Über den Autor
Dr. Olaf-Axel Burow (Jg.51) ist Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Kassel. Derzeitiger Forschungsschwerpunkt sind die Entwicklung der Theorie des Kreativen Feldes und deren Umsetzung in den Bereichen Kreativitäts-, Begabungs-, Innovations- und Gesundheitsförderung, Schul- und Organisationsentwicklung, Bürgerbeteiligung, Social Entrepreneurship sowie Cultural Coding.
Kontakt: mburow@uni-kassel.de
Ausführliche Texte zum Download, Literaturangaben, Verfahrensbeschreibungen, Workshop-Protokolle und Forschungsberichte finden sich unter
www.olaf-axel-burow.de
www.art-coaching.org
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-25707-9)
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Lektorat: Dr. Erik Zyber
© 2014 Beltz Verlag · Weinheim und Basel
www.beltz.de
Satz und Herstellung: Lore Amann
Umschlaggestaltung: Sarah Veith
Umschlagabbildung: iStock
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-29384-8
Für Sarah und Sophia
Inhalt
Einführung
Pädagogik 1.0: Am Anfang stand die Lernlust
Wie Kinder lernen: Die Entdeckung des Elements
Wie Lernlust und Kreativität entstehen
Warum Lernfreude und Begeisterung verschwinden
Simplexity und die »Weisheit der Vielen«
Die magischen drei
Pädagogik 1.0: Die Quintessenz
Pädagogik 2.0: Bildung nach Logik der Massenproduktion
Pädagogik für das Industriezeitalter
Wie Pädagogik 2.0 allmählich veraltete
Sieben Gründe, warum Pädagogik 2.0 nicht mehr funktioniert
Pädagogik 2.0: Die Quintessenz
Pädagogik 3.0: Lernen in Freiheit und die Rückkehr zur Kreativität
Die digitale Dividende: Wie das Internet das Lernen verändert
Die Erweiterung des Raums der Informationen und des Wissens
Open Education: Der Beginn einer Bildungsrevolution
Die Erweiterung des Raums der Waren und Dienstleistungen
Simplexity konkret: Das Geheimnis des finnischen Schulsystems
Brain meets Education: Erkenntnisse der Neurobiologie
Lernen in Freiheit: Lernlust statt Schulfrust
EduAction: Kreative Ideen für die Schule der Zukunft
Kollektive Kreativität: All we need is Synergie
Die Pädagogik der Zukunft: Inklusive Bildung für alle!
Die fünf Zukunftsbrillen: Chancen und Visionen
Die Kraft des Positiven: Wertschöpfung durch Wertschätzung
Kulturelle Bildung: Schlüssel zum Aufbau von Lebenskompetenz
Abschied von der Halbtagsschule: Ganztagsschule als Kreatives Feld
Nudge: Mit einem Schubs zum Wandel
Pädagogik 3.0: Die Quintessenz
Ausblick: Zwölf Thesen zur Schule der Zukunft
Anhang
Pädagogik 3.0 auf einen Blick
Pädagogik 3.0 – Tools für die Umsetzung
Literatur
Links
Einführung
Die Zukunft, die wir wollen,
muss erfunden werden.
Sonst bekommen wir eine,
die wir nicht wollen.
Joseph Beuys
»Begeisterung ist Dünger fürs Gehirn«, behauptet der Neurobiologe Gerald Hüther und meint, diese These mit Ergebnissen der Hirnforschung belegen zu können. Schulen sind demnach Einrichtungen, die für die Befriedigung eines menschlichen Grundbedürfnisses geschaffen sind, nämlich lustvolles Lernen. Aber auch ohne die Erkenntnisse der Neurobiologie zu kennen, wird jeder von uns, der seine eigenen oder andere kleine Kinder beobachtet, fasziniert davon sein, mit welcher Entdeckerlust sie sich ihre Umwelt erschließen. Wenn dem so ist, warum haben dann in einer Einrichtung, die für die systematische Optimierung dieser Lernlust gemacht ist, also die Schule, so viele Schüler Lernschwierigkeiten? Und warum fühlen sich so viele Lehrer belastet und werden sogar krank?
Irgendetwas scheint an unseren Schulen schiefzulaufen, und ganz offensichtlich geht auch die Idee einer Optimierung des traditionellen Systems in eine falsche Richtung, denn die Ergebnisse der Reformbemühungen seit PISA sind eher bescheiden. Wer sich detailliert mit der Materie befasst, dem wird schnell klar: Wir brauchen einen grundlegenden Wandel: Statt mehr Lernstoff in kürzerer Zeit in die Schülerköpfe zu pressen, sollten wir nach Wegen für ein Lernen in Freiheit suchen und zur Kreativität zurückkehren, denn in der globalisierten Wissensgesellschaft werden die Fähigkeiten zum selbstbestimmten, selbstgesteuerten Lernen und Gestalten im Team zu Schlüsselqualifikationen. Hier genügt es nicht mehr, die Lösungen von gestern mit den Lehrmethoden von vorgestern in einer Lehr-Lern-Umgebung zu reproduzieren, die nach wie vor durch die Fließbandlogik der Massenproduktion des Industriezeitalters charakterisiert ist. Wie aber können wir eine zukunftsorientierte Pädagogik und die dazugehörige Schule schaffen? Und auf welche Grundlagen kann sich eine solch veränderte Pädagogik, die ich als Pädagogik 3.0 bezeichne, stützen?
Wie ich anhand exemplarischer Lernwege zeige, stand am Anfang die Lernlust. Daraus folgt eine wichtige Einsicht: Wenn wir uns auf unsere frühen Erfahrungen besinnen, dann entdecken wir nicht nur, dass jeder von uns über besondere Begabungen verfügt, sondern erkennen zugleich die Konturen »natürlichen Lernens«, die ich als Pädagogik 1.0 bezeichne. Meine Analyse zeigt, dass die Erfahrung und Erzeugung von Lernlust auf 3×3 simplexen Prinzipien beruhen, deren Beachtung es wahrscheinlicher macht, dass Lernen von Freude begleitet und erfolgreich ist. Und das Beste: Diese magischen 3×3 Prinzipien potenzieren sich gegenseitig, sodass bei konsequenter Umsetzung Spitzenleistung und Wohlfühlen, ja bisweilen sogar Schulglück nicht länger Gegensätze sind, sondern möglich werden, da sie einander bedingen.
Diesen positiven Erfahrungen steht Pädagogik 2.0 entgegen, worunter ich die Lehr-Lern-Kultur der traditionellen Schule verstehe, die nach wie vor in weiten Bereichen der nivellierenden und selektierenden Logik der industriellen Massenproduktion folgt. Schüler/innen müssen sich mehr denn je normierten Abläufen und Prüfungen unterwerfen, und es wird zu wenig auf individuelle Neigungen und Talente eingegangen, mit dem Resultat, dass Potenziale verkümmern, zu viele unzureichend gefördert werden oder gar scheitern. Zwar hat Pädagogik 2.0 viel zur Entwicklung unserer modernen Gesellschaften beigetragen und ist nach wie vor eine Grundlage unseres beispiellosen ökonomischen Aufstiegs. Doch mit dem allmählichen Entstehen einer globalisierten Wissensgesellschaft erweist sich diese Pädagogik in weiten Teilen als dysfunktional. Wie aber können eine Pädagogik und eine Schule aussehen, die sowohl den individuellen Bedürfnissen von Schülern und Lehrern wie auch den absehbaren Herausforderungen gerecht werden?
