Über das Buch
Chinas Aufstieg zur Weltmacht ist unaufhaltsam. Lange erwartete man, dass sich das Land mit zunehmendem Wohlstand demokratisieren würde. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Kommunistische Partei Chinas hält sich mit allen Mitteln an der Macht. Die politische Führung bringt Wirtschaft und Gesellschaft im eigenen Land auf Linie und hat ein weitreichendes Programm entwickelt, mit dem China die westlichen Demokratien unterwandert und eine neue Weltordnung etablieren will. Dabei setzt die Kommunistische Partei nicht nur ihre Wirtschaftsmacht als Waffe ein, sondern ein breites politisches Instrumentarium. Wie vielfältig der chinesische Einfluss auch bei uns bereits ist, zeigen die beiden Autoren an zahlreichen Beispielen – ein Anstoß zu einer dringend notwendigen Debatte: Wie soll Deutschland, wie Europa mit der neuen Weltmacht China umgehen?
Über die Autoren
CLIVE HAMILTON ist Professor für Öffentliche Ethik an der Universität von Canberra und Autor zahlreicher Bücher. Drei Verlage lehnten es aus Angst vor chinesischen Repressionen ab, sein Buch Silent Invasion. China’s Influence in Australia zu veröffentlichen. Nach Erscheinen wurde das Buch zum Bestseller, der die Politik Australiens gegenüber China veränderte und Hamilton zum weltweit gefragten Experten für Chinas außenpolitische Ambitionen und Strategien machte.
MAREIKE OHLBERG war bis Ende April 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin. Nach dem Studium der Ostasienwissenschaften an der Universität Heidelberg und der Columbia University promovierte Ohlberg über Chinas Außenpropaganda nach 1978. Ohlberg ist eine der profiliertesten deutschsprachigen Chinaexpertinnen, zu ihren Forschungsthemen hält sie zahlreiche Vorträge und veröffentlicht neben Fachartikeln u. a. auch in der New York Times und der Neuen Zürcher Zeitung. Sie ist Senior Fellow im Asien-Programm des German Marshall Fund.
Vorwort
1 EIN ÜBERBLICK ÜBER DIE BESTREBUNGEN DER KPCH
2 EINE LENINISTISCHE PARTEI ZIEHT IN DIE WELT HINAUS
Die KPCh sieht sich in einem Kalten Krieg
»Groß angelegte Außenpropaganda«
Die Partei herrscht
Die Einheitsfront
Mehrfache Identitäten und doppelte Firmenschilder
Das Volk, seine Freunde und seine Feinde
Fünf-Prozent-Regel und stille Diplomatie
Prinzipien des Vorgehens der KPCh
3 POLITISCHE ELITEN IM ZENTRUM: NORDAMERIKA
Freunde finden
Der traurige Fall von John McCallum
Einflussnahme in Washington
Das Weiße Haus
Die Abteilung für Feindarbeit
Kanadas Beijing-Elite
4 POLITISCHE ELITEN IM ZENTRUM: EUROPA
Diplomatie zwischen Parteien
Die Bearbeitung Europas
Die EU-China-Freundschaftsgruppe
Der britische 48 Group Club
Die Bekehrung Italiens
Die Verwicklung der französischen Elite
Chinas Freunde in Deutschland
5 POLITISCHE ELITEN IN DER PERIPHERIE
Beeinflussungsarbeit auf subnationaler Ebene
Der kuriose Fall von Muscatine
Formbare Bürgermeister
Unterstützung für die »Neue Seidenstraße« in der deutschen »Peripherie«
Städtepartnerschaften
6 DAS WIRTSCHAFTSKONGLOMERAT DER PARTEI
Die Partei und die Unternehmen
Genosse Milliardär
Amerikas »globalistische Milliardäre«
Die Prinzlinge der Wall Street
Die KPCh in der Londoner City
Wie die Wahrnehmung der Wirtschaftslage geformt wird
Yi shang bi zheng: Die Wirtschaft einsetzen, um die Regierung unter Druck zu setzen
Die Seidenstraßenstrategie
Die Seidenstraßen-Initiative als Instrument der Diskurssteuerung
7 DIE MOBILISIERUNG DER CHINESISCHEN DIASPORA
Qiaowu: Personen chinesischer Herkunft als Ziel der Einheitsfrontarbeit
Die Einheitsfront: Modus operandi und Strukturen
Einschüchterung und Schikane
Huaren canzheng
Huaren canzheng in Großbritannien
8 DIE ÖKOLOGIE DER SPIONAGE
Beeinflussen und spionieren
Die chinesischen Geheimdienste
Rekrutierungsmethoden
Think Tanks und Forschungseinrichtungen
»Tausend Talente«
Berufsverbände
Wissenschaftler der Volksbefreiungsarmee an westlichen Universitäten
Cyberattacken und Beeinflussungsoperationen
Der Fall Huawei
9 MEDIEN: »UNSER NACHNAME IST PARTEI«
Der Mediendiskurs
Die Partei steht über allem
Eine Medienweltmacht
Westliche Experten übernehmen die Feinabstimmung der KPCh-Propaganda
Die »Große Firewall« überwinden
Boote borgen
Kooperationsvereinbarungen
Chinesischsprachige Medien
Boote kaufen
Selbstzensur ausländischer Medien
10 DIE KULTUR ALS SCHLACHTFELD
Politische Kultur
Poly Culture
Die China Arts Foundation
Kulturelle Monopolisierung
Die Unterdrückung von kultureller Abweichung
Film- und Theaterzensoren
Das »marxistische Verständnis von Kunst und Kultur«
11 DENKFABRIKEN UND MEINUNGSFÜHRER
»Das Essen der KPCh genießen«
Die Hongkong-Connection
Das Geld des Parteistaats wirkt in Brüssel
Andere Formen des Drucks
Meinungsmacher
Die Expansion der Partei-Denkfabriken im Inland
