Das Wort Freiraum umschließt ganz unterschiedliche Konzepte, weit mehr als bloß den physischen Raum, es beschreibt auch einen mentalen Zustand der Kreativität und Freiheit. 1929 betonte Virginia Woolf, wie wichtig „ein eigenes Zimmer“ für den Erfolg einer Schriftstellerin sei: Freiraum, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, zum Denken und Gestalten. Fast ein Jahrhundert später ist ein eigenes Zimmer noch immer ein Privileg, nicht nur, aber vor allem für Frauen. Ein Virus, das keine Grenzen kennt, hat diese Ungleichheit noch einmal sichtbarer gemacht und damit auch den erbitterten Kampf um Raum und Teilhabe. Wem gehört der öffentliche Raum, welche Regeln gelten und wie werden sie überwacht? Unausgesprochene Fragen, die weltweit zu einem Erstarken von Gated Communities und andere Formen der sozialen Segregation führen. Wer darf den öffentlichen Raum für sich beanspruchen und definieren? Wessen Regeln bestimmen, wie Raum genutzt und geteilt wird? Wie prägt unsere Identität unsere Raumerfahrung?
Die vier internationalen Autor·innen Billy-Ray Belcourt, Besufekad, Intan Paramaditha und Adania Shibli haben 2021 am digitalen Residenzprogramm des LCB teilgenommen und den Begriff des Raums in Gesprächen und im Schreiben erkundet. Die digitale Residenz wurde von Priya Basil kuratiert und vom Auswärtigen Amt gefördert.
Herausgegeben von Priya Basil
Raum. Schaffen oder nehmen?
Zur Politik und Poesie des Raums
Mit Texten von Billy-Ray Belcourt, Besufekad, Intan Paramaditha, Adania Shibli
a mikrotext
Hergestellt mit Booktype
Lektorat: Lara Gross
Coverbild: Oliver Cole, unsplash
Cover: Inga Israel
Schriften: PTL Attention, Viktor Nübel; Gentium Book Basic, Victor Gaultney
www.mikrotext.de
ISBN 978-3-948631-28-4
Eine Publikation des Literarischen Colloquiums Berlin mit freundlicher Unterstützung des Auswärtigen Amtes.
Alle Rechte vorbehalten.
© 2021 mikrotext, Berlin / die Autor·innen
Herausgegeben von Priya Basil
Raum. Schaffen oder nehmen?
Zur Politik und Poesie des Raums
Mit Texten von Billy-Ray Belcourt, Besufekad, Intan Paramaditha und Adania Shibli
Aus dem Englischen, Indonesischen und Arabischen von Eva Bonné, Irina Bondas, Beatrice Faßbender, Gudrun Ingratubun und Günther Orth
Im Deutschen braucht es nur ein T, als poetisch-ontologisches Präludium, und schon wird aus dem Raum der Traum. Das ist mehr als ein schöner, bedeutungsvoller Zufall; es ist eine Notwendigkeit. Denn ist es nicht tatsächlich so, dass jeder bedeutsame Raum, den wir, metaphysisch oder physisch, betreten wollen-müssen-sollten, jeder Raum, der es wert ist, betrachtet-bewohnt-bewahrt zu werden, auch ein Stück Traum in sich birgt? Raum zu schaffen, Raum zu machen-teilen-beanspruchen, bedeutet in gewissem Sinne, andere Visionen unserer Welt zu ermöglichen, Zwischenräume zu erzeugen – Räume, die den Weg hin zu etwas anderem öffnen können.
Die Pandemie hat Fragen rund um Vorstellungen von Raum, Bewegung, Schutz, Sicherheit aufgeworfen oder auch zugespitzt; die Fragen, was privat und was öffentlich ist, was individuell und was kollektiv, was national und was planetarisch. Welche Räume bewohnen wir – willentlich oder unwillentlich? Welche Räume bewohnen uns – wissentlich oder unwissentlich? Welche Räume formen unsere Lebensgewohnheiten, die wiederum Einfluss auf andere Lebensräume haben?
Wem steht es zu, Räume zu definieren-bestimmen-erträumen? Wie können unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Einblicke ins Überleben-Gedeihen-Sterben in unterschiedlichen Körpern und Räumen für mehr von uns sichtbarer-hörbarer-verstehbarer werden? Was braucht es, damit sich alle frei-gleich-gerecht durch die Welt bewegen können? Wo eröffnen sich Möglichkeiten, langjährige Unterdrückungs- und Herrschaftsstrukturen – die so viel Raum einnehmen, die unablässig versuchen, alternative Denk-Traum-Lebensmodelle zu verdrängen – zu identifizieren-zerschlagen-transformieren? Was ist mit den von Verlust-Abwesenheit-Schmerz verwüsteten Räumen in uns und um uns herum? Und was ist der Ort der Stille, der Stille der Verleugnung oder der Vermissten, des Unwiederbringlichen?
Mit Raum findet das digitale Residenzprogramm, welches das Literarische Colloquium Berlin (LCB) 2020 als Reaktion auf die weltweiten Einschränkungen durch die Pandemie ins Leben gerufen hat, zum zweiten Mal statt. Das Programm zielt darauf ab, Möglichkeiten des künstlerischen Schaffens, der Verbindung, Teilhabe und Zugehörigkeit über alle denkbaren Grenzen und Herausforderungen hinweg zu fördern. 2021 lud mich das LCB ein, das Projekt unter dem Thema Raum zu kuratieren. Und so hatte ich das große Vergnügen und die Ehre, vier fantastische Autor∙innen auszuwählen, die den Begriff des Raums im weitesten Sinne erkunden.
Ist die Literatur der ultimative Raum? Des Begehrens-Erscheinens-Verschwindens? Des Liebens? Könnte Literatur ein Raum sein, der niemandem gehört, in dem aber jede∙r so sein kann, als gehöre er ihr∙ihm ganz allein?
Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Was ist ein Reservat?
Eine emotionale Öffnung für die Welt.
Ein Ort, der alle anderen Orte im Siedlerstaat möglich macht.
Wozu macht das mich?
Zu einem Kind, geboren aus dem Graben der Geschichte.
Einfache Erklärung: Die Erde ist nicht rund. Sie hat die Form eines gebrochenen Herzens.
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