Wenngleich niemand die Antwort auf diese Frage kennt, zeichnen sich doch erste Konturen ab, die ich unter der Bezeichnung Pädagogik 3.0 zusammenfasse. Hier kommen die magischen drei, aber auch bewährte Elemente aus Pädagogik 2.0 zusammen. Sie werden ergänzt durch eine Reihe innovativer Prinzipien, die sich nicht zuletzt aus der rasanten Entwicklung der Neuen Medien und des Internets ergeben. Anders als rückwärtsgewandte Skeptiker, die die Gefahr einer »Digitalen Demenz« an die Wand malen, setze ich auf die Chancen und zeige faszinierende Möglichkeiten einer bislang noch zu wenig wahrgenommenen »Digitalen Dividende«. Erstmalig entsteht nämlich die Chance, dass uns unabhängig von Ort und Zeit die besten Lehrer/innen und Lernmaterialien kostengünstig zur Verfügung stehen und wir alle zu Mitgestaltern neuartiger Lehr-Lern-Umgebungen werden können. Damit lösen sich die Konturen der traditionellen Unterrichtsanstalt auf: Es entstehen vielfältige Möglichkeiten eines Lernens in Freiheit und einer Rückkehr zu den verschütteten Quellen unserer natürlichen Kreativität.
Simplexity, die Beachtung einiger weniger Prinzipien, die unserer inneren Natur entspringen, sowie die Orientierung an der »Weisheit der Vielen« und am Aufbau wertschätzender Beziehungen bilden den Schlüssel zur Entwicklung einer Schule der Zukunft, die auf Potenzialentfaltung durch Förderung der Lernfreude, der kreativen Gestaltungslust und des Wohlbefindens setzt.
Das Buch ist so aufgebaut, dass Sie die Teile unabhängig voneinander lesen und nutzen können. Jedes der drei Kapitel schließt mit einer knappen Zusammenfassung und Anregungen für die Praxis. Sie erhalten nicht nur einen komprimierten Überblick über neueste Forschungsergebnisse und Literatur, sondern auch viele konkrete Anregungen für die Umsetzung in der eigenen Praxis. Meine Ausführungen münden in einen visionären Ausblick, in dem ich in zwölf Thesen die Zukunft der Schule bzw. die Schule der Zukunft skizziere.
Im Anhang können Sie sich auf einen Blick eine Übersicht über Pädagogik 3.0 verschaffen. Darüber hinaus erhalten Sie konkrete Umsetzungspläne für die Gestaltung Pädagogischer Tage, die Sie darin unterstützen, für mehr Lernfreude sowie eine optimierte Schulkultur zu sorgen, um so Ihre Schule zukunftsfähig zu machen.
Von der digitalen Dividende profitieren wir alle tagtäglich, sei es bei der Informationssuche, beim Lernen, beim Kommunizieren, beim Einkaufen, bei der Nutzung sozialer Netze und vielem mehr. Zeit- und ortsunabhängig kann jeder mit geringen Transaktionskosten und minimalem Aufwand zur Bildung »Kreativer Felder« beitragen, die nicht nur ungeahnte Möglichkeiten schöpferischer Kollaboration eröffnen, sondern auch wirkmächtige Werkzeuge für die Zukunftsgestaltung zur Verfügung stellen. Meine Beschreibung der digitalen Dividende ist selbst Ausdruck dieser neuen Form der Kollaboration, in der meine Erfahrungen aus der Arbeit mit einer Vielzahl von Schulkollegien, Lehrern, Eltern, Schülern, aber auch Wissenschaftlern, Führungskräften und Firmenmitarbeitern durch den Austausch in sozialen Netzwerken und anderen digitalen Kommunikationsmedien verdichtet und ergänzt wurden.
Die Entstehung des Neuen ist gemäß meiner Theorie des Kreativen Feldes und im Sinne der »Positiven Pädagogik« keine Leistung eines herausgehobenen Einzelnen, sondern Ausdruck eines vielfältig vernetzten Synergiefeldes von Personen und Gruppen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, der »invisible collaboration« – so auch dieses Buch. Da es den Rahmen sprengen würde, die Beiträge aller Beteiligten angemessen zu würdigen, beschränke ich mich auf die Hinweise im Text, im Literaturverzeichnis sowie auf die Internetlinks. Allen Übrigen, die ich nicht im Einzelnen erwähnen kann, danke ich hiermit. Ich weiß um ihren Beitrag. Mein Dank gilt auch dem Beltz Verlag und seinem vorzüglichen Lektor Dr. Erik Zyber.
Danken möchte ich nicht zuletzt meinen Töchtern Sarah und Sophia, denen ich dieses Buch widme und von denen ich viel gelernt habe. Und natürlich meiner Frau, Christel Schmieling-Burow, die mir nicht nur den Rücken freihielt, sondern mit ih-rem Verfahren des »Art-Coachings« auch wichtige Impulse gegeben hat.
Kassel, im November 2013
Olaf-Axel Burow
Pädagogik 1.0:
Am Anfang stand die Lernlust
Wie Kinder lernen: Die Entdeckung des Elements
Ist es eigentlich wichtig, dass ein Schulkind Einrad fahren kann?
Natürlich sollte unser Kind, wenn es in die Schule kommt, möglichst bald lesen und rechnen können – aber Einrad fahren? Mit dieser Frage werden sich die meisten von uns noch nie auseinandergesetzt haben, und sie werden sie als eher nebensächlich betrachten. Auch ich nahm sie nicht wichtig, als mich meine siebenjährige Tochter Sophia unvermittelt dazu aufforderte, ihr ein Einrad zu kaufen. Ich dachte, das sei einer dieser Zufallswünsche, die von Zeit zu Zeit auftauchen, aber ebenso schnell wieder verschwinden. Doch dieses Mal war es anders. Immer wieder und mit wachsendem Nachdruck vertrat sie ihren Wunsch, bis mir ihr Drängen zu viel wurde und sie mich schließlich mit Erfolg zum Besuch eines Fahrradgeschäftes animierte. Wir kauften also ein Einrad, das sie stolz nach Hause trug.
Zunächst kam es, wie ich es erwartet hatte. Das funkelnagelneue und chromblitzende Rad wurde nach ein paar erfolglosen Fahrversuchen in eine Ecke gepfeffert und fristete dort ein trauriges Kümmerdasein, denn schließlich musste Sophia nun in die Schule gehen, Hausaufgaben machen, und auch sonst war ihr Tag ziemlich ausgefüllt. Schon bald hatten wir das Rad vergessen. Nur manchmal fiel noch ein Blick darauf, und ich fühlte mich bestätigt in meiner anfänglichen Skepsis.
