreiches J(eh)uda« oder »Judäer«, zunächst jedoch nicht mit »Jude«, zu übersetzen wäre. Das Königreich Juda, der südliche Teil des von Israel besiedelten Gebietes, existierte von etwa 925 bis 586 v.d.Z. Von 540 bis 333 v.d.Z. diente Jehud als Bezeichnung einer kleinen persischen Verwaltungseinheit, die zur Provinz Abar Nahara (»jenseits des Stromes«) gehörte. Bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v.d.Z. wurde die |11|Bezeichnung Jehudi bzw. sein griechisches Äquivalent Ioudaios ausschließlich im ethnisch-geographischen Sinne (»Judäer«) verwendet. Der älteste Beleg für die Bezeichnung »Judentum« entstammt ebenfalls dem 2. Jahrhundert (2 Makk 2,21-22; 8,1; 14.38). Er beschreibt eine komplexe politisch-ethnisch-kulturelle Größe, welche sich gegen die griechische Herrschafts- und Lebensweise abgrenzt. Bis weit in das 1. Jahrhundert n.d.Z. hinein dominierte die ethnisch-geographische Interpretation des Begriffs.

 

Paradebeispiel für die changierende Bedeutung des Wortes Jude beziehungweise Judäer ist König Herodes, der von 37 bis 4 v.d.Z. als römischer Vasall über Palästina herrschte. Ethnisch betrachtet gehörte er zum Volk der →Idumäer, das jedoch im 2. Jahrhundert v.d.Z. zwangsweise dem jüdischen Volk eingegliedert worden war. Aus diesem Grunde war Herodes ethnisch-politisch zugleich Idumäer und Judäer, was von vielen seiner Zeitgenossen, wie dem jüdischen Historiker Josephus, auch anerkannt wurde. Dieser Umstand ebnete ihm den Weg zur Herrschaft über das jüdische Volk. In dieser Funktion konnte er auch den Tempel zu Jerusalem beträchtlich erweitern und verschönern. Die politischen Gegner des Herodes sahen in ihm jedoch lediglich einen »Halb-Judäer« (vgl. Josephus, Ant 14,403) und hielten seinen Anspruch auf religiöse Teilhabe am Judentum für schlichte Anmaßung. 

Eine neue und bis heute weithin anerkannte Definition der Zugehörigkeit zum Judentum wurde von der →rabbinischen Theologie frühestens ab dem 2. Jahrhundert n.d.Z. entwickelt. Als Jude (nicht mehr: Judäer) gilt, wer eine jüdische Mutter hat (vgl. Mischna Qid 3,12). Dieser Bestimmung zufolge wäre der judäische König Herodes keinesfalls »Jude« gewesen, da seine Mutter einer arabischen Familie entstammte. Entsprechend urteilt im 5./6. Jahrhundert der Babylonische Talmud (BB 3b), Herodes sei ein (heidnischer) Sklave gewesen – hätte also weder König Judäas noch gar Tempel-Erbauer werden dürfen. Je |12|nach Epoche und politisch-religiöser Prägung wird derselbe Herodes somit als Idumäer-und-deshalb-kein-Judäer, Idumäer-und-deshalb-Judäer, als Judäer-und-Jude oder als Araber definiert (Cohen 1999: 13–24).

Die Bezeichnung Judentum im Sinne einer Religion bzw. einer vornehmlich religiös definierten Größe entwickelte sich erst in Abgrenzung zum Begriff »Christentum«, der kaum vor dem 4. Jahrhundert seine heute bekannte Ausprägung erfuhr. Sie muss jedoch eher als eine Fremdbezeichnung denn als ein Eigenname angesehen werden. Die jüdische Gemeinschaft im religiösen Sinne verstand sich nämlich als Volk Israel – und tut dies weithin bis heute. In gewisser Weise kommt somit in der Bezeichnung Judentum für die Religion des jüdischen Volkes ein Konflikt zum Ausdruck, da die Christen die Bezeichnung Israel für sich selbst (als das »Neue Israel«) reklamierten und sie mithin den Juden streitig machten.

