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Die Hütte mit dem Flachdach befand sich an einer Landstraße, die in tiefer sommerlicher Dunkelheit dalag, einer Dunkelheit, wie sie nach einem besonders grellen Sommertag auftritt und die deshalb intensiver wirkt und bewusster wahrgenommen wird als gewöhnliche Nachtdunkelheit. Die Lichter der kleinen Kneipe ließen sie, durch den eigenartigen Kontrast zu der schwarz beschatteten Straße, wie etwas Lebendiges aussehen, das schwankt und ächzt, bereit, sich jeden Moment zu erheben und davonzutorkeln, um nur eine flache Vertiefung und den dumpfen Gestank von Urin zu hinterlassen.
Bell Elkins wusste, dass das Einbildung war. Das Einzige, was sich wirklich bewegte, waren die flackernden Lichter, die durch die vier bullaugenartigen Fenster drangen, und das hässliche Wummern der Bässe der Liveband, Erschütterungen, die auf das Herz eintrommelten wie Faustschläge. Dennoch zögerte sie und blieb einige Minuten länger am Rand des mit Dreck übersäten Parkplatzes in ihrem Fahrzeug sitzen. Die Autos waren kreuz und quer geparkt, zurückgelassen von ihren Fahrern, denen alles scheißegal war.
Es war 3.42 Uhr in einer schwülwarmen Samstagnacht – nein, am Sonntagmorgen – Mitte Juni, und Bell war wütend. Der Ärger durchzog sie wie ein Draht, der sich langsam durch ihre Adern fädelte, Millimeter für Millimeter. Er flammte nicht auf wie sonst: Dieses Mal wuchs er stufenweise, gleichmäßig und unheilvoll. Als sie sich jeden einzelnen irritierenden Fakt in Erinnerung rief, stieg der Ärger eine Stufe höher, dann noch eine.
Fakt war: Ihre Schwester Shirley war seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen. Shirley war eine erwachsene Frau, und es gab keine festen Absprachen – aber immerhin, drei Tage. Und kein Anruf, keine Nachricht.
Fakt war: Das Handy auf Bells Nachttisch hatte sich um kurz vor drei mit seinem perversen Häckselmaschinen-Klingelton gemeldet. Am anderen Ende der Leitung war Amanda Sturm gewesen, Deputy von Collier County. »Hab ’nen Anruf bekommen – Krawall drüben bei Tommy’s«, sagte sie, nachdem sie ihren Namen genannt hatte. Was Tommy’s war, musste nicht weiter erklärt werden. Es war eine Bar – diese Bar hier an der Burnt Ridge Road, berüchtigt für Prügeleien, Drogen und Ärger. »Hab kurz reingeschaut, um die Lage zu peilen, und dachte dann, ich sollte Sie anrufen. Sorry wegen der Uhrzeit.«
Sturm hatte sie nicht geweckt. Bell schlief kaum in letzter Zeit und verbrachte viele Nächte in dem abgenutzten alten Polstersessel in ihrem Wohnzimmer und las oder versuchte es zumindest. In dieser Nacht hatte sie es tatsächlich nach oben in ihr Bett geschafft, aber noch keinen Schlaf gefunden. Trotzdem hatte der Anruf sie aufgeschreckt. »Was ist los?«, fragte Bell. Ihr Handy war leicht, aber sie benutzte beide Hände, um es zu umfassen, die eine, um es fest an ihr Ohr zu pressen, die andere, um es vor ihr Kinn zu halten.
Es entstand eine Pause, dann sagte Deputy Sturm: »Nun, Ma’am, eine von denen da drin sagt, dass ihre Schwester die Staatsanwältin von Raythune County sei, und ich solle sie besser laufen lassen. Hab ihre Brieftasche gecheckt und tatsächlich – Sie sind da als Kontaktperson vermerkt. Shirley Dolan ist ihr Name.«
Fakt war: Mit der Klientel einer Lokalität wie Tommy’s in Verbindung gebracht zu werden konnte Shirleys Bewährungsstatus ernsthaft in Gefahr bringen.