Doch einige Wochen später setzte Sophia ihre Fahrversuche fort, die zunächst natürlich scheiterten. Sie ließ sich aber nicht entmutigen und forderte mich auf, zwei Biertische aus dem Garten zu holen und im Wohnzimmer aufzustellen, sodass sie sich mit den Händen abstützen konnte. Es vergingen einige Tage, in denen sie mehr oder minder erfolglos versuchte, das Rad zu beherrschen. Ganz offensichtlich fühlte sie sich aber herausgefordert und entwickelte wachsenden Ehrgeiz. Obwohl sie ständig umfiel, gab sie nicht auf, und so konnte es nicht ausbleiben, dass erste kurze Fahrten, wenn auch noch wackelig, gelangen. Diese kleinen, selbst erarbeiteten Fortschritte beflügelten sie so sehr, dass sie – sobald sie aus der Schule kam – sofort aufs Einrad stieg und unverdrossen übte und übte, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass wir schon meinten, ihr Einhalt gebieten zu müssen, weil sie die schulischen Anforderungen vernachlässigte. Inzwischen bewegte sie sich in unserer Wohnung fast nur noch mit dem Einrad. Da traf es sich gut, dass in unserer Nähe ein Circushaus eröffnet wurde. Sophia war sofort Feuer und Flamme, als wir sie anmeldeten, und hatte sogar schon kleine Auftritte mit ihrer Gruppe. Und nicht nur das.
»Papa, kaufst du mir ein Waveboard?«, fragte sie mich kurze Zeit später. Was, verdammt noch mal, ist ein Waveboard? Diesmal erheblich aufgeschlossener, machte ich mich sachkundig und erwarb dieses kippelige Rollbrett, mit dem man ähnlich wie beim Snowboard elegant gleiten kann – nur ohne Schnee und in der Ebene. Auch dieses Gerät erfuhr zunächst nur gelegentliches Interesse. Doch schon nach wenigen Wochen beherrschte Sophia auch diese neue Herausforderung. Ganz nebenbei, durch gelegentliche Versuche ohne jede Anleitung, erarbeitete sie sich das nötige Know-how.
Ist es eigentlich wichtig, dass ein Schulkind Fantasy-Literatur liest?
Als meine ältere Tochter Sarah in die dritte Klasse kam, konnte sie noch immer nicht richtig lesen – und das, obwohl wir ihr Gutenachtgeschichten vorgelesen und sie Schritt für Schritt mit anspruchsvoller Kinderliteratur vertraut gemacht hatten. Zwar fand sie etwa die »Wilden Hühner« von Cornelia Funke recht unterhaltsam, doch war sie nicht zu eigenständiger Lektüre zu bewegen und hatte nach wie vor große Schwierigkeiten, selbst einfachste Texte selbstständig zu erschließen. Als bildungsorientierte Eltern machten wir uns natürlich große Sorgen, dachten über geeignete Fördermaßnahmen nach und überlegten, einen Experten zurate zu ziehen, zumal sie bei einem Schuleignungstest eher bescheiden abgeschnitten hatte. Gott sei Dank führten wir dieses Vorhaben nicht aus, sondern lasen ihr weiter unverdrossen abends vor, in der Hoffnung, dass der Knoten doch noch irgendwann platzt. Und das tat er – allerdings auf eine überraschende Weise.
Weder Druck noch Fördermaßnahmen der Schule erwiesen sich als Mittel erster Wahl. Was den Durchbruch brachte, war der Zufall. So nahm ich das Erscheinen des ersten Bandes von Joanne K. Rowlings Fantasy-Roman Harry Potter nur am Rande wahr, da mich diese Literaturgattung kaum anspricht. Meine Frau dagegen verschlang den ersten Band in nur einer Nacht und war so begeistert, dass auch Sarah und selbst Sophia angesteckt wurden. Nach einem gemeinsamen Besuch der Verfilmung warteten sie mit Spannung auf das Erscheinen der nächsten Bände und zwangen mich einige Jahre später an den Weihnachtstagen, alle bislang erschienenen Filme mit ihnen anzusehen. Für mich war das eine anstrengende Aktion, die ich nur überstand, weil ich nebenher meinen Hometrainer benutzen durfte.
Ganz anders meine Kinder und insbesondere Sarah. Heute weiß ich, dass durch die Begegnung mit Harry Potter ihre Liebe zur Fantasy-Literatur geweckt und die Grundlage für eine unbändige Leselust gelegt wurde. Es vergeht kaum ein Monat, an dem sie mich nicht in eine große Buchhandlung schleppt, um diese kurze Zeit später mit einem Stapel neu erworbener Bücher zu verlassen und – kaum zu Hause angekommen – in diese Welten abzutauchen. Während wir uns in der dritten Klasse noch über ihre unzureichenden Lesefortschritte Sorgen machten, befürchten wir jetzt, dass sie sich zu sehr in der Fantasy-Welt verliert, denn sie ist eine regelrechte Leseratte geworden. Und nicht nur das: Seit einiger Zeit versucht sie, die Fabelwesen zu zeichnen. Sie nimmt an einem Malkurs der Musikschule teil, wobei sie beachtliche Fortschritte macht.
Wie aus potenziellen Schulversagern glückliche Lebensgewinner werden
Eigentlich könnten wir der weiteren Zukunft unserer Kinder ganz entspannt entgegensehen, denn ohne Zweifel sind sie sicher gebunden und auf dem Weg, immer besser zu erkennen, was ihre besonderen Neigungen sind bzw. was ihre innere Berufung ist. Folgt man Ken Robinson, dem englischen Erziehungswissenschaftler, der in seinem Buch »In meinem Element« (2010) Handlungsmuster erfolgreicher Menschen untersucht hat, dann gründet sich ihr Erfolg vor allem darin, dass sie früh die eine Sache erkannt hatten, die sie von Natur aus gut konnten und die sie begeisterte. Die Antwort auf meine Ausgangsfrage lautet also: Ja! Einradfahren oder das Lesen von Fantasy-Literatur sind wichtige Schlüsselerfahrungen – jedenfalls für Sarah und Sophia, aber nicht als Vorschrift oder gar Unterrichtscurriculum auf andere Kinder übertragbar, denn für jedes Kind sind andere Erfahrungen persönlich bedeutsam. Deshalb ist die Normierung von Schule und Unterricht ein Irrweg. Nicht alle sollen das Gleiche lernen, sondern jedes Kind muss die Gelegenheit haben, Erfahrungen zu machen, die seiner spezifischen Neigung entsprechen, und darin gestärkt werden.