12 GEDANKENMANAGEMENT: DER EINFLUSS DER KPCH AUF DIE WESTLICHE AKADEMISCHE WELT
Die Universitäten als politisches Schlachtfeld
Konfuzius-Institute
Direkter Druck
Selbstzensur
Finanzielle Abhängigkeit
Die Umgestaltung der China-Forschung
Universitätskooperation
Akademische Publikationen
13 DER UMBAU DER GLOBALEN ORDNUNG
Der »Vorreiter des Multilateralismus«
Die Sinisierung der Vereinten Nationen
Die Verdrängung Taiwans von der internationalen Bühne
Die Globalisierung des Polizeistaats
Der Export der chinesischen Definition von »Terrorismus«
Der Aufbau paralleler und pseudo-multilateraler Organisationen
Menschenrechte mit chinesischen Charakteristika
Der Export von »Internetsouveränität« und Standards für neue Technologien
NACHWORT
DANK
GLOSSAR
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
ANMERKUNGEN
Die beruhigende Vorstellung, die demokratischen Freiheitsrechte hätten die Geschichte auf ihrer Seite und würden sich am Ende überall durchsetzen, ist stets von Wunschdenken gefärbt gewesen. Die weltweiten Entwicklungen in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten haben gezeigt, dass wir diese Freiheiten nicht länger als selbstverständlich betrachten können. Die universellen Menschenrechte, die demokratische Entscheidungsfindung und die Rechtsstaatlichkeit haben mächtige Feinde, und der vermutlich bedrohlichste dieser Feinde ist China unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Die KPCh verfolgt ein ambitioniertes, gut geplantes Programm zur weltweiten Einflussnahme und Einmischung und kann gewaltige wirtschaftliche und technologische Ressourcen einsetzen, um ihr Vorhaben zu verwirklichen. Tatsächlich sind die groß angelegte Kampagne zur Unterwanderung der Institutionen in westlichen Staaten und die Versuche, die Eliten dieser Länder an China zu binden, sehr viel weiter fortgeschritten, als die Parteiführung selbst erwartet haben dürfte.
Die demokratischen Institutionen und die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete internationale Ordnung haben sich als überraschend zerbrechlich erwiesen und sind verwundbar durch die neuen Waffen der politischen Kriegführung, die heute gegen sie eingesetzt werden. Die Kommunistische Partei Chinas nutzt gezielt die Schwächen der demokratischen Systeme, um diese zu untergraben. Im Westen sträuben sich viele gegen dieses Eingeständnis, aber die Demokratien müssen dringend ihre Widerstandskraft erhöhen, wenn sie überleben wollen.
Die von der KPCh ausgehende Bedrohung wirkt sich auf das Recht aller Menschen aus, ein Leben ohne Furcht zu führen. Viele Chinesen in westlichen Ländern sowie Tibeter, Uiguren, Anhänger von Falun Gong und Demokratieaktivisten in Hongkong sind bereits heute den Repressionsmaßnahmen des chinesischen Regimes direkt ausgesetzt und führen ein Leben in ständiger Angst. Regierungen, akademische Einrichtungen und Manager fürchten sich vor finanziellen Repressalien, sollten sie das Regime in Beijing verärgern. Diese Furcht ist ansteckend und wirkt zersetzend. Sie darf nicht zu dem normalen Preis werden, den Länder für ihren Wohlstand bezahlen müssen.
Betroffen sind sämtliche westlichen Demokratien. Durch den nur halbherzigen Widerstand ermutigt, setzt das chinesische Regime die Taktiken von Zwang und Einschüchterung gegen eine wachsende Zahl von Gruppen ein. Selbst für jene, die die harte Hand der KPCh nicht direkt fühlen, ändert sich die Welt, weil China seine autoritären Normen überall auf den Globus exportiert.
Wenn sich in westlichen Ländern Verleger, Filmemacher und Theaterdirektoren entschließen, Äußerungen zu zensieren, weil diese »die Gefühle des chinesischen Volkes verletzen« könnten, wird die Meinungsfreiheit unterdrückt. Wenn ein Tweet Beijing missfällt, kann das eine Person ihren Arbeitsplatz kosten. Wenn Universitätsverwaltungen Lehrkräfte drängen, sich mit Kritik an der KPCh zurückzuhalten, oder Vorträge des Dalai Lama auf ihrem Campus unterbinden, wird die Freiheit von Forschung und Lehre untergraben. Wenn buddhistische Organisationen Xi Jinping Treue geloben und in Kirchengemeinden Spione des chinesischen Regimes platziert werden, ist die Religionsfreiheit bedroht. Der wuchernde chinesische Überwachungsstaat, zu dessen Maßnahmen auch das Eindringen in die Privatsphäre im virtuellen Raum und der Einsatz chinesischer Bürger zählen, die bei legalen Kundgebungen die Teilnehmer filmen, verletzt massiv die persönlichen Freiheitsrechte. Die Demokratie selbst wird attackiert, wenn mit der KPCh verbundene Organisationen und Strohmänner der Partei politische Repräsentanten in anderen Ländern korrumpieren und wenn Beijing einflussreiche Wirtschaftslobbys in anderen Ländern einsetzt, um seine Ziele zu erreichen.