Sieht man von modernen Entwicklungen einmal ab, so zeigt sich, dass sich Juden zu allen Zeiten überall auf der Welt auf zwei klar umrissene Größen bezogen haben: auf die →Tora, die Offenbarung Gottes am Sinai, sowie auf Israel – in seiner Doppelgestalt als geographische Heimat und ethnisch-religiöse Gemeinschaft. Erst in jüngster Zeit, etwa ab dem 19. Jahrhundert, haben Juden diesen doppelten Bezug in Frage gestellt. Dies geschah einerseits, indem sich das liberale Judentum Westeuropas als eine Konfession im christlichen Sinne definierte, so dass sich deren Anhänger zum Beispiel als »deutsche Staatsbürger mosaischen Glaubens« verstanden. Damit wurde die Bindung zu Israel als geographischer Heimat relativiert. Eine komplementäre Entwicklung vollzog sich bei manchen säkular lebenden Juden, die, wie etwa weite Teile der zionistischen Bewegung, die Befolgung der Tora als obsolet betrachteten, an der ethnisch-geographischen Bezogenheit zu Israel jedoch festhielten.

 

|13|Tora

Der Begriff Tora (hebr. Weisung, Belehrung) zeigt im Laufe der jüdischen Religionsgeschichte einige Veränderungen. Ursprünglich bezeichnete der Begriff die elterliche oder priesterliche Unterweisung, später auch die von Propheten übermittelten Worte Gottes. Eine weitere Bedeutungsebene verknüpfte sich mit den in Israel entstehenden Sammlungen von Rechtstexten, welche ab dem 6. Jahrhundert v.d.Z. von den Autoren der Fünf Bücher Mose in eine große Erzählung von den Anfängen Israels eingefügt wurden. Im Zuge der Entstehung des Pentateuch (der Fünf Bücher Mose) wird Tora schließlich zu einer feststehenden Bezeichnung für eben dieses Werk: Die Torat Mosche (Weisung Moses) ist die Gesamtheit der Offenbarung Gottes an Israel, wie sie in schriftlicher Form (»Schriftliche Tora«) in den ersten fünf Büchern beziehungsweise der gesamten Hebräischen Bibel niedergelegt ist und in mündlicher Form (»Mündliche Tora«) alles umfasst, was jemals in Auslegung der Schriftlichen Tora gesagt worden ist und werden wird.

 

In der Hebräischen Bibel, im Fünften Buch Mose (Deuteronomium), findet sich die klassische Beschreibung der Beziehung zwischen der Tora, dem Volk Israel und dem ihm verheißenen Land. Es ist die Tora, welche den einzig relevanten Unterschied zwischen Israel und den anderen Völkern ausmacht. Es ist dieser Unterschied, der Israel dazu bestimmt, das ihm verheißene Land tatsächlich zu besitzen. Ohne Tora, so schärft es insbesondere das Deuteronomium seinen Hörern immer wieder ein, gibt es keine Zukunft für Israel.

»Siehe, ich lehrte euch Satzungen und Rechtssätze, welche der Ewige, mein Gott, mir geboten hat, so zu tun inmitten des Landes, in welches ihr kommt, es zu erben. Und ihr sollt [sie] bewahren und tun, denn dies ist eure Weisheit und eure Einsicht in den Augen der Völker, welche all diese Satzungen hören und sagen werden: ›Es ist gewiss ein weises und einsichtiges Volk, diese große Nation!‹ Denn wo ist eine große Nation, der Götter [so] nahe sind wie der Ewige, unser Gott, wann immer wir zu ihm rufen? Und wo ist eine große |14|Nation,welche [solch] gerechte Satzungen und Rechtssätze besitzt wie diese ganze Tora, welche ich heute vor euch stelle?« (Dtn 4,5–8)

Die nachfolgenden Generationen Israels haben diese Überzeugung geteilt, sie unter dem Eindruck von Fremdherrschaft und Vertreibung sogar noch stärker betont als ihre biblischen Vorfahren. Als das verheißene Land in den ersten beiden Jahrhunderten n.d.Z. auf lange Sicht endgültig an die Fremden fiel und der Tempel zu Jerusalem in Trümmern lag, blieb die Tora das einzige Unterpfand der jüdischen Existenz. Einzig und allein die Bewahrung der Tora konnte den Unterschied zwischen Israel und den Völkern aufrecht erhalten und somit die Hoffnung nähren, dass die jüdische Gemeinschaft eines Tages in das Gelobte Land würde heimkehren können.