Nach Robinson handelt es sich bei solchen Erfahrungen um »Offenbarungsgeschichten« (S. 21), deren Beachtung Eltern und Erziehern dabei hilft, das »spezifische Element« ihres Kindes zu erkennen. Das eigene Element zu entdecken ist von zentraler Bedeutung für die weitere Entwicklung, denn: »Wer in seinem Element ist, hat sein Potenzial erkannt« (S. 21). Darum ist es wichtig, so Robinson, möglichst früh im Leben die Arbeit zu finden, die man als Spiel empfindet, weil sie zu den eigenen Begabungen optimal passt. Nicht äußerste Anstrengung, Überwindung innerer Widerstände und permanenter Druck, wie ihn die chinesischstämmige Tigermutter Amy Chua ihren armen Kindern angedeihen ließ (und deren Methoden zu erregten Erziehungsdebatten führten), sind also der Schlüssel für die Entwicklung von Lernfreude, sondern die Begeisterung für eine selbst gewählte Herausforderung und die Erfahrung von Kompetenzerleben. Die Entdeckung des eigenen Elements – so Robinson – verwandle potenzielle Schulversager in glückliche Lebensgewinner.
Wer aber unterstützt uns darin, unser Potenzial zu entdecken und zu entfalten? Wer schärft unseren Blick für unsere einmaligen Begabungen und Leidenschaften? Oder anders ausgedrückt: Wer hilft uns herauszufinden, wozu wir uns eignen, und bietet uns darüber hinaus Gelegenheit, dies auszuüben? Wer oder welche Institution setzt diese Erfolgsformel von Erziehung und Bildung um? Eigentlich wäre das die Aufgabe der öffentlichen Schule. Doch wie wir sehen werden, ist diese mehr denn je an der Umsetzung äußerlicher Ziele orientiert, die die Politik und Teile der Wirtschaft ihr vorschreiben. Mit ihrer allzu oft auf Selektion abzielenden negativen Pädagogik hat sie zu selten das Potenzial von Kindern im Blick. Diese verengte Orientierung ist ein schwerer Fehler, denn sie trägt nicht nur dazu bei, dass zu wenig Schüler/innen ihre innere Berufung erkennen, sondern schlimmer noch, dass auch zu viele scheitern. Dabei gibt es eine einfache Erfolgsformel, deren Beachtung es ermöglicht, schon früh das eigene Potenzial zu entdecken und gezielt zu entwickeln. Sie beschreibt zugleich den Kern meiner »Positiven Pädagogik« (Burow 2011a), die davon ausgeht, dass wir alle, insbesondere aber unsere Kinder, über kreative Potenziale und Begabungen verfügen, die es zu erschließen gilt. Dies ist kein neuer Gedanke. Mit Robinson stehe ich in einer Tradition, die letztlich auf John Dewey zurückgeht. Schon 1930 hat der große amerikanische Pädagoge den Weg zum »Element«, zum persönlich bedeutsamen Lernen bzw. zur Freisetzung des eigenen Potenzials klar und deutlich auf den Begriff gebracht: »Herauszufinden, wozu man sich eignet, und eine Gelegenheit zu finden, dies zu tun, ist der Schlüssel zum Glücklichsein.«
Diese geniale Erfolgsformel klingt zunächst ziemlich simpel, ist aber – wie meine weiteren Ausführungen zeigen werden – sehr schwer umzusetzen – insbesondere unter den Bedingungen, die die öffentliche Erziehung gegenwärtig charakterisieren. Dies ist aber kein Grund zur Entmutigung. Denn wie ich zeigen werde, gibt es allen Hindernissen zum Trotz »simplexe« Wege, die sich auch für eine dringend anstehende Optimierung öffentlicher Bildungseinrichtungen anbieten. Dafür ist allerdings ein grundlegender Perspektivwechsel notwendig. Während Dewey einen engen Zusammenhang zwischen der Erziehung zur Freiheit und der Entfaltung der eigenen Kreativität sah, orientiert sich die staatlich verordnete Bildung zu sehr an einem konkurrenzgetriebenen Modell ökonomiefixierter Nützlichkeit. Wir alle sind mehr oder minder geprägt von dieser einseitigen Außensteuerung, und nur wenigen ist es gelungen, sich davon zu befreien, etwa indem sie ihre eigene Berufung erkannt haben und ihr gefolgt sind. Leider standen zu viele von uns schon viel zu früh vor verschlossenen Türen, weil uns niemand darin unterstützte, den passenden Schlüssel zu finden. Aber was noch schlimmer ist: Auch viele unserer Kinder wachsen heute unter Bedingungen auf, die ihre Begabungen nicht nur fördern, sondern mitunter viel zu früh zerstören. Hirnforscher wie Gerald Hüther, Gerhard Roth oder Manfred Spitzer haben gezeigt, dass wir alle mit einem Überschuss an Entwicklungsmöglichkeiten auf die Welt kommen. Nur wenn wir die Gelegenheit erhalten, diesen Überschuss zu nutzen, also mit Herausforderungen konfrontiert werden, die zu unseren Möglichkeiten und Neigungen passen, entwickelt sich auch unser Gehirn so, dass wir unserer Potenzial entfalten können. Warum gelingt es so wenigen, den Schlüssel zu finden und ihr Potenzial zu nutzen? Und was können wir tun, damit mehr Kinder, Erwachsene, aber auch Organisationen den Schlüssel zu Kreativität und Potenzialentfaltung finden?
In den nächsten Kapiteln werden Sie Antworten auf diese Fragen finden. Als einen ersten Schritt zur Klärung schlage ich Ihnen eine kleine Übung vor, die ich mittlerweile mit einer Vielzahl von Personen durchgeführt habe.
Kennen Sie Ihr Element?
Überlegen Sie einen Moment:
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Wo liegt meine Begabung?
Wenn Sie an Ihre Grundschulzeit denken: Gab es da etwas, wo es Sie hinzog, was Sie aus eigenem Antrieb gern machten?
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Wie wurde ich gefördert?
Wurden Sie in dieser Hinsicht in der Schule gefördert? Gab es einen Lehrer oder eine Lehrerin, die Ihre Neigung erkannte und Sie darin besonders unterstützte?
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Welche Schule hätte ich gebraucht?
Wie müsste eine Schule aussehen, die es Ihnen ermöglicht hätte, Ihre besondere Begabung bzw. Neigung optimal zu entwickeln?