Das Was, Warum und Wie der von der KPCh praktizierten Einflussnahme, Einmischung und Subversion in Nordamerika und Westeuropa (im Folgenden meist als »der Westen« bezeichnet) ist Thema dieses Buches. Die Aktivitäten des chinesischen Regimes in Australien (die in Silent Invasion genau beschrieben sind) und Neuseeland werden gelegentlich erwähnt. Es ist jedoch wichtig, dass wir uns bewusst machen, worin das eigentliche Ziel der KPCh besteht: Sie will die gesamte Welt neu ordnen, und während ihr Vorgehen in verschiedenen Weltregionen unterschiedliche Formen annimmt, hat die Erfahrung des Westens große Ähnlichkeit mit der von Ländern rund um den Erdball. Es gibt kaum ein Land, das nicht Ziel groß angelegter Offensiven ist, von Samoa bis zu Ecuador, von den Malediven bis zu Botsuana. Der Einfluss der KPCh im Globalen Süden bedarf dringend einer genauen Analyse und öffentlichen Diskussion, aber das würde den Rahmen dieses Buches sprengen.
Die KPCh setzt alles daran, die chinesische Bevölkerung und die Menschen in aller Welt davon zu überzeugen, dass sie für das gesamte chinesische Volk spricht. Sie nimmt für sich die Deutungshoheit in Bezug auf sämtliche Aspekte des chinesischen Lebens in Anspruch und beharrt darauf, dass Chinesen, wo immer sie leben und wer immer sie sind, ihr Land nur lieben können, wenn sie die Partei lieben. Sie behauptet, dass die Partei das Volk ist; folglich ist jede Kritik an der Partei ein Angriff auf das chinesische Volk.
Es ist irritierend, dass so viele Menschen im Westen darauf hereinfallen und jene, die das in China herrschende Regime kritisieren, als Rassisten oder Chinahasser abstempeln. Indem sie das tun, verteidigen sie nicht das chinesische Volk, sondern bringen jene Chinesen, die das Regime der KPCh ablehnen, sowie die von diesem Regime verfolgten ethnischen Minderheiten zum Schweigen oder drängen sie an den Rand. Im schlimmsten Fall werden diese Personen sogar selbst zu Erfüllungsgehilfen der Partei. In diesem Buch unterscheiden wir daher ausdrücklich zwischen der Kommunistischen Partei Chinas und dem chinesischen Volk. Wenn wir das Wort »China« verwenden, bezeichnen wir damit die von der KPCh beherrschte politische Einheit, so wie jemand sagen würde, dass »Kanada«, also die kanadische Regierung, für eine in den Vereinten Nationen eingebrachte Resolution gestimmt hat.
Die Gleichsetzung von Partei, Nation und Volk führt zu einer Vielzahl von Missverständnissen, und genau das ist die Absicht der KPCh. Das hat unter anderem zur Folge, dass chinesischstämmige Gemeinden im Ausland von manchen als Feind betrachtet werden, obwohl oft gerade sie Opfer der KPCh sind, wie wir sehen werden. Sie sind oft sehr gut über die Aktivitäten der Partei im Ausland informiert, und viele von ihnen wollen dazu beitragen, den Einfluss der KPCh zurückzudrängen.
Die Unterscheidung zwischen Partei und Volk ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, wenn wir begreifen wollen, warum der Wettbewerb zwischen China und dem Westen kein »Zusammenstoß zwischen Zivilisationen« ist, wie mancherorts behauptet wird. Wir haben es nicht mit einem fremdartigen konfuzianischen »Wesen« zu tun, sondern mit einem autoritären Regime, mit einer leninistischen Partei samt Zentralkomitee, Politbüro und Generalsekretär, die über gewaltige wirtschaftliche, technologische und militärische Ressourcen verfügt. Der eigentliche Wettbewerb ist jener zwischen den repressiven Wertvorstellungen und Praktiken der KPCh und den in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen festgeschriebenen Freiheitsrechten: der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Religions- und Glaubensfreiheit, der Freiheit von Verfolgung, dem Recht auf Privatsphäre und Gleichheit vor dem Gesetz. Die KPCh lehnt alle diese Rechte in Worten oder Taten ab.
Völker, die in nächster Nachbarschaft Chinas leben, verstehen das sehr viel besser als die meisten Menschen im Westen. Diese unmittelbare Kenntnis des chinesischen Regimes löste die jüngsten Proteste in Hongkong aus und führte im Jahr 2020 zur Wiederwahl von Präsidentin Tsai Ing-wen in Taiwan. Ihr überwältigender Wahlsieg bedeutete in erster Linie, dass das taiwanesische Volk die Wahlurnen nutzte, um Nein zur KPCh zu sagen.
Ein Teil der Linken im Westen sucht nach Gründen, um die Augen vor der wahren Natur von Chinas Regierung unter Xi Jinping verschließen zu können. Die Linken verstehen sich historisch als Verteidiger der Unterdrückten, aber einige haben dabei aus den Augen verloren, dass der Totalitarismus die Menschenrechte erstickt. Doch die Besorgnis angesichts der Aktivitäten der KPCh macht nicht an den parteipolitischen Grenzen halt. Zum Beispiel haben Demokraten und Republikaner im US-Kongress ein Bündnis geschlossen, um Beijing die Stirn zu bieten. Ähnliches ist in Europa zu beobachten. Trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten sind sich viele auf der Linken und auf der Rechten darin einig, dass China unter der KPCh eine Bedrohung nicht nur für die Menschenrechte, sondern auch für die nationale Souveränität ist.