In diesem Sinne ist es tatsächlich die Tora, welche Jahrhunderte lang die jüdische Gemeinschaft konstituierte. Dies konnte allerdings nur deshalb gelingen, weil man der in der Hebräischen Bibel aufgezeichneten Offenbarung Gottes (»Schriftliche Tora«) eine dynamische mündliche Tradition (»Mündliche Tora«) an die Seite stellte, welche alle Interpretationen und Aktualisierungen der in der Bibel niedergelegten Gebote umfasst. Alles, was in Auslegung der Schriftlichen Tora gelehrt worden ist und noch gelehrt werden wird, ist Mündliche Tora und somit Offenbarung Gottes. Im Zusammenspiel dieser beiden Geschwister, die Identifikation und Innovation gleichermaßen ermöglichen, kann sich die jüdische Gemeinschaft konstant definieren, aber auch veränderten geschichtlichen und geographischen Situationen stellen.

Die Ausrichtung der jüdischen Gemeinschaft an der Tora ist jedoch kein folkloristischer Selbstzweck. Die Erfüllung ihrer Gebote nährt die Hoffnung auf Israel: auf Heimkehr und nationale Wiedergeburt. Jene Erwartung aber pulst stetig, mal intensiver, mal weniger stark durch |15|die jüdische Geschichte. Die Dichte jener Hoffnung bestimmt das Bild der jeweiligen Epoche: Zeiten fiebriger Gewissheit wechseln mit Jahren der Enttäuschung und der Resignation. Manchmal wird die Einwanderung in das arabisch, byzantinisch, türkisch, englisch beherrschte Palästina propagiert, in anderen Zeiten versucht man hingegen eher, das Gelobte Land in Europa oder Amerika zu finden. Es ist nicht zuletzt wiederum die Tora, welche als kühle Konstante der jüdischen Lebensgestaltung die allzu feurigen Geister wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringt.

 

Halacha und Haggada

Die Schriftliche und Mündliche Tora präsentiert sich in zwei einander ergänzenden Konzepten: Halacha (hebr. Gehen) bezeichnet die Gesamtheit der Regeln, welche das jüdische Leben prägen; die Haggada (hebr. Erzählen) umfasst die narrativen Traditionen des Judentums. Sie verhilft der Halacha zu Begründungen, Beispielen, Kontexten und zu einer Verankerung in der Geschichte Israels. Beide, Halacha und Haggada, wirken zusammen wie Standbein und Spielbein einer Statue. Auch wenn das Gefüge der jüdischen Religion und Kultur nur auf den insgesamt 613 Geboten und Verboten der Tora zu fußen scheint, so können diese ohne die Erzählungen um die großen Helden wie Mose, David und Elija, ohne die ständige Rückbindung an die Geschichte und Zukunft Israels keinen Bestand haben. Seine prägende Formulierung findet dieser Zusammenhang im Ersten Gebot ( jüdischer Zählung), wo es heißt: »Ich bin der Ewige, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten hinausgeführt hat, aus dem Haus der Sklaven.« (Ex 20,2)

 

Das Erste Gebot beinhaltet die halachische Forderung des Ewigen an Israel, der einzige Gott zu sein. Dieser Anspruch wird haggadisch mit der Befreiung aus dem Sklavendasein in Ägypten begründet. Ohne die Erzählung vom Auszug aus Ägypten hinge die Halacha von der Exklusivität Gottes buchstäblich in der Luft.

Die Bibel hat mit ihrer engen Verknüpfung von Offenbarung und Geschichte das Denken revolutioniert. Anstatt das Wirken der Götter und die Entstehung |16|menschlicher Ordnungen mythisch zu fundieren, wie es beispielsweise die Ägypter, Sumerer oder Babylonier taten, hat sie die Begegnung zwischen Gott und Mensch in die historische Zeit verlegt. Die Halacha, das System ethischer, kultischer und juridischer Gebote, wird in die Haggada eingebettet und geschichtlich begründet. Nach und nach, in einem langen Prozess gegenseitigen »Kennenlernens«, unterweist Gott sein Volk in den wichtigsten Lebensregeln und begleitet es bei seinen Erfahrungen in deren Anwendung. Aus dieser Konstellation resultiert die permanente Aufforderung an Israel, sich zu erinnern, das Vergangene weiterzuerzählen, in Fest und Ritual die Erfahrungen der Geschichte Gottes mit seinem Volk wieder aufleben zu lassen.