Die Auswertung dieser kleinen Reflexionsübung, die ich in den letzten Jahren in Gruppen von 20 bis 1 000 Personen, auf Fortbildungen, in Schul- und Organisationsentwicklungswerkstätten, auf Tagungen und Kongressen durchgeführt habe, ergibt ein erschreckendes Bild: In der Regel sagen zwei Drittel der Teilnehmer/innen, dass sie weder erkannt noch gefördert wurden. Manchmal ist der Prozentsatz sogar noch höher. Oft berichten Teilnehmer/innen von frustrierenden Erfahrungen. Sie erkennen, dass sie von ihrem Weg abgekommen sind und ihre frühe Begabung verschüttet wurde. Viel zu wenige wurden erkannt oder gar individuell gefördert, dabei wissen sie, was sie gebraucht hätten. Während unzählige Wissenschaftler der Frage nachgehen, wie eine »gute Schule« aussehen sollte, können die Teilnehmer/innen meines kleinen Experiments diese Frage in verblüffender Übereinstimmung beantworten. Das Nachdenken über den eigenen Bildungsweg und das Erkennen des eigenen Elements geben offenbar Hinweise, wie eine Schule oder Bildungseinrichtung hätte aussehen müssen, die uns alle besser darin unterstützt hätte, unser Potenzial zu entfalten. Es sind Faktoren wie Wertschätzung, Anerkennung und auf die eigenen Neigungen und Fähigkeiten zugespitzte Herausforderungen. Es handelt sich um einige wenige, einfache pädagogische Prinzipien, die in erdrückender Eindeutigkeit von unterschiedlichsten Personengruppen benannt wurden. Die Quintessenz dieser Prinzipien lässt sich in einfachen Formeln verdichten, von denen ich weiter unten einige unter dem Terminus der »magischen drei« zusammenfassen werde.
Wenn Sie zu den Personen gehören, deren besondere Begabung oder Neigung früh von einer Lehrerin erkannt wurde, wenn Sie darin sogar von der Schule gefördert wurden, dann werden Sie vielleicht einwenden, dass ich mit meiner Kritik öffentlicher Bildung überzeichne, denn schließlich haben Sie doch von dem System profitiert. Natürlich gibt es viele Beispiele erfolgreicher Persönlichkeiten, die durch das öffentliche Bildungssystem sehr gut gefördert wurden, und nicht wenige, die aus anregungsarmen sozialen Umgebungen kommen, verdanken der Schule ihren Zugang zu befreiender Bildung. Leider aber hat Schule zu selten diese Wirkung – nicht zuletzt, weil individuumszentrierte Potenzialentfaltung bislang kein übergreifendes Leitziel ist und eher zufällig oder nebenbei geschieht.
Einigen, die das Glück hatten, früh ihr Element zu entdecken und die überdies die Schule als förderliches Umfeld nutzen konnten, mag es sogar gelungen sein, die Entdeckung ihres Elements zur Grundlage eines erfüllenden Berufs zu machen. Doch da dieses Glück bislang zu wenige betrifft, leben zu viele von uns unter ihren Möglichkeiten. Wenige erkennen ihre innere Berufung, wie etwa der Schriftsteller Henning Mankell, der schon sehr früh seinen Drang, Geschichten zu erzählen, verspürte und daraus eine radikale Konsequenz zog: Er verließ mit 15 Jahren gegen den Willen seiner Eltern die Schule – die beste Entscheidung seines Lebens, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. Sein Glück bestand darin, einen erstaunlich verständnisvollen Vater zu haben. In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (vom 3. Februar 2013, S. 31) fragt die Journalistin Bettina Weiguny nach der Reaktion des Vaters: »Er war vermutlich entsetzt, als Sie mit fünfzehn die Schule geschmissen haben?« Mankell antwortet: »Natürlich war er das. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich an der Schule nicht lerne, was ich als Storyteller brauche. Also habe ich eines Januartages zu meinem Vater gesagt: ›Ich habe mich heute von der Schule verabschiedet und fahre nach Paris.‹ Er hat daraufhin getobt, dann entsetzt geschwiegen, sehr lange, und schließlich gesagt: ›Gut, wenn es das ist, was du tun musst, unterstütze ich das.‹ Dafür war ich ihm immer dankbar.« – »Warum Paris?« – »Alle wollten in den 60er-Jahren nach Paris. Das musste man machen, wenn man jung und wild war und schreiben wollte. Die Stadt war für uns, was Berlin für die Kreativen aus aller Welt heute ist.«
Eine derart radikale Entscheidung ist natürlich riskant, doch für viele begabte Schüler erweist es sich als riskanter, ihre Zeit mit Unterricht zu vergeuden, der sie nicht erreicht. Damit sich ihr Talent entfaltet, benötigen sie eine passende Umgebung. Solange die Schule an der nivellierenden Logik der Massenproduktion festhält, ist sie für viele Schüler/innen ein ungeeignetes Umfeld, und da mag eine solche Entscheidung unausweichlich sein. Viel besser wäre es aber, wenn wir Schulen entwickelten, die – statt ein normiertes Standardcurriculum abzuarbeiten – Schüler/innen nicht nur darin unterstützen, ihr Element zu erkennen, sondern auch darauf zugeschnittene Angebote bereitstellen. Nur so können wir dringend benötigte kreative Potenziale nutzen und zugleich für Lernfreude, Begeisterung und bisweilen sogar »Schulglück« (Burow 2011a) sorgen.
Doch auch für die Mehrzahl derjenigen, die nicht das Glück hatten, so früh ihr Element zu erkennen und darin gefördert zu werden, ist es nicht zu spät. Denn selbst im mittleren Lebensalter ist es noch möglich – wenn auch unter größeren Mühen –, sich umzuorientieren – etwa wenn man entdeckt, dass man einen Beruf gewählt hat, der schlecht zu den eigenen Neigungen und Begabungen passt. Der ehemalige Arzt und jetzige Glücks-Entertainer, Ekkehard von Hirschhausen, beschreibt in einem dreieinhalbminütigen Video (http://www.youtube.com/watch?v=Az7lJfNiSAs), wie er zu dieser Erkenntnis kam und daraus erfolgreich Konsequenzen zog. Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie dieses Video jetzt aufrufen, denn Hirschhausen gelingt es sehr überzeugend, die Entdeckung des Elements für einen erfolgreichen Lebens- und Berufsweg deutlich zu machen. Er beschreibt dies sehr eindrücklich anhand des »Pinguin-Prinzips«. Wenn man den Pinguin mit seinen unbeholfenen Bewegungen an Land betrachtet, erscheint er als Fehlkonstruktion der Natur. Sobald man ihn aber in seinem Element, dem Wasser, beobachtet, ist man fasziniert von seinen Fähigkeiten. Hirschhausens Botschaft: Wer sein Element entdeckt hat und sich in der passenden Umgebung bewegt, ist zu Höchstleistungen in der Lage. Hirschhausens Video liefert ein tieferes Verständnis dafür, warum es so wichtig ist, Heranwachsende dazu zu befähigen, möglichst früh ihre Begabungen zu erkennen, und für herausfordernde Umgebungen zu sorgen, die darauf zugeschnitten sind.