Fakt war: Shirley war sich dessen wohl bewusst. Und sie wusste auch, dass sich Bell gerade mit einem schrecklichen Fall herumschlug, dem brutalen und anscheinend grundlosen Mord an einem pensionierten Bergarbeiter, der sich vorletzte Nacht ereignet hatte, auf der Auffahrt seines Hauses auf der Westseite von Acker’s Gap. Die Stadt stand noch unter Schock angesichts dieses Verbrechens, wodurch sich eine lähmende Kälte in die warme, schlaffe Trägheit dieses Sommers inmitten der Berge eingeschlichen hatte.
Fakt war: Shirley kümmerte das alles einen Scheiß. Es war ihr egal, welche zusätzlichen Scherereien sie Bell machte, welche Schande sie ihr bereitete, welche Peinlichkeiten.
Fakt war: Shirley war nicht nur egoistisch, auch rücksichtslos. Einem Deputy Bells Namen zu nennen, um eine Spezialbehandlung zu bekommen, war schlimm genug, aber wenn man noch bedachte, welches Risiko das alles für Shirleys noch frischen Status als freier Mensch bedeutete – nun, die ganze Sache erboste Bell so sehr, dass sie das Lenkrad ihres Ford Explorer noch fester umklammerte, froh, an etwas ihre Wut auslassen zu können.
Sie hatte für Shirley alles Erdenkliche getan. In den drei Monaten seit der Rückkehr ihrer Schwester hatte sie sie bei sich wohnen lassen, ihr Kleidung gekauft, ihre Raucherei toleriert. Und sie hatte sich aus ihren Angelegenheiten herausgehalten, Shirley ihre eigenen Entscheidungen treffen lassen – und mit »Entscheidungen treffen« meinte Bell »Fehler machen«. Diese beiden Ausdrücke waren in ihrem Geist zu Synonymen geworden, wenn es um Shirley ging.
Von Anfang an hatte es Probleme gegeben. Eines Nachts war Shirley mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern auf dem Küchenstuhl eingeschlafen und gerade noch rechtzeitig aufgewacht, um eine Katastrophe zu verhindern. Ein andermal war sie nachts übellaunig und betrunken nach Hause gekommen, und als Bell versuchte, die torkelnde Shirley ins Bett zu bringen, hatte sie sie abgeschüttelt, und das unflätige Wort, das ihr dabei entfuhr, ließ Bell vor Schreck zusammenzucken, als hätte Shirley eine Kröte oder eine Spinne ausgespuckt.
So ein Verhalten machte deutlich, dass es Shirley an Urteilsvermögen, Manieren und an Respekt mangelte. Und vielleicht hatte Sheriff Fogelsong mit der Aussage, Shirley sei undankbar, den Nagel auf den Kopf getroffen, damals, als Bell ihm anvertraut hatte, wie enttäuscht sie von ihrer Schwester war. »Das ist es, was wirklich an dir nagt. Du erwartest von ihr, dass sie dankbar ist. Vielleicht sogar demütig. Weil du zu ihr gehalten hast, weil du auf sie gewartet hast, weil du sie zu dir genommen hast. Hast du je einen Korken unter Wasser gedrückt und ihn dann losgelassen? Schießt hoch in die Luft wie ein Geysir. Geht ab wie eine Rakete.«
Der Sheriff, begriff Bell, lag nicht ganz falsch. »Hast du es nicht langsam satt, die ganze Zeit recht zu haben, verdammt?«, hatte sie erwidert.
»Oh, ab und zu habe ich absichtlich unrecht«, antwortete er, »damit es nicht langweilig wird.«
Als sie sich an dieses Gespräch erinnerte, wurde Bell klar, wie sehr sie ihn vermisste – und nicht nur weil sie gerade einen Mordfall zu lösen hatte, der die ganze Stadt nervös machte. Fogelsong hatte sich für einen Monat beurlauben lassen. Er wurde in der kommenden Woche zurückerwartet, und dann würde Pam Harrison den Platz an der Spitze räumen und ihren Job als Chief Deputy wieder aufnehmen – und dennoch … auch nur ein Monat ohne ihn war zu lang für Bell. Nick Fogelsong kannte sie besser als irgendjemand sonst. Er kannte sie in- und auswendig, und sie legte großen Wert auf sein Urteil. Mehr noch, sie brauchte es.
