Inhaltsverzeichnis
 
Titel
 
I. – ERINNERN – VERDRÄNGEN- VERGESSEN
1. Ein auffälliger Befund
2. Öffentlicher Umgang mit schlimmer Vergangenheit
3. Die Griechen
4. Mittelalter und Neuzeit
5. Deutschland seit 1945
6. Erinnerung statt Vergessen? Die Problematik in andern Ländern seit 1945
7. Deutschland nach 1989
Belege und Hinweise
 
II. – MENTALITÄT SPROBLEME DER DEUTSCHEN VEREINIGUNG
 
Nachwort
Copyright

I.
ERINNERN – VERDRÄNGEN- VERGESSEN

1. Ein auffälliger Befund

»Die Erinnerung darf nicht enden; sie muß auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen« – so heißt es in der Proklamation, durch die Bundespräsident Herzog zu Anfang des Jahres 1996 den 27. Januar zum »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« erklärt hat. »Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Anstekkungsgefahren«, hatte Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 gesagt. Zwei Zitate aus einer unendlich langen Reihe: Ohne Erinnerung an die beispiellosen Untaten des nationalsozialistischen Deutschlands, so die weit verbreitete Überzeugung unserer Tage, besteht die Gefahr der Wiederholung.
Ganz anders liest man es im ersten Artikel eines Vertrags aus dem Jahr 851. Dort bekunden die Parteien ihre Absicht, »daß aller vergangenen Übel« – und nun folgt eine Aufzählung verschiedener Arten von Schädigungen und Betrügereien – »eine Tilgung (abolitio) geschehe, zwischen uns und bei uns, und daß all dies aus unsern Herzen gründlich herausgerissen werde mitsamt aller Bosheit und allem Groll – derart, daß künftig nichts davon ins Gedächtnis, nämlich daß es nicht zur Vergeltung des Übels«, der Widerwärtigkeiten etc. komme.
Einmal soll Erinnerung also der Wiederholung des Schlimmen vorbeugen, das andere Mal will man die Erinnerung geradezu aus den Herzen reißen, weil man befürchtet, daß sie das Schlimme neuerdings erzeuge.
Sieht man sich sonst in der Geschichte um, so findet man (falls ich nicht an lauter falschen Stellen gesucht haben sollte) zumindest in aller Regel Zeugnisse für das letztere: Immer wieder wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Schlimmem aller Art. So in einer langen Reihe von Friedensverträgen. Noch anläßlich des Türkischen Friedens von Lausanne 1923 wird ein Amnestieabkommen geschlossen, dessen Präambel den Wunsch ausdrückt, Vergessen (oubli) über die »Ereignisse, die den Frieden im Orient gestört haben«, zu breiten.
Entsprechend urteilt Cicero in einer Rede, die er zwei Tage nach Caesars Ermordung, also am 17. März 44 v. Chr., im römischen Senat hält: omnem memoriam discordiarum oblivione sempiterna delendam: alle Erinnerung an die Zwieträchtigkeiten sei durch ewiges Vergessen zu tilgen. Auf diese Weise will er die »Fundamente des Friedens« legen und das Beispiel befolgen, das die Athener 403 v. Chr. mit ihrer berühmten Amnestie gegeben haben. Damals war es um die Beendigung eines Bürgerkriegs gegangen. Diesmal droht ein Bürgerkrieg neu auszubrechen. Den Griechen wird auch jenes Wort verdankt, das ursprünglich einfach »Nicht-Erinnern« heißt: Amnestie. Es begegnet in diesem Sinne freilich erst seit dem 2. Jahrhundert v. Chr.
Nahezu 2000 Jahre später sollte Churchill in seiner berühmten Zürcher Rede am 19. September 1946 zu einem blessed act of oblivion zwischen den Feinden von gestern aufrufen, einem segensreichen Akt des Vergessens. Zuvor freilich müßten die crimes and massacres, für die es seit den Mongoleneinfällen des 14. Jahrhunderts keine Parallele gegeben habe, geahndet werden. Direkt oder indirekt greift er auf Cicero zurück.