Leider ist diese zielgerichtete frühe Förderung noch immer die Ausnahme, und gerade bei herausragenden Persönlichkeiten gibt es eine Vielzahl von Beispielen, in denen Begabungen von der Schule weder erkannt noch gefördert wurden. Ja, allzu oft spielten andere Instanzen eine sehr viel wichtigere Rolle. Die Entdeckung und Förderung von Begabungen scheinen oftmals außerhalb der Schule besser zu gelingen. Robinson nennt eine Vielzahl herausragender Persönlichkeiten, auf die diese Erfahrung zutrifft. Personen wie Pablo Picasso, dessen Vater die ersten Kritzeleien seines Sohnes bewunderte und sammelte, hatten das Glück, schon früh Beachtung zu finden. Diese wichtige Rolle als »Elemententdecker« und Ermutiger können Großeltern, Eltern, Lehrer, Freunde oder andere Personen in unserem sozialen Umfeld einnehmen. Doch die Frage ist, warum so selten Lehrer und die Schule dabei vertreten sind.
Ironischerweise habe ich die Übung zur Analyse früher Neigungen mittlerweile auch mit Hunderten von Lehrern durchgeführt. Die Auswertung der Rückmeldungen ergab eine erstaunliche Bilanz: In der Regel geben auch hier etwa zwei Drittel der befragten Pädagogen an, dass sie weder erkannt noch gefördert wurden. Ein großer Teil der Lehrer ist also selbst Opfer eines Systems geworden, das sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert darauf konzentriert, große Massen durch ein uniformes, zunehmend normiertes und standardisiertes System zu schleusen und dabei den Blick für den Einzelnen und seine Bedürfnisse verloren hat. Die Frage ist: Wenn viele Lehrer selbst von der Missachtung ihrer frühen Neigungen betroffen waren, warum verändern sie dann nicht eine schulische Praxis, die sie selbst geschädigt hat? Warum machen sie ihre Schule so selten zu einem Ort kreativer Potenzialentfaltung und passen sich stattdessen in ein uniformes System des Nachlernens und Reproduzierens alter Lösungen ein?
Freilich wäre es unfair, den Lehrern allein die Schuld zu geben. Sie sind selbst Teil eines schwer veränderbaren traditionsgebundenen Systems, das es zu überwinden gilt. Pädagogik 2.0 bestimmt nach wie vor ihr Handeln, also die traditionelle Art des Schulemachens, die sich – wie wir weiter unten sehen werden – in ihren Grundzügen seit über 150 Jahren erstaunlich wenig verändert hat. Der erste Schritt, dieses starre System zu ändern und zu einer zeitgemäßen Pädagogik vorzudringen, besteht erstaunlicherweise nicht im Blick nach vorn, auf mögliche Zukünfte, sondern im Blick zurück auf Situationen, in denen wir erfolgreich gelernt haben. Unsere eigenen, frühen Erfahrungen unverschulten Lernens und kreativer Entdeckerfreude, die ich als Pädagogik 1.0 bezeichne – und die wir bei Sophias Einradfaszination sowie bei Sarahs Fantasy-Begeisterung exemplarisch kennengelernt haben –, weisen uns den Weg, den wir gehen müssen, um Pädagogik 2.0 zu überwinden und eine zeitgemäße, zukunftsfähige Pädagogik – Pädagogik 3.0 – zu entwickeln.
Den entscheidenden Ausgangspunkt bildet der Blick nach innen, auf unsere grundlegenden Bedürfnisse und unsere eigene Lerngeschichte. Wir alle verfügen mit der Aufarbeitung unserer eigenen Lernerfahrungen bzw. unserer Bildungsbiografie über einen Schatz, der den Zugang zu unserem »pädagogischen Tiefenwissen« eröffnet. Die Herausarbeitung dieses übersehenen und unterschätzten Wissens öffnet den Blick für ein Lernen in Freiheit und ermöglicht die Rückkehr zu unserer verschütteten Kreativität. Wie ich zeigen werde, liegt eine der zentralen Ursachen für die Fehlentwicklung unseres Bildungssystems darin, dass wir uns zu sehr von Außensteuerung leiten lassen und zu wenig unseren Sinnen vertrauen.
Wie Lernlust und Kreativität entstehen
Bildungslust statt Bildungspanik
Nach nunmehr über vierzigjähriger Tätigkeit in der Pädagogik frage ich mich manchmal, warum ich ausgerechnet diesen unmöglichen Beruf ergriffen habe. Es ist ein Beruf, der einen bisweilen verzweifeln lässt, angesichts der vergleichsweise geringen Fortschritte oder sogar Rückschritte, die das öffentliche Bildungssystem in den letzten Jahrzehnten charakterisieren. So bestehen fast alle Kritikpunkte, die wir in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts als junge Lehramtsstudierende formuliert haben (Burow/Scherpp 1981), noch heute – trotz einer massiven Ausweitung von Forschungen, die – wie z. B. weite Teile der Hirnforschung – unsere Thesen von vor über dreißig Jahren bestätigen. »Normiert, verplant, verkopft« – so lautete, als frischgebackene Berliner Lehrer, der Untertitel unserer Kritik am öffentlichen Schulsystem, in deren Zentrum unsere Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung von Schülerinteressen und vor allem einer Ausweitung persönlich bedeutsamen Lernens stand. Ob es sich um die fragwürdige Praxis der Benotung von Schülerleistungen anhand wenig aussagekräftiger Ziffernzensuren handelt, die dysfunktionale Sortierung von Schülern nach Alterskohorten – ungeachtet ihrer unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen –, die Aussonderung von Kindern mit besonderem Förderbedarf oder die unverantwortliche Praxis des Sitzenbleibens, die diskriminierende Aufteilung von Schülern vor allem nach sozialer und kultureller Herkunft in einem ständisch gegliederten Selektionssystem und vieles mehr – die erstarrte Grammatik der traditionellen Schule dient weder der optimalen Förderung aller Schüler/innen noch wird sie den Anforderungen einer dynamischen, globalisierten Wissensgesellschaft gerecht. Umso wichtiger ist es, diese Fehlentwicklungen zu benennen und Lehrer, Schüler und Eltern dazu zu ermutigen, ihrer inneren Stimme zu folgen.
Wenn ich die pointierte Kurzanalyse der eigenen Lerngeschichte (»Von wem wurde ich erkannt und gefördert?«) mit einem großen Auditorium durchgeführt habe und bisweilen ergreifende Geschichten höre, von Leuten, denen bewusst wird, wie wenig sie erkannt und anerkannt wurden, welchen selbstentfremdenden Anpassungszwängen sie unterworfen wurden, was sie aufgegeben haben, welche Entwicklungsmöglichkeiten ungenutzt blieben oder sogar abgeschnitten wurden, dann weiß ich, was mich treibt: Wir brauchen eine grundlegend andere Pädagogik; eine Pädagogik, die die psychischen Bedürfnisse und kreativen Potenziale aller Kinder und insbesondere der viel zu früh ausgegrenzten und abgeschnittenen berücksichtigt.