Als ihr Ärger jeden vernünftigen Gedanken unmöglich machte, hatte er Bell sanft daran erinnert, dass Shirley eine sechsundvierzigjährige Frau war, die nie die Chance gehabt hatte, jung zu sein. Sie hatte drei Jahrzehnte im Gefängnis verbracht, einem trostlosen und streng reglementierten Ort, an dem jeder ihrer Schritte überwacht, jeder spontane Impuls unterdrückt worden war.
Also war Bell nachsichtig mit ihr gewesen. Hatte sich zurückgehalten und geschwiegen.
Aber heute Nacht war eine Schwelle überschritten worden. Es war das erste Mal, dass Shirley mehrere Tage am Stück fortgeblieben war. Und sie hatte Bells Namen in einem Konflikt mit dem Gesetz benutzt. Dies war auf beunruhigende Weise etwas völlig Neues. Und es passierte gerade in einem Moment, da Bell ihr Augenmerk auf die allgemeine öffentliche Sicherheit richten musste, nicht auf den Einzelfall einer Schwester, die sich schlecht benahm. Wenn Shirley in eine Razzia bei Tommy’s geriet – der Inhaber der Bar, Tommy LeSeur, war selbst vorbestraft, hatte viereinhalb Jahre wegen eines Drogendelikts gesessen –, konnte ihre Haftentlassung zurückgenommen werden.
»Hey, schöne Lady.«
In dem Moment, als Bell die Worte hörte, roch sie schon den scharfen Zwiebelgeruch des Mannes, der plötzlich seinen Kopf durch das offene Fenster ihres Explorer geschoben hatte. Er hatte sie überrumpelt, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken gewesen, während sie auf die verwahrloste Bar gestarrt hatte. Aber sie war nicht erschrocken – sie war stinksauer. Der Mann hatte ein aufgedunsenes Gesicht, als hätte er eine allergische Reaktion. Bartstoppeln sprossen auf seinen runden Backen und auf den Speckrollen, die sein winziges Kinn einhüllten. Der Geruch von Schnaps, Schweiß und Erbrochenem drang ins Wageninnere.
Bevor Bell reagieren konnte, sprach er weiter, wobei er sich am unteren Rand des Fensters abstützte.
»Suchs su was?«, lallte er. »Oder jemand? Willste Spaß haben?« Ein lüsternes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ein Schweißtropfen – oder vielleicht auch eine andere Art von Flüssigkeit, wer wollte das schon so genau wissen? – hing an seinem Nasenloch. Sein Blick war verschwommen. »Wie wär’s, Baby?«
Zuerst hätte Bell fast gelacht – Oh yeah, ich komme, du bist so verdammt unwiderstehlich, Mister –, doch dann kam ihr Ärger mit Wucht zurück, diesmal gemischt mit Ekel.
»Verschwinde, zum Teufel«, sagte sie. Ihre Stimme war leise, die Worte ruhig und gemessen, aber der Tonfall drohend. Nur ein Idiot konnte sie missverstehen.
»Komm schon, Baby, sei doch nicht so«, sagte der Eindringling. Sein schmieriges Gesäusel und sein übel riechender Atem reichten aus, dass sich Bell der Magen umdrehte.
Als sie mit einer blitzschnellen Bewegung die Autotür aufmachte, wurde er zurückgestoßen, taumelte den Bruchteil einer Sekunde und landete dann auf seinem fetten Hinterteil.
Hinter ihm, deutlich sichtbar in dem grellen Licht des Scheinwerfers, der an einer Ecke des Gebäudes angebracht war, standen drei stämmige Männer im Kreis – seine Kumpel, vermutete Bell, denn solche Typen traten immer in Rudeln auf. Die Männer zeigten auf den Fettarsch, stampften mit ihren Arbeitsstiefeln auf und lachten. Ihr hartes, freudloses Lachen hörte sich angriffslustig an. Obwohl Hochsommer war, trugen sie Baseballkappen und langärmelige karierte Flanellhemden. Das war, wie Bell wusste, die ganzjährige Uniform dieser Good Old Boys, Typen, die man hier in der Gegend entlang der Nebenstraßen aufgereiht fand wie Fusseln auf einem Kamm.