1814 wird das gleiche für die Untaten und Greuel der Französischen Revolution, auch für den Königsmord gefordert. Der aus dem Exil zurückkehrende französische König, Ludwig XVIII., erklärt in der Präambel der Charte Constitutionelle, der von ihm gewährten Verfassung: »Indem Wir so versucht haben, die Kette der Zeiten neu zu knüpfen, welche unheilvolle Abweichungen« – so umschreibt er Revolution und Empire – »unterbrochen hatten, haben Wir aus Unserer Erinnerung sämtliche Übel, welche während Unserer Abwesenheit die Heimat bedrückten, ebenso getilgt wie Wir wollten, daß man sie aus der Geschichte tilgen könnte«. Anschließend verfügt der König in Artikel 11: »Sämtliche Nachforschungen über Meinungsäußerungen und Abstimmungen vor der Restauration sind verboten (interdits). Dasselbe Vergessen wird den Gerichten und den Bürgern auferlegt«. Wo sonst zumeist die beiden vertragschließenden Parteien sich Vergessen konzedieren, tut es hier der Sieger einseitig, obwohl er Grund genug zur Bestrafung zum Beispiel der Königsmörder gehabt hätte.
Der Wunsch, Vergessen zu stiften, ist keineswegs auf Europa beschränkt. Bei den vorislamischen Arabern scheint er vorzukommen. Auch das »Begraben des Kriegsbeils« bei den Indianern (man darf es nicht einfach wegwerfen, sonst könnte es wiedergefunden werden!) gehört hierher. 1743 bieten die Irokesen dem Staat Virginia an, »diese Angelegenheit im Grunde zu begraben, daß sie nicht wieder gesehen noch davon gehört werden kann, solange die Welt steht«. Aber man findet Beispiele auch in Asien.
Was alles, könnte man aus unsern Tagen hinzufügen, wäre Millionen Menschen, ja Europa und der Welt erspart geblieben, wenn die Serben die Schlacht auf dem Amselfeld und die Türkenherrschaft vergessen (oder jedenfalls nicht so verdammt lebendig erinnert) hätten – um von kurzfristigeren Erinnerungen an das, was im 20. Jahrhundert zwischen Serben und Kroaten geschah, zu schweigen.
Genug der Beispiele, fürs erste. Gegenbeispiele habe ich nur in der Geschichte der Juden gefunden, unter denen vom Deuteronomion bis in unsere Tage ständig und intensiv das Gebot der Erinnerung eingeschärft worden ist. »Hüte dich, daß du nicht des Herrn vergessest, der Dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthaus geführt hat.« Aber auch das Schlimme soll erinnert werden, sowohl das erlittene – »Gedenke, was dir die Amalekiter taten auf dem Wege, da ihr aus Ägypten zoget« – wie das selbst angerichtete: »Gedenke und vergiß nicht, wie du den Herrn, Deinen Gott, erzürntest in der Wüste!«
Eindringlich wird gemahnt: »Denk an die Tage der Vergangenheit«, »… frage deinen Vater, der wird dir’s verkündigen, deine Ältesten, die werden dir’s sagen.« 169mal begegnet das Wort zachar (erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel. Erinnerung gehört zum Inhalt fast aller großen Feste, auf denen sie nicht nur in der Gemeinde, sondern auch am Familientisch stets neu gehegt und weitergegeben wird. »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung«, sagt jüdische Weisheit. »Nur in Israel, nirgends sonst, empfindet ein ganzes Volk die Aufforderung, sich zu erinnern, als religiösen Imperativ.« Das Gedächtnisvolk par excellence hat Jacques Le Goff die Juden genannt. Elie Wiesel stellt fest: To be a Jew is to remember.
Dabei steht die Erinnerung an Jahwes Verheißung, an das Geschenk des Landes, das er den Juden gemacht, an den Bund, den er mit ihnen geschlossen hat, im Vordergrund. Die Erinnerung an das Schlimme, das in Mißachtung der göttlichen Gebote selbstgetane und das erlittene (wenn Jahwes Zorn sie traf), bleibt eingefangen in seiner Verheißung – bis Auschwitz alle jüdische Erinnerung vor kaum (oder nicht mehr) lösbare Aufgaben stellt.
Nach Auschwitz ist es aber auch, daß die Erinnerung der Menschheit allem Vergessen der unermeßlichen Untaten widerstreitet. Die Frage ist, ob damit zugleich für andere Fälle ein neues Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen gestiftet ist. Ist die unabweisbare Erinnerung an Auschwitz also die Ausnahme von der Regel der Weltgeschichte? Oder begründet sie eine neue Regel? So daß das Gebot des Vergessens obsolet wird?