Das gegenwärtige System produziert nicht von ungefähr Bildungspanik, so die Quintessenz einer aktuellen Untersuchung meines Kasseler Kollegen Heinz Bude (2011). Eltern befürchten zu Recht, dass ihre Kinder den Anforderungen nicht genügen und zu wenig individuell gefördert werden. Und dies ist nicht nur eine Behauptung. Wie der gerade veröffentlichte »Chancenspiegel« (2012) der Bertelsmann Stiftung zeigt, werden in Deutschland noch immer zu viele Kinder abgestuft statt gefördert – und dies in einer willkürlichen Praxis, die von Bundesland zu Bundesland differiert. Eltern und ihre Zöglinge sind diesem System ausgeliefert und sehen sich gezwungen, ihre Kinder mit Nachhilfekursen und Zwangsmaßnahmen darauf zu trimmen, sich den geforderten Leistungen zu unterwerfen – nicht zuletzt, um permanent drohender Abstufung zu entgehen. Doch Ängste vor sozialem Abstieg und Ausgrenzung sind schlechte Ratgeber. Sie erzeugen zu viel Stress, Frustration und bisweilen sogar Krankheit. An die Stelle von Lernlust treten allzu oft Schulfrust und Lernverweigerung. Die Schule verfehlt so ihre eigentliche Aufgabe. Im Zentrum einer neuen, zeitgemäßen Positiven Pädagogik muss ganz im Gegenteil die Bildungslust stehen, die durch die Berücksichtigung der Neigungen der Kinder sowie die Freisetzung von Lernlust und Kreativität entsteht.
Auch diese Einsicht ist nicht neu, und die Geschichte der Pädagogik zeigt, dass es neben dem offiziellem System schon immer engagierte Pädagogen gab, die nach Wegen personenzentrierten Lehrens und Lernens suchten. Einige von ihnen, wie etwa Maria Montessori oder Célestin Freinet, beeinflussen bis heute reformorientierte Lehrer/innen. Daneben gibt es aber auch eine Reihe engagierter Einzelkämpfer, über deren Wirken man eher durch Zufall erfährt. Während meiner Schulzeit in den 1960er-Jahren an einem konservativen Gymnasium in einer Kleinstadt Baden-Württembergs hatte ich das Glück, auf einen solchen Pädagogen zu stoßen, der selbst unter den Bedingungen einer in Traditionen erstarrten Schule die Fähigkeit besaß, Freiräume zu schaffen, in denen wir in der Gemeinschaft unserer Mitschüler unser Element entdecken konnten. Wie gelang es ihm, unsere Lern- und Gestaltungslust freizusetzen?
Das Lerncamp als unterschätzter Lern- und Erfahrungsraum
Unser Religionslehrer, der Pastor Wolfer, veranstaltete in den Schulferien mehrwöchige Sommercamps in einem kleinen Dorf in der rätoromanischen Schweiz. Mit seinem Kollegen, dem Theologieprofessor Steinle, führte er religionsphilosophische Diskurse, denen wir Pubertierenden nur begrenzt folgen konnten, die uns aber ob ihrer Ernsthaftigkeit beeindruckten. Doch über die theologischen Dispute hinaus war es unsere Aufgabe, den Tagesablauf kreativ zu gestalten. Unsere Aktivitäten umfassten von der Erarbeitung, Einübung und Aufführung eines Theaterstücks für die Dorfbewohner, der Gestaltung bunter Abende über die Herstellung einer Campzeitung und die Gründung einer Band ein breites Spektrum weitgehend selbstgesteuerter kreativer Tätigkeiten, die man heute unter dem Terminus »kulturelle Bildung« (Fuchs 2008) fassen würde – ein Bereich, der im Gefolge von PISA durch die Konzentration auf einige wenige Kernfächer sträflichst vernachlässigt wird.
Hier ging es nicht darum, Credit Points oder abfragbares Wissen entlang einem vorgegebenen Curriculum zu sammeln, sondern sich selbst an verschiedenen Herausforderungen in der Gemeinschaft zu erproben und Gestaltungslust zu erfahren. Wie wir 28 Jahre später auf einem Abituriententreffen feststellen konnten, erfuhren die meisten von uns diese Sommercamps als bedeutsamste und wirkungsvollste Erfahrung ihrer gesamten Schulzeit, und nicht wenige, wie ich selbst, entdeckten dort ihr Element. So gründeten wir als ein Ergebnis dieser Freizeiten eine professionelle Schülerzeitung, die modernste Gestaltungs- und Satztechniken benutzte, von denen die Mehrzahl unserer Lehrer keine Kenntnis hatte und die wir uns selbst aneigneten. Eine Schulband, ein philosophischer Diskussionszirkel und vieles mehr schufen Ausdrucks- und Erprobungsmöglichkeiten für unsere erwachenden Leidenschaften, wohingegen sich das offizielle Unterrichtsprogramm so gut wie gar nicht auf unsere Interessen einstellte. Ja, als wir uns über unsere Lern- und Berufswege austauschten, stellten wir fest, dass wir – die wir bezogen auf unsere Schulnoten eher mittelmäßige Schüler waren – in diesen Freizeiten die entscheidenden Schlüsselkompetenzen für unseren späteren Berufserfolg erworben hatten: Von einer Werbeagentur über eine Firma für Beschallungsanlagen für Rockkonzerte, einem Pädagogik- und einem Musikprofessor bis hin zum Gründer eines alternativen Kinderheims, dem Marketingleiter einer großen Versicherung sowie dem Partner einer internationalen Unternehmensberatung reichten die Branchen und die entsprechenden Tätigkeiten, die natürlich nicht auf diese Freizeiten allein zurückzuführen sind. Doch wurde hier, anders als im öden Frontal- und Paukunterricht, der Keim gelegt, weil wir ganz im Sinne persönlich bedeutsamen Lernens – im Sinne von Ken Robinsons Konzept des Elements und John Deweys Erfolgsformel – die Möglichkeit hatten, herauszufinden, wozu wir uns eignen, und darüber hinaus die Gelegenheit erfuhren, diese persönliche Eignung auch in selbst gewählten, ernsthaften und zum Teil folgenreichen Aktivitäten in kreativer Gemeinschaft zu erproben.
Dass offene Lerncamps erstaunliche Möglichkeiten für effektives und intensives Lernen eröffnen, hat inzwischen auch die Forschung festgestellt. So entsprach der Lernzuwachs von Migrantenkindern in dreiwöchigen Lerncamps, die von der Jacobs-Stiftung in Bremen zur Sprachförderung veranstaltet wurden, zur Überraschung der Forscher einem Schuljahr. Zusätzlich zu täglich zwei Stunden Sprachunterricht spielten und tobten die Kinder im Gelände, bastelten und bauten, machten Ausflüge und probten ein Theaterstück ein. Der Filmemacher Reinhard Kahl hat dieses faszinierende Projekt dokumentiert (www.archiv-der-zukunft.de). In seinem Film stellt er die naheliegende Frage: Ein Lernzuwachs von einem Schuljahr in drei Wochen – wie ist das möglich?