»Miststück«, brüllte der Fettarsch sie an. Er versuchte, hochzukommen, doch seine Fettleibigkeit und sein Alkoholpegel hinderten ihn daran. »Verdammtes Miststück.«
Seine Freunde lachten nur noch lauter. »Sieht aus, als hätte sie dir mal gründlich die Meinung gesagt«, mutmaßte einer und stieß den Fettarsch mit seiner Fußspitze an, als wäre sein Kumpel ein Klumpen Dreck, der zur Seite geschoben werden musste. Die anderen lachten noch mehr, johlten wie die Verrückten und schlugen sich auf die Oberschenkel. Ein grauer, trüber Mond betrachtete die Szene gleichgültig von oben.
Bell wog ihre nächsten Schritte ab. Ihre Aufgabe war einfach: in die Bar gehen, Shirley finden und sie irgendwie überzeugen, nach Hause zu kommen. Sie war nicht auf Streit aus. Aber wenn diese Widerlinge aufmucken wollten und ihr dazwischenfunkten, würde sie das regeln. Der Fettarsch wusste nicht, was Ärger war, bevor er sich mit jemandem wie ihr eingelassen hatte. Ihre siebzehnjährige Tochter Carla – die im Moment bei Bells Exmann Sam wohnte, aber in einer Woche nach Acker’s Gap kommen würde, um die Sommerferien hier zu verbringen – hatte es einmal treffend ausgedrückt: »Mom«, hatte Carla gesagt, »wenn du ausflippst, wäre mir der Typ aus diesen Kettensägenmassaker-Filmen lieber als du.«
Die Doppeltür der Bar schwang auf und gab für ein paar Sekunden den Blick in das Innere des Lokals frei – auf die lauten ungehobelten Gäste, die blinkenden roten Lichter, umgeben von schwarzer Dunkelheit. Bell kam es vor wie ein Guckloch in die Hölle.
Ein weiblicher Deputy – klein, stämmig, ohne Hut – kam mit großen Schritten aus Tommy’s Bar und schlängelte sich zwischen den parkenden Autos hindurch. Ihr langes graues Haar war zu einem struppigen Zopf geflochten, der auf ihrer Schulter hing wie ein Haustier. Schwarze Stiefel krachten schwer auf den Kies. Sie hatte die Hand an die Schusswaffe an ihrer breiten Hüfte gelegt, und ein grimmiger Ausdruck von Lass mich die lieber nicht benutzen lag auf ihrem Gesicht.
Die drei Männer zerstreuten sich wie Papierfetzen, die durch einen plötzlichen Luftzug von einem Schreibtisch geweht werden. Fettarsch, der sich ebenfalls eifrig darum bemühte wegzukommen, rappelte sich auf Hände und Knie hoch, krabbelte ein kurzes Stück und zog sich an der hinteren Stoßstange eines schwarzen Dodge Ram 1500 hoch.
Als er und seine Kumpel davonhetzten, nickte der Deputy zustimmend. »’n Abend, Ma’am«, sagte sie zu Bell. »Deputy Sturm. Dachte mir, dass Sie jeden Moment eintreffen könnten.«
»Das Empfangskomitee war schon da.« Bell stieg aus dem Explorer und machte eine Geste in Richtung der tiefen Dunkelheit, die den Parkplatz umgab, ein bodenloser Abgrund, in dem die vier Männer verschwunden waren. Die Dunkelheit wirkte umso bedrohlicher, weil sie so unvermittelt an den grell erleuchteten Platz angrenzte. Es gab nichts dazwischen. Wenn man den hellen Bereich verließ, war es, als stürze man über eine Kante von der Erdkugel. Keine andere Dunkelheit ist wie die sommerliche Dunkelheit, dachte Bell. Endlos.