2. Öffentlicher Umgang mit schlimmer Vergangenheit

Erinnern – Verdrängen – Vergessen: Wenn man die Frage so stellt, ist klar, daß es sich um Erinnerung an Schlimmes handelt, sonst bräuchte es ja kein Verdrängen. Schlimmes – dieses Wort soll hier und im folgenden ganz formal gebraucht werden: das heißt unabhängig vom absoluten Ausmaß und der Qualität dessen, was jeweils angerichtet worden ist. Die willkürliche Tötung einiger hundert Griechen soll also ebenso darunter fallen wie der weitgehend fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden im Zweiten Weltkrieg. Wichtig ist nur, daß es um den Umgang mit sehr störender, zu schaffen machender Erinnerung gehen soll, und zwar für Gemeinwesen. Die Frage ist, wie die damit fertig werden.
Als Gegenstand solch störender Erinnerung kommen vielerlei Untaten, Verbrechen, Vertreibungen, Morde in Frage, wie sie vor allem Krieg und Bürgerkrieg immer wieder mit sich bringen. Oft genug für beide Seiten, wenn auch auf verschiedene Weise. Daraus erwachsen speziell dann besondere Probleme, wenn sich Völker oder Bürgerkriegsparteien wieder vertragen und ihr Zusammenleben sichern wollen. Denn die Erinnerung an Schlimmes erzeugt gern den Drang zur Rache; was zugleich heißen kann: zu Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit freilich, die allzu leicht auf parteiliche Weise gesucht wird, so daß das Bedürfnis nach Widerrache entsteht.
Die Dinge können sich jedenfalls auf die Alternative Gerechtigkeit oder Frieden (sei es äußerer, sei es innerer Frieden, eventuell auch: Desintegration oder Integration) zuspitzen.
Wo dem nicht so ist, wo der Friede als gesichert erscheint und keine Rache droht, bleiben andere Probleme. Wenn Gemeinwesen respektive Gesellschaften durch solche Vergangenheiten stark belastet werden, kann dadurch ihre kollektive Ehre, man spricht heute gern von Identität, tangiert sein (und zusammen mit andern Gründen die Neigung zur Verdrängung schlimmer Vergangenheit stark machen; Verdrängung übrigens nicht im psychopathologischen Sinn genommen). Selbstverständlich stellen sich ähnliche Probleme mit der Vergangenheit zugleich vielen Einzelnen.
Und es gibt, bei allen möglichen Unterschieden zwischen den Individuen, zeit-, gesellschafts- und auch gruppentypische Weisen von Erinnern, Verdrängen, Vergessen. Das gleiche gilt für das Bewußtsein, daß man – gegebenenfalls – zu haften hat, daß man verantwortlich ist für Geschehenes. Man hat ferner zu unterscheiden zwischen den gleichsam normalen, eventuell routinisierten, auch ritualisierten Formen des Fertigwerdens mit schlimmer Vergangenheit im Alltag, der Entsühnung etwa, und den eher ausnahmsartigen, die bei herausragenden Formen des Schlimmen besondere Schwierigkeiten bieten mögen.
Da politische Einheiten nicht allein auf der Welt sind, kann der öffentliche Umgang, den sie mit schlimmer Vergangenheit pflegen, eingebettet sein in größere Zusammenhänge. Verbreitete, mächtige Meinungen in der Welt oder in Teilen der Welt können sich dabei geltend machen und virulent werden.
Wie also gehen Gesellschaften mit schlimmer Vergangenheit um? Wie können sie damit umgehen? Die Frage drängt sich besonders im Deutschland der Nachkriegszeit auf. Sie scheint nicht unbedingt gerade die Historiker zu beschäftigen. Das hat sich beispielhaft im Historikerstreit von 1986/88 gezeigt. Da ging es zum einen um historische Wertungen oder Einordnungen des Mordes an den Juden, zum andern um moralische Forderungen. Das ganze Gebiet dazwischen, die Realität der Erinnerung und der Bereich der realen Möglichkeiten, in dem sie sich zu bewegen hat (und in dem sie viel oder wenig ist), blieb unerörtert. Mehrfach ging es um den Vergleich mit den stalinistischen Verbrechen, der dann freilich auch nicht richtig ausgeführt wurde. Und es wurde auch nicht gefragt, wie es sich sonst in der Geschichte mit diesen Problemen verhielt.