Unterricht wird überschätzt
Große Teile der empirischen Bildungsforschung konzentrieren sich schon seit Jahren darauf, herauszufinden, was »guten Unterricht« ausmacht. Aufgrund der elaborierten Forschungslogik wird daraus ein kompliziertes Unternehmen, das häufig – anstatt eindeutige Klärung zu bringen – immer mehr Fragen aufwirft. Bei den dürftigen und oft widersprüchlichen Ergebnissen, die diese Art detailverliebte Forschung liefert, entsteht der Eindruck, wir tappten im Nebel, als handele es sich um ein nur schwer zu entschlüsselndes Geheimnis. Doch ist dies wahr? Wissen wir, die wir Tausende von Schulstunden erlebt und zu einem großen Teil auch erlitten haben, wirklich nicht, was guten Unterricht ausmacht? Jeder, der sich mit dieser Frage auseinandersetzt und seine eigenen Schulerfahrungen kritisch reflektiert, wird zur gegenteiligen Auffassung kommen. Die nähere Betrachtung zeigt, dass die spezialistisch verengte und fragmentierte Forschung einen Popanz aufbaut. Die Befragung einer gut gemischten Gruppe von Lehrern, Schülern und Eltern fördert regelmäßig einige wenige, verallgemeinerbare und höchst wirksame Prinzipien zutage und beweist: Wir alle wissen, was »guten Unterricht« ausmacht.
Doch die Umsetzung dieses unterrichtsbezogenen Wissens aufgrund der Analyse eigener Erfahrungen mit förderlichen Lernsituationen ist nur ein Teil der Lösung, denn der springende Punkt ist, dass die Bedeutung von Unterricht überschätzt wird. In der überkommenen Tradition der Belehrungsschule haben wir unseren Blick einseitig auf einen spezifischen Typ von Unterricht verengt, der noch immer allzu oft in schlecht ausgestatteten, anregungsarmen Klassenräumen stattfindet – und das weltweit! Besonders eindrücklich belegt dies der Bildband des Fotografen Julian Germain (2012), der Klassenzimmer auf der ganzen Welt fotografiert hat. Wer seine »Classroom Portraits« – so der Titel seiner Dokumentation – betrachtet, ist erschreckt über die monotonen, gleichgeschalteten Lehr-Lern-Umgebungen, die die tradierte Schule noch immer charakterisieren. Mithilfe komplexer Didaktikmodelle versuchen Pädagogen, die Kosten, die das Abschneiden natürlicher Lernwege und spontaner Interessenbildung verursachen, durch ausgefeilte, tayloristisch anmutende Unterrichtsplanungen auszugleichen. Doch dieses künstliche Vorgehen funktioniert oft nur in den Vorführstunden, die angehende Lehrer/innen während ihrer Ausbildung unter Prüfungsbedingungen durchführen müssen. Der Terminus »Vorführstunde« zeigt, dass es sich hier um eine Ausnahmesituation handelt, denn alle wissen, dass leidenschaftliches, bedeutungsvolles und engagiertes Lernen anders funktioniert.
Wir brauchen eine Rückbesinnung auf Pädagogik 1.0
Die Rückbesinnung auf Pädagogik 1.0, also die Untersuchung der Frage, wie wir in unverschulten, informellen, anregungsreichen Umgebungen, quasi »natürlichen« Räumen außerhalb von Bildungsinstitutionen lernen, zeigt, dass systematischer Unterricht nur einen sehr kleinen Teil unseres Lernens bestimmt. Dieser Teil des systematischen, zudem einseitig kognitiv-akademisch orientierten Lehrens ist zwar wichtig und hat zu großen Fortschritten beigetragen. Doch er nimmt einen zu großen Raum ein und vernachlässigt wichtige Dimensionen des Lernens, was sich auch darin zeigt, dass wir große Teile des auf diese Weise erworbenen Wissens schon nach wenigen Jahren vergessen haben. Statt immer weiter an einer Optimierung des traditionellen Unterrichtssettings zu arbeiten, sollten wir den Mut haben, neue Wege zu gehen – etwa indem wir, wie es innovative Hightech-Unternehmen bereits mit Erfolg machen, bis zu 20 Prozent der Unterrichtszeit für freie, selbstbestimmte Projekte von Schüler/innen und Lehrer/innen zur Verfügung stellen, die auch außerhalb der Bildungseinrichtungen stattfinden sollten. Wie komme ich zu dieser kühnen These, die vielem widerspricht, worauf empirische Bildungsforscher und die ihnen folgende Politik setzen?
Lernen, das lehren uns Hirnforscher wie Hüther, Roth oder Spitzer übereinstimmend, ist ein lustvoll besetztes menschliches Grundbedürfnis. Man kann gar nicht verhindern, dass wir lernen. Und Forschungen zum informellen Lernen (Overwien 2007) kommen zu dem Ergebnis, dass bis zu 70 Prozent dessen, was wir lernen, in nicht didaktisierten, außerschulischen Feldern, also in der Lebenswelt erworben werden. Wenn dem so ist, warum fragt sich dann niemand, weshalb viele Kinder, die bis zu ihrem sechsten Lebensjahr fast alles ohne systematische, didaktisch aufbereitete Unterrichtung gelernt haben, ausgerechnet in einer Institution, die fürs Lernen und damit die Lernlust gemacht ist, so viel Schwierigkeiten haben?
Schulen müssen zu Lustanstalten werden!
Schule – eine Lustanstalt? Diese Zielvorstellung wird den meisten von uns abseitig vorkommen, assoziieren wir doch mit Schule anstrengendes Lernen, das man bisweilen nur mit zusammengebissenen Zähnen, Druck und äußerlichen Belohnungen meistern kann. Da ist für Lust wenig Platz. Und doch trifft meine Forderung den Kern, wollen wir nicht nur oberflächliches Lernen fördern, sondern für nachhaltig wirksame, persönlichkeitsstärkende Bildungsprozesse sorgen. Jedenfalls deuten unsere eigenen Erfahrungen und die Ergebnisse der Hirnforschung darauf hin, dass die Förderung unserer Lern- bzw. Bildungslust durch den Aufbau positiver Beziehungen zu Personen und Lerngegenständen der entscheidende Schlüssel ist. »Begeisterung«, sagt Gerald Hüther, »ist Dünger fürs Gehirn.« Wenn unsere Schulen erfolgreich sein und Schüler/innen hervorbringen wollen, die wissen, was ihr Element ist, worin ihre besondere Befähigung besteht, die sie leidenschaftlich aus innerem Antrieb verfolgen, dann müssen sie Lernfreude vermitteln und gewissermaßen zu Lustanstalten werden. Ein Grund dafür, dass Schulen zurzeit für viele Schüler/innen eher Frustanstalten sind, in denen sie mit Fremdwissen überhäuft und sich selbst entfremdet werden, liegt, wie wir sehen werden, ausgerechnet am Unterricht – oder besser: an der traditionellen Form und Organisation eines entpersönlichten schulischen Lehrens und Lernens.
Besser lernen ohne Schulbesuch?