Die Gründe dafür, dass so viele Menschen im Westen die von der KPCh ausgehende Gefahr herunterspielen oder leugnen, sind eines der zentralen Themen dieses Buches. Ein Grund ist natürlich finanzielles Interesse. Wie Upton Sinclair sagte: »Es ist schwer, jemanden dazu zu bringen, etwas zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.« Ein anderer Grund ist der aus sowjetischen Zeiten bekannte »Whataboutism«, der insbesondere von einigen Linken praktiziert wird. Die Argumentation geht so: Mag sein, dass in China einiges im Argen liegt, aber was ist mit den Vereinigten Staaten? Diese Taktik funktioniert mit Donald Trump im Weißen Haus besser, aber was auch immer man historisch und in der Gegenwart an den Vereinigten Staaten und ihrer Außenpolitik kritisieren kann – und wir sind überzeugte Kritiker –, diese Kritik kann die extremen Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung der Freiheitsrechte durch das Regime der KPCh nicht relativieren oder entschuldigen.
Trotz all ihrer Fehler gibt es in der amerikanischen Demokratie sowie in allen demokratischen Ländern weiterhin eine funktionierende Opposition und Wahlen, die einen Regierungswechsel herbeiführen können. Es gibt vom Staat unabhängige Gerichte, vielfältige Medien, die frei berichten können und die Regierung oft hart kritisieren, und es gibt eine starke Zivilgesellschaft, die sich gegen Unrecht zur Wehr setzen kann. In China gibt es unter der Herrschaft der KPCh nichts von alledem. Die autokratischen Neigungen einiger Politiker in westlichen Demokratien sind tatsächlich beunruhigend, aber sie werden durch das System im Zaum gehalten, in dem sich diese Politiker bewegen. Für Xi Jinpings autokratische Impulse gibt es keine Einschränkungen, vor allem nicht, seit er und seine Verbündeten den politischen Konsens außer Kraft gesetzt haben, der den Aufstieg eines weiteren »großen Vorsitzenden« wie Mao Zedong verhindern sollte. Obwohl also im Westen und in den Demokratien im Allgemeinen einiges im Argen liegt, ist das von der KPCh angebotene politische Modell nicht die Lösung für die Probleme.
Unwissenheit ist eine weitere Erklärung dafür, dass es den westlichen Gesellschaften schwerfällt, die Bedrohung durch die KPCh richtig einzuschätzen. Dazu kommt, dass der Westen noch nie mit einem solchen Gegner konfrontiert war. Im Kalten Krieg unterhielt kein einziges westliches Land eine enge wirtschaftliche Beziehung zur Sowjetunion. Im Wissen um die wirtschaftliche und strategische Bedeutung Chinas versuchen viele Länder, mehr über das Land herauszufinden, während Beijing große Summen in das Vorhaben investiert, dem Westen dabei zu helfen, »China besser zu verstehen«. Es mag den Anschein haben, dass es vernünftig ist, Information direkt aus der Quelle zu beziehen, aber wie wir sehen werden, ist das in Wahrheit ein schwerer Fehler.
Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ist entschlossen, die internationale Ordnung zu verändern und die Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Anstatt andere Länder von außen anzugreifen, sucht die Partei Verbündete, bringt Kritiker zum Schweigen und unterwandert westliche Institutionen, um den Widerstand gegen ihr Machtstreben von innen zu schwächen.
Politische Analysten auf beiden Seiten des Atlantik grübeln noch immer über die Frage, ob China als »Widersacher« oder sogar als »Feind« einzustufen ist, aber die KPCh hat diese Frage für sich selbst bereits vor 30 Jahren beantwortet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah sich das kommunistische China von Feinden umringt, die es neutralisieren oder besiegen musste. Während die KPCh und ihre Verbündeten im Westen gerne von einem »neuen Kalten Krieg« gegen China sprechen, führt die Partei seit Langem einen ideologischen Krieg gegen »feindliche Kräfte«. Für die KPCh hat der Kalte Krieg nie geendet.
Die Partei will Bündnisse umformen und die Vorstellung der Welt von China umgestalten, um ihre Herrschaft daheim abzusichern, ihren globalen Einfluss zu erhöhen und China langfristig zur wichtigsten globalen Macht zu machen. Wie die KPCh das zu tun gedenkt, hat sie in Reden und Dokumenten ausführlich erklärt. Die Strategie zur Umsetzung des Vorhabens sieht vor, Einfluss auf die westlichen Eliten zu nehmen, damit sie Chinas Vormachtstellung entweder begrüßen oder sich mit der Unvermeidlichkeit seiner Hegemonie abfinden. In einigen Ländern ist die Mobilisierung der Vermögen und des politischen Einflusses der Auslandschinesen ein zentraler Bestandteil dieser Strategie. Gleichzeitig sollen kritische Stimmen in der Diaspora zum Schweigen gebracht werden.
Gestützt auf seine gewaltige wirtschaftliche Macht, übt China diplomatischen Druck aus, wendet Überredungskunst an, betreibt Einheitsfront-Politik und »Freundschaftsarbeit« und manipuliert Medien, Denkfabriken und Universitäten, wobei diese Taktiken einander überschneiden und gegenseitig verstärken. Manche Leute behaupten, dass sich Beijings Versuche, rund um die Welt Einfluss zu nehmen, nicht vom Verhalten aller anderen Länder abheben, doch während nicht alles, was die KPCh tut, einzigartig ist, unterscheidet sich ihr Vorgehen erheblich von den normalen diplomatischen Aktivitäten anderer Länder, nämlich durch ein hohes Maß an Organisation und die ausgeprägte Bereitschaft, Zwang auszuüben.