So ist es nicht einfach, das Problem Erinnern – Verdrängen – Vergessen für frühere Zeiten zu behandeln. Denn wichtigstes Material, so vermute ich, schlummert noch ungehoben in den Quellen. Selbst wo historische Darstellungen auf Einzelnes eingehen, versäumen ihre Autoren zumeist, es im Register zu berücksichtigen. Meine Erörterung steht also unter dem Vorbehalt, daß ich vieles, was das Bild variiert oder gar verändert hätte, übersehen haben könnte. Doch als Einstieg mag sie ihr Recht haben.

3. Die Griechen

Beschlüsse, an das Schlimme nicht zu erinnern. Die athenische Amnestie von 404/3 v. Chr.

Hier wäre zuvörderst ein sehr merkwürdiges Zeugnis zu besprechen. Herodot berichtet, Phrynichos, der bedeutendste Tragiker der Zeit, habe die Einnahme (und Zerstörung) Milets zum Gegenstand einer Tragödie gemacht. Die glänzendste, reichste unter den griechischen Städten an der Ostküste der Ägäis war das Zentrum eines Aufstands gegen die dort herrschenden Perser gewesen. Es war erobert und zerstört worden, 494 v. Chr; ein Ereignis, das unter den Griechen tiefe Erschütterung auslöste. Die Athener hatten den Aufstand anfangs unterstützt; sie betrachteten zudem Milet und andere Städte der Gegend als ihre Kolonien.
Die Aufführung der Tragödie nun, die wenige Jahre darauf in Athen erfolgte, hat nach Herodot das Theater, also beachtliche Teile der Bürgerschaft, in Tränen versetzt. Der Dichter wurde daraufhin zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, die Wiederaufführung des Stücks (die sonst in den kleinen Theatern auf dem Land wohl möglich gewesen wäre) wurde verboten. Begründung: Er habe an »häusliches Schlimmes – anders übersetzt: an häusliches Unheil – erinnert«: hōs anamnēsanta oikeía kaká (6,21,2).
Das Verbot stellt ein schönes Zeugnis nicht nur für die mögliche Wirkung der Tragödie dar, sondern auch für das Bemühen, die Öffentlichkeit von starken emotionalen Erschütterungen freizuhalten. In ähnliche Richtung weisen gesetzliche Einschränkungen der Klagegesänge für Verstorbene. Offenbar war das Ausbrechen heftiger Leidenschaft in diesen Städten gefährlich, in denen alles dicht aufeinanderlebte, die Volksversammlung unüberlegte Beschlüsse fassen konnte, wo alle politischen Funktionsträger und Organe tief in das Leben der Stadt eingebettet waren. In einer tieferen Schicht könnte auch die deutliche Abgrenzung und Unterscheidung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit tangiert gewesen sein; für Männer gehörte sich – in der nachhomerischen Zeit – das Klagen und Weinen nicht. Da scheint man bestimmte Disziplinierungen gebraucht zu haben.
Indes konnte man die Zerstörung Milets nicht aus der politischen Debatte ausschließen. Immerhin waren Konsequenzen aus dem Scheitern des Aufstands zu ziehen. Aber vermutlich befürchtete man gerade deswegen jedes Zuviel, vor allem jede Aufpeitschung der Emotionen durch Klagen, wie die Tragödie sie reichlich enthalten haben muß; vielleicht auch das Gegenteil: die allgemeine Depression. In andern Fällen mochte die Erinnerung an häusliches Schlimmes ihren Sinn darin haben, den Drang zur Rache wachzuhalten oder neu zu beleben. Hier dagegen war angesichts der persischen Übermacht eher Vorsicht am Platz; eben daher war die tragische Klage so problematisch.