Sie schauderte. Plötzlich und unerwünscht musste sie an das Tatortfoto denken, das noch auf ihrem Schreibtisch im Gerichtsgebäude lag: Freddie Arnetts schmächtiger Körper, mit dem Gesicht nach unten auf den ölfleckigen Betonplatten seiner Auffahrt, Blut und Gehirnmasse feucht glänzend im samtigen Lichtschein der vorderen Veranda.
»Diese Jungs wollten auch zu mir ein bisschen nett sein«, schmunzelte Sturm. Mit zwei Fingern berührte sie das Dienstabzeichen auf der linken Brusttasche ihres grauen Polyesterhemds. »Aber dann haben sie das gesehen.«
Bell nickte. Genug Small Talk. »Wo ist Shirley Dolan?«
»Da, wo ich sie zurückgelassen habe – hinten in der Bar, zusammen mit einem Haufen Störenfriede, die nun abwarten, ob ich ihnen noch mehr Unannehmlichkeiten bereite und sie vielleicht wegen Trunkenheit und Belästigung einbuchte. Sie haben mich wüst beschimpft.«
»Wie fing es an?«
»Keine Ahnung. Bobo Bolland ist hier mit seiner Band, und anscheinend gibt es überall Ärger, wo der hinkommt. Irgendeiner beschimpft jemanden als fiesen Scheißkerl oder männermordende Hure, und schon spielen alle verrückt.« Zwei weitere Autos schlingerten hintereinander auf den Parkplatz. Die Fahrer mussten wohl das Abzeichen an Deputy Sturms breiter Brust bemerkt haben – aber wahrscheinlich hatten sie eher die Anwesenheit des Gesetzes gerochen, nach langjähriger Erfahrung, diesem auszuweichen –, denn sie wendeten hastig ihre Fahrzeuge und brausten in panischem Eifer zurück auf die Straße.
Sturm nahm kaum Notiz davon. Sie und Bell gingen bereits auf die Tür von Tommy’s Bar zu und hatten anderes im Kopf. »Hören Sie«, sagte Sturm. »Bevor wir reingehen, wollte ich noch sagen … na ja, ich habe von diesem armen alten Mann gehört. Schlimme Sache. Schätze, die Leute in Acker’s Gap sind ziemlich durcheinander.«
Bell nickte. Freddie Arnett hatte mehrere Hiebe mit dem Vorschlaghammer abbekommen. Das war das vorläufige Ergebnis des Gerichtsmediziners, in Anbetracht der Verletzungen und weil die mutmaßliche Tatwaffe neben der Auffahrt im Gras gelegen hatte. Der Überfall war von erstaunlicher Brutalität gewesen. Keine Spuren, kein Motiv, keine Verdächtigen, keine Hinweise. Es war, hatte Bell gedacht, als wäre die Sommernacht selbst aufgestanden und hätte sich Arnett geholt, als hätte die Dunkelheit gerade lang genug Gestalt angenommen, um sich eine passende Waffe zu schnappen und dem alten Mann den Schädel einzuschlagen, um dann wieder zu schwarzer, weicher Masse zu zerfließen.
»Das gibt einem zu denken«, sagte Sturm.
»Ja.«
Sie hatten den Eingang zu Tommy’s erreicht. Bell hörte dumpfes Dröhnen von der anderen Seite der Wand, wilde Gitarren-Licks, die verzerrten Töne aus einem billigen Verstärker und das unheilvolle Insektenbrummen eines Raums voll dicht gedrängter Menschen.
Mit ihrer großen rechten Hand umfasste Sturm den schmutzigen hölzernen Türgriff. Die obere Hälfte der Tür war bedeckt von einem weißen Plakat, mit Reißzwecken befestigt, auf dem mit schwarzem Edding in wackligen Buchstaben geschrieben stand:
HEUTE NACHT!
BOBO BOLLAND AND HIS ROCKIN’ BAND!!!