Als größte Fabrik und zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist China ein Magnet für ausländische Unternehmen und viele westliche Politiker. Ausländische Industrien sind auf Zugang zum riesigen chinesischen Markt angewiesen, und Beijing ist bereit, diese Abhängigkeit als politische Waffe einzusetzen. Um es mit den Worten eines Beobachters zu sagen:
Wenn du nicht tust, was die politische Führung in Beijing will, wird sie dich wirtschaftlich bestrafen. Sie setzt Politikern in aller Welt wirtschaftliche Daumenschrauben an. Das tut sie seit Jahren, und es funktioniert. 1
Gelegentlich zieht Beijing die Daumenschrauben ganz unverhohlen an. Beispielsweise stellte China den Import von kanadischen Sojabohnen, Raps und Schweinefleisch ein, nachdem die Huawei-Managerin Meng Wanzhou im Dezember 2018 in Kanada verhaftet worden war. Nachdem Dissident Liu Xiaobo 2010 in Oslo den Friedensnobelpreis verliehen bekam, verschärfte die chinesische Regierung die Importkontrollen für norwegischen Lachs und ließ Tonnen an Fisch vor der chinesischen Küste verrotten. Noch drastischer reagierte Beijing, als Südkorea im Jahr 2017 in Reaktion auf das aggressive Verhalten des nordkoreanischen Regimes mit der Installation eines amerikanischen Raketenabwehrsystems begann: Zu den 43 chinesischen Vergeltungsmaßnahmen zählten ein Verbot von Urlaubsreisen nach Südkorea, die Verbannung eines koreanischen Industriekonglomerats aus China sowie ein Bann über K-Pop-Stars und die Blockade von Elektronik- und Kosmetikimporten. 2 Die Strafmaßnahmen gegen Südkorea waren noch im Oktober 2019 in Kraft, als die chinesische Führung der renommierten Eastman School of Music an der University of Rochester drohte, eine China-Tour des Orchesters der Musikhochschule platzen zu lassen, wenn nicht drei südkoreanische Studenten aus dem Orchester verbannt würden. 3 Mit der Begründung, eine Absage der Konzerttour werde Eastmans Ansehen in China schweren Schaden zufügen, erklärte sich der Dekan der Musikhochschule bereit, die Koreaner nicht mitzunehmen. Erst nach wütenden Protesten von Studenten und ehemaligen Absolventen entschloss sich Eastman schließlich dazu, die China-Tour abzusagen. 4
Als Daryl Morey, der Geschäftsführer des Basketballteams der Houston Rockets, Ende des Jahres 2019 in einem Tweet seine Unterstützung für die Demonstranten in Honkong bekundete, reagierte Beijing sofort. 5 (Die Flut kritischer Stimmen auf Twitter stammte offenbar von Trollen und falschen Konten in China. 6 ) Die Übertragungen der Spiele der Houston Rockets in China, wo der Club eine große Fangemeinde hat, wurden eingestellt. Sponsoren zogen sich zurück. Beijing beschuldigte Morey, er habe »die Gefühle des chinesischen Volkes verletzt«. Das Chinesische Zentralfernsehen CCTV definierte die Meinungsfreiheit neu und erklärte, sie schließe »Anfechtungen der nationalen Souveränität und der gesellschaftlichen Stabilität« aus. 7 In dem verzweifelten Bemühen, ihren wachsenden Markt in China zu retten, veröffentlichte die NBA eine kriecherische Entschuldigung, die sich las, als sei sie von der Propagandaabteilung der KPCh verfasst worden. 8 Dies ist kein Einzelfall. Nachdem sich Mesut Özil öffentlich gegen die Verfolgung der uigurischen Minderheit in China ausgesprochen hatte, distanzierte sich der britische Fußballclub Arsenal sofort. Die Übertragung von Arsenal-Spielen im chinesischen Fernsehen wurde trotzdem gestrichen, und Özil schlug eine Welle des Hasses entgegen.
Wenige extrem harte Strafen genügen, um Furcht zu verbreiten, und im Allgemeinen beschränkt sich die chinesische Führung auf unbestimmte Drohungen, die dementiert werden können. Auf diese Art werden diejenigen, gegen die sich die Drohungen richten, im Ungewissen gehalten. Perry Link erklärt, dass vage Drohungen einer größeren Zahl von Menschen Angst machen, weil niemand ausschließen kann, selbst Adressat der Drohung zu sein, was dazu führt, dass all jene, die sich angesprochen fühlen, »breiter gefächerte Aktivitäten einschränken«. 9
China hat sich zum Meister der dunklen Kunst der wirtschaftlichen Hypnose gemausert. Dass ihm das gelungen ist, liegt zum Teil daran, dass sich die westlichen Länder in den letzten Jahrzehnten dagegen gesträubt haben, den Freihandel aus politischen Gründen zu behindern. Deshalb reagierte die Welt geschockt, als Donald Trump im Jahr 2018 einen Handelskrieg mit China anzettelte. Trumps Irrtümer sind zahlreich, aber er hat recht, wenn er sagt, dass Beijing systematisch – und ungestraft – gegen die Prinzipien des globalen wirtschaftlichen Austauschs verstößt.