Nebenbei gesagt wird die Tragödie auch an die Hybris erinnert haben, aus der der Aufstand hervorgegangen war, durch die sein schlimmes Ende erklärlich wurde – und an der auch Athen seinen Teil hatte. Denn zu der Gattung gehörte es, daß die Strafe niemals einfach Unschuldige trifft. So wollte man damals wohl auch Kritik an eigenen unheilvollen Entscheidungen unterdrükken. Herodot nennt die attische Unterstützung des Aufstands später »den Anfang des Unheils zwischen Griechen und Barbaren« (arch kakôn. 5,97,3. Kaká ist das Wort, das hier verschiedentlich wiederkehrt und das ich normalerweise mit »Schlimmes« übersetze).
Man muß sich fragen, ob der Beschluß des athenischen Rats gegen das »Erinnern an Schlimmes« an eine schon ältere Tradition des gemeinsamen Beschweigens unangenehmer, störender Fakten in der Öffentlichkeit, also des »Vergessens« hat anknüpfen können.
Jedenfalls finden wir einige Jahrzehnte später die beiden Wörter, die den Vorwurf gegen Phrynichos bezeichnen, anamimn skein kaká, Erinnern an Schlimmes, zu einem einzigen vereint, das zu einem terminus technicus wird: mnēsikakeîn: (andere oder sich) an Schlimmes erinnern.
Das Wort begegnet in aller Regel in verneinter Form. Dabei geht es durchaus auch darum, Hinweise auf mißliche Tatbe stände auszuschließen. Síga, mē mn sikakēsēs, heißt es etwa einmal bei Aristophanes: Schweig, rühr nicht das Schlimme auf (wörtlich: Erinnere nicht das Schlimme)! Wenn die Wendung, wie zu vermuten, karikierend aus dem politischen Leben der Zeit in den komischen Zusammenhang übernommen worden ist, könnte das darauf hindeuten, daß man damals im kriegführenden, schweren Bedrängnissen ausgesetzten Athen »Schwarzmalerei«, »Defaitismus« als mnēsikakeîn bezeichnete.
Vornehmlich aber soll die Aufforderung, soll der Beschluß, nicht an Schlimmes zu erinnern, persönliche oder parteiliche Rache verhindern. Denn die Konsequenzen des Erinnerns, vom Klagen und Nachtragendsein bis zu Versuchen, Gegner direkt zu verfolgen, sei es vor Gericht, sei es in unmittelbarem, meist blutigem Zugriff, sind in der Wortbedeutung eingeschlossen. Die Wendung mē mnēsikakeîn wird zur Formel für das, wofür später das Wort »Amnestia« (Nicht-Erinnerung) benutzt werden kann (und was keineswegs einfach mit unseren Amnestien gleichzusetzen ist).
Seit dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts sind Beschlüsse, »nicht an Schlimmes zu erinnern«, greifbar, und zwar fast gleichzeitig in Verträgen zwischen Gemeinwesen (erstmals 422) und in Abmachungen zwischen verfeindeten Gruppen innerhalb von Bürgerschaften (erstmals 424). Da die Beilegung innerer Streitigkeiten sehr viel schwieriger war als die Beendigung von Kriegen, da zudem das Zusammenleben in den Städten viel problematischer war als das zwischen ihnen, sollte man vermuten, daß man sich darüber weit mehr den Kopf zerbrochen hat, daß also jene Beschlüsse dort ihren Ausgangspunkt haben. In der Folgezeit wird den Beschlüssen, »nicht an Schlimmes zu erinnern«, gelegentlich die Formel beigefügt, keiner solle getötet oder vertrieben werden.
424 hatten die Bürger von Megara beschlossen, einer ganzen Gruppe von Verbannten die Rückkehr zu gestatten. Sie waren im Begriff, im großen Krieg zwischen Sparta und Athen die Seite zu wechseln. Eine Reihe von Freunden Athens hatte die Stadt verlassen. Jetzt verhandelten die Zurückgebliebenen mit Verbannten oder Flüchtlingen, im wesentlichen Gegnern Athens, über deren Rückkehr und ließen sich von ihnen »heilige Eide schwören, nichts Schlimmes zu erinnern und in allen Beschlüssen auf das Wohl der Stadt bedacht zu sein«. Die freilich hielten sich nicht an den Eid und nötigten, als sie wieder in den Besitz von Ämtern gelangt waren, die Volksversammlung, etwa hundert Gegner zum Tode zu verurteilen, die sodann hingerichtet wurden. Sie setzten mithin, wie Thukydides bemerkt, die stasis, also den Bürgerkrieg, fort. »Sehr wenige« bewirkten auf diese Weise eine Veränderung. Sie richteten eine strenge Oligarchie ein, die lange gedauert habe.