23 UHR BIS ???
Bell folgte ihr in die Bar – hinein in ein hektisches, stickiges Chaos, wie sie es während eines guten Teils ihres Erwachsenenlebens immer zu meiden versucht hatte. Es erinnerte sie zu sehr an ihre Kindheit, als die Welt groß und schlecht und laut und außer Kontrolle und sie der schwächste, zerbrechlichste Teil war. Die Beute.
Dort war sie.
Shirley Dolan stand am anderen Ende der Bar mit dem Rücken zu dem abgewetzten braunen Tresen, der ein Muster von ineinandergreifenden Ringen aufwies, Abdrücke von feuchten Biergläsern aus mindestens einem Jahrhundert, wie es schien. Lange, dünne graue Haare fielen ihr über den schmalen Rücken. Bell hatte erwartet, dass es ein paar Minuten dauern würde, bis sie ihre Schwester in der lärmenden Menschenmenge entdeckt hätte. Sie hatte gedacht, sie müsste ihren Blick erst einmal über mindestens ein Dutzend schweißglänzender, verschwommen grinsender Gesichter mit winzigen Pupillen schweifen lassen – aber nein. Sie fand sie sofort, obwohl Shirley genauso angezogen war wie alle anderen: Cowboystiefel, enge Jeans, T-Shirt, Flanellhemd über der Hose.
Das Schnapsglas fest gegen ihre Lippen gepresst, nahm Shirley einen langen, hingebungsvollen Schluck. Dann schüttelte sie sich mit Genuss, wie ein Hund nach einem starken Regenguss, als die feurige Flüssigkeit ihr Inneres durchdrang. Sie drehte sich um und knallte das Glas auf den Tresen. Als Shirley sich über die Lippen leckte und sich halb umwandte, trafen sich ihre Blicke. Die dreiköpfige Band in der gegenüberliegenden Ecke hatte gerade mit einem neuen Stück begonnen, und die hämmernden Basstöne ließen das kleine Gebäude erzittern.
Bevor Bell etwas sagen konnte, kam es erneut zu einem Aufruhr. Mehrere Stühle kippten um und fielen krachend auf den roten Betonboden, als die Leute aufsprangen und auseinanderstoben. Drei runde Tische wurden auf den Kopf gestellt, Gläser rutschten herunter und zerbrachen. Eine Frau fing an zu schreien, dann zwei weitere. Die Band hörte mit einem Schlag auf zu spielen, als hätte jemand einen Stecker herausgezogen.
»Oh Gott«, murmelte jemand. »Was zum Teufel«, hörte man einen anderen sagen, und: »Betrunken wie ein verdammtes Stinktier, wie immer. Lass ihn in Ruhe, was soll das.« Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Quietschen einer E-Gitarre, und der dünne Gitarrist mit der großen Nase, der die Saiten mit seinem Ärmel gestreift hatte, legte seine Hand über den Bund.
Schwerfällig teilte die Menge sich und bildete einen z-förmigen Gang, der zu der Quelle des Aufruhrs führte. Ausgestreckt auf dem schmierigen Fußboden, mit dem Gesicht nach unten, lag ein drahtiger, schwarzhaariger Mann in einem blassgelben Flanellhemd und beigefarbenen Cargohosen. Deputy Sturm und Bell setzten sich gleichzeitig in Bewegung. Sturm rief scharf: »Hey, Mister – alles okay?« und ließ sich neben ihm nieder. Ihre Bewegungen waren überraschend flink und effizient für eine Frau mit ihrem Körperumfang. Sie tastete an seinem Hals nach dem Puls. Nichts. Mit beiden Händen drehte sie ihn herum.
Ein Schraubenzieher mit orangefarbenem Griff steckte tief in der Brust des Mannes und war durch die Kraft des Aufpralls zur Seite gedrückt worden, was die Wunde noch weiter aufgerissen hatte. Ein dunkler Fleck breitete sich auf seinem Hemd aus, so unheilvoll wie ein Sturmsystem auf einer Wetterkarte. Sein von Aknenarben überzogenes Gesicht war bleich, das Kinn hing schlaff herunter, die Augen waren weit aufgerissen und sein Blick starr.