Das gewaltige Infrastrukturprogramm, das Beijing unter dem Namen »Belt and Road Initiative« (im Deutschen meist als »Neue Seidenstraße« oder »Seidenstraßen-Initiative« übersetzt) vorantreibt, ist das vollkommenste Werkzeug der wirtschaftlichen Staatskunst – oder besser: der wirtschaftlichen Erpressung. Die Seidenstraßen-Initiative bietet der chinesischen Bauindustrie ein riesiges Betätigungsfeld und ermöglicht es dem Land, seine Kapitalreserven einzusetzen. Gleichzeitig bringt die Initiative vielen Staaten, die unter Kapitalmangel leiden und keinen Zugang zu den herkömmlichen Finanzierungsquellen haben, dringend benötigte Investitionen. Vielen Regierungen fällt es schwer, das Angebot zinsgünstiger Kredite auszuschlagen, vor allem wenn sie nicht mit Umweltschutzvorgaben und anderen Bedingungen verknüpft sind. 10
Doch die Ziele der Seidenstraßen-Initiative sind keineswegs darauf beschränkt, ein Einsatzgebiet für chinesische Kapitalüberschüsse zu finden oder die wirtschaftliche Entwicklung ärmerer Länder zu fördern: Die »Neue Seidenstraße« ist Beijings wichtigstes Instrument zur geopolitischen Neuordnung. Eine genaue Analyse chinesischsprachiger parteiinterner Dokumente zeigt, dass die chinesischen Analysten »sowohl in diplomatischen als auch in militärischen Publikationen offen darüber sprechen, die Auslandshilfe und die Seidenstraßen-Initiative als Vorwand für die Verfolgung der großen Strategie Chinas zu verwenden«. 11 Xi Jinpings wichtigstes Vorhaben ist mittlerweile so eng mit fast allen Auslandsaktivitäten des chinesischen Staates – seien sie kommerzieller, technologischer, akademischer oder kultureller Art – verknüpft, dass es nicht mehr von der übergeordneten diplomatischen Ausrichtung der Volksrepublik getrennt werden kann.
Xi Jinping hat die Seidenstraßen-Initiative wiederholt als unverzichtbaren Bestandteil seiner Vision von einer »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« bezeichnet. 12 Die Idee mag in westlichen Ohren gut klingen, aber ihr Ziel ist jene sino-zentrische Welt, von der die Falken träumen, die Xi in die Parteiführung geholt hat. Diese betrachten eine von China dominierte Weltordnung als einen essentiellen Bestandteil der »großen Wiederauferstehung des chinesischen Volkes«. 13
Die Seidenstraßen-Initiative ist also das wichtigste Instrument Beijings für die Neugestaltung der internationalen Ordnung. 14 In einer aufschlussreichen Rede beschrieb Qiao Liang, ein Militärstratege und ehemaliger Generalmajor der Volksbefreiungsarmee die Seidenstraßen-Initiative als Vehikel, das China eine Vormachtstellung gegenüber den Vereinigten Staaten sichern solle. Die »Neue Seidenstraße« steht für Chinas neue und unwiderstehliche Form der Globalisierung, deren Erfolg daran gemessen werden wird, ob der Renminbi den Dollar als globale Leitwährung verdrängen kann, womit die Position der Vereinigten Staaten »ausgehöhlt« würde. 15 Qiao gehört in China zu den aggressiveren Meinungsmachern, aber aus der geostrategischen Logik der Seidenstraßen-Initiative wird auch anderswo kein Hehl gemacht. Beispielsweise geht aus dem geleakten Protokoll einer chinesisch-malaysischen Verhandlung über BRI-Projekte hervor, trotz der »politischen Natur« des Vorhabens müsse es gegenüber der Öffentlichkeit als marktorientiert dargestellt werden. 16
Die »Neue Seidenstraße« wird gerne als »gewaltiges« Vorhaben bezeichnet, und als der chinesische Spitzendiplomat Yang Jiechi im April 2019 erklärte, die Seidenstraßen-Initiative spiele »keine kleinen geopolitischen Spielchen«, sagte er die Wahrheit. 17 Nayan Chanda, der ehemalige Herausgeber der Far Eastern Economic Review, beschreibt die Seidenstraßen-Initiative als »offenen Ausdruck von Chinas Machtanspruch im 21. Jahrhundert«. 18 Beijings Ziel ist es, die globale geopolitische Landschaft umzugestalten. So wie andere von der chinesischen Regierung aufgebaute »Parallelinstitutionen«, darunter die Asiatische Infrastrukturinvestitionsbank, gibt die Seidenstraßen-Initiative vor, keine Herausforderung für die bestehenden Institutionen darzustellen. Ziel ist jedoch, die Interessen der beteiligten Länder Schritt für Schritt neu auszurichten und das globale Machtgleichgewicht zu verschieben. Ein Schlüsselbestandteil der Vorstellungen der KPCh von der globalen und regionalen Machtdynamik ist die Identifizierung eines »wesentlichen Widerspruchs« und eines »Hauptfeindes«, gegen den gemeinsam Front gemacht werden soll. Auf globaler Ebene sind dies die Vereinigten Staaten, die von ihren Verbündeten abgekoppelt und isoliert werden müssen.
Der Brexit, die Uneinigkeit in der Europäischen Union und der Wahlsieg Donald Trumps haben Beijing eine strategische Chance eröffnet, die transatlantische Allianz zu schwächen und die europäische Einheit weiter zu untergraben. Nachdem die KPCh Europa lange Zeit als im Wesentlichen irrelevanten Juniorpartner der Vereinigten Staaten betrachtete, hat Beijing in diesem Kontinent mittlerweile ein wertvolles Ziel erkannt. Indem es Europa auf seine Seite zieht, hofft China die Welt davon zu überzeugen, dass es der »Vorreiter des Multilateralismus« und ein dringend erforderliches Gegengewicht zum Unilateralismus der amerikanischen Hegemonialmacht ist. 19 Beijing will europäische Unterstützung für die von China geleiteten Initiativen in den Entwicklungsländern mobilisieren – oder zumindest dafür sorgen, dass die öffentliche Kritik daran verstummt. (Obwohl wir uns in diesem Buch nicht damit beschäftigen, verfolgt China in anderen Teilen der Welt ähnliche Strategien, um bestehende Allianzen zu spalten.)