In der Folgezeit ist eine ganze Reihe von Beschlüssen, nicht an Schlimmes zu erinnern, bezeugt. Während des Peloponnesischen Krieges, aber auch später, bedeuteten sie oft nicht mehr als Waffenstillstände. Thukydides schreibt: »Eidliche Abmachungen zur Versöhnung, in der Not einander geleistet, galten für den Augenblick, wenn beide Seiten sich anders nicht zu helfen wußten.« Bei nächster Gelegenheit wurden sie gebrochen, wobei der, der als erster wieder Mut faßte, im Vorteil war (3,82,7).
Am besten bekannt und überraschend erfolgreich ist derjenige Beschluß gewesen, den die Athener Ende des 5. Jahrhunderts nach blutigem Gewaltregime und Bürgerkrieg faßten. Er stellte für die Zukunft ein leuchtendes Vorbild dar. Auf ihn hat sich Cicero 44 v. Chr. berufen.
Nach der militärischen Niederlage im Peloponnesischen Krieg (404) hatte ein kleiner Kreis von »dreißig Tyrannen«, gestützt auf den spartanischen, den feindlichen Feldherrn, die Herrschaft in Athen an sich gerissen und eine große Zahl von Bürgern sowie reichen, in Athen ansässigen Nichtbürgern ermordet; in den Quellen heißt es, es seien 2500 insgesamt, darunter 1500 Bürger gewesen; bei damals etwa 30 000 Bürgern also fünf Prozent. Es sind, selbst wenn sie etwas übertrieben sind, vergleichsweise riesige Zahlen. In der Phase der Terreur in Paris 1793/94 hat sich die Zahl der Hinrichtungen auf ungefähr 2600 belaufen.
Die Opfer waren vornehmlich Männer, die in der Demokratie eine Rolle gespielt hatten, unter anderm sogenannte Sykophanten; das waren Leute, die sich darauf kapriziert hatten, andere, vorzugsweise reiche Bürger vor Gericht anzuklagen. Man kannte keinen Staatsanwalt. Mehrere Arten von Strafverfahren konnten, wenn es die Betroffenen nicht taten, von jedem andern Bürger angestrengt werden. Solche Ankläger hatten eine wichtige Funktion. Aber nicht wenige von ihnen nutzten die Chance, Gegner auf diese Weise zu bekämpfen; oder Geld zu machen, zum Beispiel durch Erpressung. Die Praktiken der Sykophanten waren weithin verhaßt. Jetzt suchten sich die Oligarchen nicht zuletzt an ihnen zu rächen. Andererseits verfolgten sie mit der Zeit zunehmend auch Männer, an deren Vermögen sie sich bereichern wollten. Mit perfidem Geschick haben die Dreißig darauf geachtet, möglichst viele der Athener, die in der Stadt geblieben waren, als Handlanger an ihren Untaten zu beteiligen. Wer angezeigt worden war, konnte unter der Bedingung begnadigt werden, daß er andere anzeigte. Aber auch für die Vorladungen zog man gerne irgendwelche Bürger heran, um sie zu Spießgesellen zu machen. Die politischen Bürgerrechte selbst waren auf 3000 Männer, also ein Zehntel der athenischen Bürgerschaft beschränkt worden.
Zahlreiche Anhänger der alten Demokratie waren geflohen. Die meisten sammelten sich bald unter Führung des Thrasybul. Sie fielen in Attika ein, eroberten den Piräus und besiegten schließlich die Tyrannen. Die Dreißig hatten zuletzt noch die Spartaner zur Hilfe gerufen, waren von denen aber kaum unterstützt worden. Der Spartanerkönig Pausanias hatte vielmehr auf Ausgleich gedrängt.
Die Versöhnung geschah aufgrund eines Vertrags, der unter anderm die Rückkehr der Demokraten in die Stadt vorsah. Er gestattete Anklagen gegen diejenigen, die mit eigener Hand jemanden getötet oder verletzt hatten. Abgesehen davon aber sei es »keinem der Rückkehrer gestattet, gegen keinen das Schlimme zu erinnern außer gegen die Dreißig selbst« und wenige andere Amtsträger. So heißt es in der dem Aristoteles zugeschriebenen Schrift »Athenaíōn Politeía« (39,6).