Sowohl die Hebräische Bibel als auch die rabbinische Literatur (vgl. S. 55), allen voran →Mischna und →Talmud, haben höchst erfolgreich versucht, das Volk Israel als eine homogene Größe darzustellen. Die Hebräische Bibel zum Beispiel sah das Volk unter der Führung korrumpierter Könige entweder komplett auf dem Holzweg oder kollektiv reumütig auf dem dornigen Pfad zurück zu Gott. Mischna und Talmud hingegen zeichnen das Bild eines lernwilligen Volkes unter der unbestrittenen Führung durch heilige Gelehrte, die →Rabbinen. Doch diese Holzschnitte entsprechen kaum der historischen Realität. Ein Blick unter die Oberfläche der Geschichtskonstruktionen der Bibel zeigt, dass priesterliche, höfische und prophetische Konzepte von Israel miteinander konkurrierten. Weisheitliche Skeptiker standen apokalyptischen Zirkeln oder national-konservativen Strömungen gegenüber. In der hellenistischen Epoche wird die innere Vielgestaltigkeit Israels durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur noch verstärkt: An der Frage, wie weit man sich den fremden Einflüssen öffnen solle, schieden sich die Geister. In den Jahrhunderten der griechisch-römischen Fremdherrschaft (3. Jahrhundert |17|v.d.Z. bis 6. Jahrhundert n.d.Z.) entstanden darüber hinaus große jüdische Gemeinden außerhalb Palästinas, die ein je eigenes kulturelles Gepräge entwickelten.

Mit der Christianisierung des Römischen Reiches (4. Jahrhundert) und den arabischen Eroberungszügen wurde die jüdische Gemeinschaft zu einer ethnischen und religiösen Minderheit innerhalb christlich oder islamisch beherrschter Staaten. Dies führte zur Herausbildung zweier Grundformen jüdischer Kultur: Der sefardischen (von hebr. Sefarad für Spanien), die von der arabisch-islamischen Umwelt intensiv beeinflusst wurde, und der aschkenasischen (von hebr. Aschkenas für Deutschland), die sich unter christlichem Einfluss behaupten musste. Die Sefarden prägten in Spanien, Nordafrika und im Vorderen Orient eine jeweils besondere jüdische Lebensart aus. Die kulturellen Zentren des Judentums im mittelalterlichen Europa befanden sich in Südfrankreich, dem Rheinland und Norditalien, bis sich aufgrund großflächiger Verfolgungen ab dem 12. Jahrhundert Mittel- und Osteuropa zu einem Refugium der aschkenasischen Juden entwickelte.

Doch auch innerhalb der sefardischen und aschkenasischen Gemeinden gab es heftige Konflikte darüber, worin das Wesentliche des jüdischen Lebens besteht und welchen philosophischen, theologischen und religiösen Traditionen besonderes Gewicht zukommt. So tobte im sefardischen Spanien des 13. und 14. Jahrhunderts eine harte Auseinandersetzung um die aristotelische Deutung des Judentums durch Mosche ben Maimon (Maimonides, 1135–1204). Die →Kabbala, die klassische jüdische Mystik, stellte dem ein völlig anders geartetes Konzept entgegen – nicht ohne sich dabei platonischer Vorstellungen zu bedienen. Dispute über das Wesen des Judentums erschütterten auch die osteuropäischen Gemeinden ab dem 17. Jahrhundert, als der →Chassidismus seinen Siegeszug durch Galizien und die Ukraine antrat. Mit der Rezeption der europäischen Aufklärung durch das |18|aschkenasische Judentum (ab dem 18./19. Jahrhundert) wurden schließlich Grundwerte in Frage gestellt, die seit Jahrhunderten das Leben der Gemeinden bestimmt hatten. Liberale, konservative und orthodoxe Interpretationen der Halacha standen jüdischen Strömungen gegenüber, welche sich vollständig säkular definierten. Manche dieser Gruppen erhoben die Angleichung an die nichtjüdische Umwelt zum Programm (wie die Sozialisten), andere versuchten, ihre jüdische Identität politisch (die Mehrheit der →Zionisten) oder kulturell (→Bundisten) zu behaupten.