Trotz all der Medienberichte über »Schuldendiplomatie«, »globale Konnektivität« und »beiderseitig vorteilhafte Kooperation« zeigt sich bei der »Neuen Seidenstraße« klar, dass das Ziel einer strategischen Verschiebung nicht nur durch die mit dem eigentlichen Infrastrukturprogramm einhergehende politische Einflussnahme, sondern auch durch ein subtiles und mehrgleisiges Programm der globalen Meinungssteuerung erreicht werden soll. Die »Neue Seidenstraße« dient der Machtausübung, indem die Bedingungen der Debatte kontrolliert werden. (Mehr dazu in Kapitel 6.) Es reicht nicht mehr, die Diskussion über die Seidenstraßen-Initiative auf die geschäftlichen und wirtschaftlichen Aspekte zu beschränken, denn sie kommt überall zum Vorschein, vom Silk Road Think Tank Network über Medienvereinbarungen und Verbindungen zwischen Kultureinrichtungen bis zur Aufnahme von Städtepartnerschaften und »Volk-zu-Volk-Austauschprogrammen« – das alles ist häufig Teil von Absichtserklärungen zur Seidenstraßen-Initiative.
Die KPCh fürchtet sich weiterhin sehr vor der »ideologischen Infiltration« durch feindliche Kräfte, die einen Regimewechsel in China anstreben. In einem von der Zentralen Propagandaabteilung herausgegebenen Handbuch aus dem Jahr 2006 heißt es: »Wenn feindliche Kräfte versuchen, in einer Gesellschaft Verwirrung zu stiften und ein politisches Regime zu Fall zu bringen, beginnen sie stets damit, ein Loch zu öffnen, durch das sie in den ideologischen Raum eindringen können, um das Volk zu verwirren.« 20 Diese Haltung, die auf der Überzeugung beruht, die Partei befinde sich in einem Kalten Krieg mit der Außenwelt, muss man kennen, um verstehen zu können, dass die internationalen Aktivitäten der KPCh in erster Linie ein globaler Ausdruck des Bedürfnisses nach Stabilisierung des Regimes sind.
Angesichts der Gefahr einer »ideologischen Infiltration« ist die KPCh zu der Überzeugung gelangt, Angriff sei die beste Verteidigung. Wenn die Parteiführung also von ihrem Ziel spricht, die internationale Ordnung »demokratischer«, »offener« und »vielfältiger« zu machen, ist das eine verschlüsselte Beschreibung einer Ordnung, in der »autoritäre Systeme und Werte global denselben Status beanspruchen können wie liberale und demokratische«, wie es Melanie Hart und Blaine Johnson ausdrücken. 21
Im April 2016 gab die Global Times, das unverhohlen aggressive Boulevardblatt der Partei, der Leserschaft einen Hinweis auf die Geisteshaltung der KPCh, als es die zur Zensur des Internets errichtete »Große Firewall« als vorübergehende Verteidigungswaffe bezeichnete, die eingesetzt werde, um »die westlichen Versuche zur ideologischen Eroberung Chinas« zu unterbinden. 22 Hat die KPCh erst einmal die globale öffentliche Meinung manipuliert, haben ihre Werte und das politische System Chinas erst einmal weltweit Anerkennung gefunden, so werde die »Große Firewall« möglicherweise nicht mehr benötigt. Mittlerweile glaubt die Partei, einflussreich genug zu sein, um globale Konversationen ändern zu können. 23
Beijing will auch dafür sorgen, dass die Weltgemeinschaft einen Bogen um chinesische Dissidenten und Befürworter der Unabhängigkeit Taiwans macht. Das Regime will nicht nur weltweite Unterstützung für die Vorstellung, dass die KPCh die einzige Partei ist, die in der Lage ist, China zu regieren, sondern es möchte auch, dass die Welt anerkennt, dass das politische und wirtschaftliche System Chinas der westlichen Demokratie und der liberalen kapitalistischen Wirtschaftsordnung überlegen ist und dass das von der KPCh beherrschte China im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ein verantwortungsbewusster globaler Akteur ist, der das Wohl der Menschheit im Sinn hat.
Einige Beobachter sind der Meinung, der Versuch der Partei, ihre Ideologie zu exportieren, sei zum Scheitern verurteilt, aber wie wir sehen werden, ist diese Annahme zu optimistisch. Andere finden Chinas Behauptung, es sei eine verantwortungsbewusste Weltmacht, und seine Kritik an den USA mit Blick auf die Snowden-Leaks, auf den katastrophalen Fehlschlag der Irakinvasion, auf Donald Trumps Ruf nach einem Regimewechseln in Venezuela und andere Entwicklungen durchaus überzeugend. Der große Widerspruch in Trumps Präsidentschaft ist, dass er auf der einen Seite entschlossenen Widerstand gegen die Ausweitung der chinesischen Wirtschaftsmacht leistet, auf der anderen Seite jedoch die Vereinigten Staaten von ihren Verbündeten isoliert, womit diese anfälliger für die Einmischung der KPCh werden. Chinas wachsender Einfluss in Europa wird von denen, die den Vereinigten Staaten misstrauen, sowie von einigen Europaskeptikern begrüßt, die in China ein Gegengewicht zur Europäischen Union oder zu den größeren, mächtigeren Ländern des Kontinents sehen.