Die Scheidung zwischen wenigen Schuldigen und dem Gros sollte auch im folgenden immer wieder wesentliche Voraussetzung für Nicht-Erinnern und Amnestie sein. Die Hauptschuldigen dürfen nicht ungestraft bleiben. Sie sind gefährlich. Irgendwohin muß sich auch der Zorn ausleben, irgendwo der Gerechtigkeit, zumeist: der Rache ihr Recht werden. Das Gros dagegen (das dadurch zugleich eine Art Alibi erhält, einen Ausweg in Richtung Distanzierung) muß um des Friedens willen verschont bleiben. So wird ein Ausgleich zwischen Gerechtigkeit und Frieden möglich.
Das »Nicht-Erinnern« mußte durch Eide bekräftigt werden, wahrscheinlich durch mehrere. Zunächst mußten es die Demokraten vor der Rückkehr beeiden. Gleich anschließend hatten alle Bürger gemeinsam den gleichen Eid zu schwören (man weiß nicht, in welcher Form). Möglicherweise wurde der Eid noch einmal wiederholt, als die Oligarchen, denen zunächst ein eigenes Gemeinwesen auf attischem Boden zugestanden worden war, zurückkehrten. Jedenfalls hatten ihn künftig (wir wissen nicht wie lange) Jahr für Jahr der Rat abzulegen und ähnlich auch die Richter der Geschworenengerichte. Der Redner Andokides formuliert, es sei für richtig erkannt worden, »das Geschehene auf sich beruhen zu lassen« (1,81). Man habe die Rettung der Stadt weit über das Bedürfnis nach privater Rache gestellt.
Die führenden Männer des Gewaltregimes sollten ebenfalls von Anklagen verschont sein, wenn sie Rechenschaft ablegten. In unsern Tagen sollte eine ähnliche Bestimmung für die Arbeit der südafrikanischen Wahrheitskommission gelten.
Zu »Amnestien« in der bei uns vorherrschenden Bedeutung des Wortes, genauer gesagt: zum Erlaß bestimmter Strafen (einmal auch zum Verzicht auf Verfolgung derer, die sie eventuell verhängt bekommen hätten) war es in Athen schon vorher – das erste Mal, wenn den Quellen zu trauen ist, zu Beginn des 6. Jahrhunderts – gekommen, meistens angesichts auswärtiger Gefahren. Einmal wird übrigens ausdrücklich und unter Strafandrohung verfügt, daß alle Inschriften und Kopien, auf denen diese Strafen verzeichnet sind, zu vernichten seien, »damit unter den Athenern Vertrauen sei, jetzt und künftig«. Jeweils kommt der Straferlaß mehreren Einzelnen zugute, die den inneren Frieden (und den Zusammenhalt) des Gemeinwesens nicht oder nicht mehr bedrohen und von denen anzunehmen ist, daß sie sich der Gesamtheit ohne nennenswerte Komplikationen wieder einfügen. Parteiungen, aufgrund derer sie (zu Recht oder Unrecht) verurteilt worden waren, waren nicht mehr aktuell.
Durch das mē mnēsikakeîn dagegen sollte jede Art der Verfolgung politischer Verbrechen (von den Haupttätern eventuell abgesehen) von vornherein ausgeschlossen werden. Es hatte zur Voraussetzung, daß schwere Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verfeindeter Gruppen drohten, die sehr wohl den inneren Frieden des Gemeinwesens erheblich hätten beeinträchtigen können. Denn dazu mußte es kommen, wenn etwa vielerlei Anklagen vor Gericht, Bestrafungen oder gar Akte offener Rache statthatten; wenn die Leidenschaften aufgeputscht wurden, auch die der Richter – allesamt Geschworener, die zwar an einen Eid gebunden, aber doch gegen Parteilichkeit nicht unbedingt gefeit waren.
Potentiell brisante Gegensätze sollten also zumindest entschärft und am neuerlichen Ausbruch gehindert werden. Auch wenn unter Umständen ganze Bürgerschaften sich verpflichteten, war es nicht so sehr das Gemeinwesen, das auf die Verhängung