Sturm hob den Kopf und sah Bell an. In ihrem Blick lagen Unsicherheit und Fassungslosigkeit. Wenn man so etwas beruflich macht, rief sich Bell in Erinnerung, denkt man, man sei auf alles vorbereitet, aber man ist niemals vorbereitet. Bell spürte Ekel in sich aufsteigen und biss die Zähne zusammen. Kalte Angst warf einen Schatten über ihre Gedanken wie eine Wolke über ein offenes Feld. Zuerst der alte Mann in Acker’s Gap. Und jetzt das. Oh Gott.
Schnell gewann Deputy Sturm ihre Fassung zurück. Immer noch kniend, löste sie das Funkgerät von ihrem Gürtel und schaltete es ein. In der Bar war es unheimlich still geworden – kein Husten, kein Scharren, kein Stühlerücken –, wodurch die wenigen Worte, die Sturm sprach, als sie die Ambulanz rief, so kantig wirkten wie ein Haiku.
Nach dem Funkruf herrschte sie die verblüfften Schaulustigen an: »Kennt irgendjemand diesen Mann? Hat irgendjemand gesehen, was passiert ist?«
Stille.
Deputy Sturm griff in die Tasche des Toten auf der Suche nach einem Ausweis. Als Bell ihr gerade sagen wollte, sie solle Abstand halten, um die Unversehrtheit des Tatorts sicherzustellen, zog sie schon eine kleine weiße Visitenkarte hervor. Jetzt ist es auch egal, dachte Bell und nahm die Karte entgegen. Es hatte schon genug Verunreinigungen am Tatort gegeben, um die Leute von der staatlichen Spurensicherung zu verärgern. Die Typen würden hier in ihrem schicken Van aufkreuzen, sobald die Kriminaltechniker in Charleston ausdiskutiert hätten, wer von ihnen nun die Fahrt über die schlechten Straßen und durch die tückische Dunkelheit übernehmen müsse. Eine so kleine Gemeinde wie diese hatte keine eigene kriminaltechnische Einheit. Man musste warten, bis man dran war, so wie Bell und die Deputys zwei Nächte zuvor hatten warten müssen, als sie hilflos und erschüttert neben Freddie Arnetts zerschmetterter Leiche gestanden hatten.
Bell betrachtete die schwarzen Druckbuchstaben auf der Karte:
Sampson J. Voorhees. Rechtsanwalt. NYC
Keine Telefonnummer, kein Fax, keine E-Mail-Adresse. Merkwürdige Art für eine Anwaltskanzlei, Geschäftsverbindungen zu knüpfen, überlegte Bell. Normalerweise kann man sich vor Kontaktinformationen kaum retten. Ihr Exmann hatte für eine solche Firma gearbeitet. Himmel, hatte sie manchmal gedacht, wenn er die Gelegenheit hätte, würde er das Firmenlogo wahrscheinlich noch auf die Toilettensitze im Herrenklo kleben. Sie drehte die Karte herum. An der unteren Kante war mit blauem Kugelschreiber ein weiterer Name notiert:
Odell Crabtree
Sturm streckte die Hand aus und wollte die Karte zurück, weil sie ein Beweismittel, Teil der offiziellen Bestandsaufnahme, war. Bell hätte sie sich gerne genauer angesehen, fügte sich aber. Das hier war Deputy Sturms Gebiet, Deputy Sturms Ermittlung. Collier County würde hier das Sagen haben, und das war gut so: Raythune County hatte im Moment genug zu tun.
Trotzdem war Bell neugierig. Sie fragte sich, welche Verbindung wohl zwischen einem öffentlichkeitsscheuen Anwalt aus New York City und einer Leiche auf dem Fußboden von Tommy’s Bar in einer schwülen Sommernacht mitten in West Virginia bestehen könnte. Aus diesem Körper auf dem Fußboden war gerade das Leben gewichen, um ihn herum der säuerliche Dunst verspritzten Biers, derbe Witze, lautes Gejohle, dicke graue Wolken von Zigarettenrauch und die stampfende Partymusik von Bobo Bolland and His Rockin’ Band.