Andere stellen die Funktionstüchtigkeit der Demokratie infrage und äußern Bewunderung für das autoritäre Regime Chinas. Wieder andere, darunter Scharen westlicher Journalisten, die Rundreisen auf Kosten des chinesischen Staates unternehmen, sind fasziniert vom rasanten Wachstum des Landes und dem technologischen Fortschritt, wobei sie vergessen, dass andere Länder in ihrer wirtschaftlichen Aufholphase genauso schnell wuchsen und dass es die KPCh selbst war, die China mehrere Jahrzehnte an jeglichem Fortschritt hinderte. Viele im Westen wiederholen die Behauptung der kommunistischen Partei, sie habe 700 Millionen Menschen aus der Armut befreit, aber es wäre zutreffender zu sagen, dass die KPCh nach der Gründung der Volksrepublik 1949 drei Jahrzehnte lang Hunderte Millionen Chinesen in der Armut gefangen hielt; erst als die Partei den Menschen einige grundlegende Freiheiten zugestand – die Freiheit, Eigentum zu besitzen, ein Unternehmen zu gründen, den Arbeitsplatz und den Wohnort zu wechseln –, befreite sich das chinesische Volk selbst aus der Armut.
Zu den bevorzugten rhetorischen Werkzeugen, mit denen der chinesische Parteistaat Kritik abzuwehren versucht, zählt der Vorwurf des »McCarthyismus« oder einer »Mentalität des Kalten Kriegs« an die Adresse seiner Gegner. Hua Chunying, eine Sprecherin des Außenministeriums, verwendet vorzugsweise den zweiten Begriff, den sie durch das ebenfalls beliebte »Nullsummendenken« ergänzt. 1 Im Jahr 2019 erklärte die nationalistische Global Times, der chinesische Telekommunikationsausrüster Huawei sei Opfer eines »Hightech-McCarthyismus« geworden. 2 Der chinesische Botschafter in Großbritannien, Liu Xiaoming, hat die amerikanischen Manöver zur Wahrung der Schifffahrtsfreiheit im Südchinesischen Meer als »Kanonenboot-Diplomatie« bezeichnet, die einer »Kalter-Krieg-Mentalität« entspringe. 3 Selbst Kritik an den schweren Menschenrechtsverstößen in China wird auf derartiges Denken zurückgeführt. 4
Der Vorwurf einer im Kalten Krieg verhafteten Denkweise wird im Westen häufig aufgegriffen. Im März 2019 warnte Susan Shirk, ehemalige Staatssekretärin im Außenministerium unter Bill Clinton, bei einem internationalen Symposium der Peking Universität vor einem drohenden »McCarthy-Wahn« in den Vereinigten Staaten angesichts einer vorgeblich von China ausgehenden »roten Gefahr«. 5 Nach Einschätzung von Shirk treibt ein »Herdeninstinkt« die Amerikaner dazu, überall chinesische Bedrohungen zu sehen, was potenziell verheerende Konsequenzen haben könne. 6
Diese Aussage ist nicht nur unglücklich, weil sie legitime Bedenken pauschal vom Tisch wischt. Sie wirkt auch widersinnig, weil kaum jemand in seinem Denken derart im Kalten Krieg gefangen ist wie die chinesische Führung selbst. Diese Mentalität wurde unter Xi Jinping noch verstärkt.
Im Dezember 2012 erklärte Xi als neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei in einer Rede, China dürfe trotz seines Wirtschaftswachstums die Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht vergessen. Er beschrieb insbesondere drei Fehler, die das Schicksal des sowjetischen Imperiums besiegelt hätten: Erstens habe die Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) die Kontrolle über das Militär verloren. Zweitens sei es ihr nicht gelungen, die Korruption unter Kontrolle zu bringen. Drittens habe die Partei ihre Leitideologie aufgegeben und dadurch die Fähigkeit eingebüßt, sich gegen die ideologische Infiltration durch »feindliche Kräfte im Westen« zur Wehr zu setzen. Die KPdSU habe ihren Untergang selbst verschuldet. 7
Aufmerksame Beobachter sahen in Xis Rede den ersten Hinweis darauf, dass sich die Hoffnung, er werde ein »liberaler Reformer« sein, die Öffnung Chinas vorantreiben und seine Integration in die internationale Ordnung ermöglichen, als unbegründet erweisen würde. 8
Im März 2019 veröffentlichte das maßgebliche theoretische Parteiorgan, die Zeitschrift Qiushi (»Wahrheitssuche«) einen Auszug aus einer weiteren Rede von Xi, die er im Januar 2013 vor den 300 Mitgliedern des ZK der KPCh gehalten hatte. Das Thema war die »Verteidigung und Entwicklung des Sozialismus«. Xi erklärte, das chinesische System werde letzten Endes über den Kapitalismus triumphieren, aber die Partei müsse sich auf eine »langfristige Kooperation und Auseinandersetzung zwischen den beiden Systemen« vorbereiten. Er rief den ZK-Genossen erneut in Erinnerung, einer der Hauptgründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion sei gewesen, dass die dortige Führung »die Geschichte der Sowjetunion und die Geschichte der KPdSU vollkommen verleugnet« habe. »Sie verleugnete Lenin und Stalin; sie praktizierte ›historischen Nihilismus‹ [das heißt, sie kritisierte die Vergangenheit der Partei] und beschwor ein ideologisches Chaos herauf.« 9
Das war keine bloße Rhetorik. Die KPCh ließ diesen Worten entschlossene Taten folgen. Im April 2013 bereitete das Zentralkomitee ein Kommuniqué mit dem Titel Mitteilung zur gegenwärtigen Situation in der ideologischen Sphäre vor, besser bekannt als »Dokument Nr. 9«. In dieser berüchtigten Verlautbarung, die an die hochrangigen Parteifunktionäre von der Ebene der Präfektur aufwärts verteilt wurde, waren sieben »falsche ideologische Tendenzen« beschrieben, welche die Kader nicht länger unterstützen durften: westliche konstitutionelle Demokratie, »universelle Werte«, Zivilgesellschaft, Neoliberalismus, westliche Grundsätze des Journalismus, historischer Nihilismus und Zweifel an der sozialistischen Natur des Sozialismus chinesischer Prägung. 1011