Martin Mittelmeier

DADA

EINE JAHRHUNDERT-
GESCHICHTE

Siedler

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Copyright © 2016 by Siedler Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Lektorat: Dr. Antje Korsmeier, München

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-16890-2
V002


www.siedler-verlag.de

INHALT

AUF DER SUCHE NACH DADA

AUFTRETEN

Ich möchte Teil einer Eigenbewegung sein

Schönes neues Pathos

Simultanitätsdolmetscher

Musik liegt in der Kunst

Politik oder Kunst. Oder beides?

Viva Emmy

INTERMEZZO I: STELL DIR VOR, ES IST KRIEG

KUNST MACHEN

Vorbei, vorbei

Transparenzlinienpräzision

Zartes Pflänzchen Kunstgewerbe

Abgesondert

Volkskunst

Es geht wieder los

INTERMEZZO II: ENDSPIELE

ZUSAMMEN KLEBEN

Verschluckte Welt

Feinde ringsum

Befehl zur Freiheit

Welt sammeln

Brüchiger Prophet

Wurstigkeit

Tanz die Lotte Pritzel. Und dann den ollen Wilhelm. Und dann …

INTERMEZZO III: WORTFINDUNGSSTÖRUNGEN

SPRECHEN

Für den eigenen Gebrauch

Allein, allein

Sprachschmutz

Körpersprache

Lockerungsübungen

Also sprach Tzarathustra

Fatagagadada

Arp/Starb

Die drei Musketiere

Null. Nada

Phase zwei

Codes der Gesellschaft

Dada empört sich, regt sich und stirbt in Weimar

INTERMEZZO OHNE WAS HINTENDRAN

ANHANG

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

BILDTEIL

Bildnachweis Bildteil

AUF DER SUCHE NACH DADA

Die Schweiz: ein Ruhepol, eine Oase, ein neutrales Land. Als ein deutscher Offizier mitten im Ersten Weltkrieg, im September 1916, die Grenze passiert, stellt er als Erstes die Uhr eine Stunde zurück, »in die Schweizer Friedenszeit«.1 In Rorschach, seiner ersten Schweizer Station nach dem Grenzübertritt, gönnt er sich ein anständiges Frühstück, weitaus üppiger, als er es sonst in diesen Zeiten bekommt, zum »ersten Mal seit langer Zeit wieder ein saftiges Beefsteak und reichlich Sahne zum Kaffee«.2 Anschließend geht es weiter nach Zürich. Dort bleibt er länger, als er muss, weil er sich nach dem leiblichen Genuss etwas zu Gemüte führen will, das in dieser Art im Ersten Weltkrieg ebenfalls nur in der Schweiz zu finden ist: ein Kabarett aus Künstlern unterschiedlichster Nationalität, von dem er Dinge gehört hat, die sein Interesse weckten.

Es ist kein gewöhnlicher Offizier, der da in Zürich eingetroffen ist, es ist Harry Graf Kessler, ein vermögender Kosmopolit, der, um bei Kriegsbeginn zu seinem Regiment zu stoßen, von London über Paris nach Potsdam reiste; der in ganz Europa nicht nur mit den wichtigsten Politikern, sondern auch mit den jungen, aufstrebenden, aufregenden Künstlern in beständigem Austausch steht. Von dem Zürcher Kabarett hat ihm der Münchener Lyriker Johannes R. Becher erzählt, den Kessler für den genialsten Dichter aus der Generation des Weltkriegs hält, aber auch für eine tragische Figur.3 Becher ist morphinsüchtig, er wirft seiner ehemaligen Freundin Emmy Hennings vor, ihn in die Abhängigkeit getrieben zu haben. Kessler hat in seinem Tagebuch Bechers Charakterisierung von Hennings festgehalten: »Sie lebt Indianergeschichten, denunziert sich selbst u. ihre Freunde der Polizei, nur der Sensation wegen. Hat mit sämtlichen Literaten geschlafen, zwei Litteraturbewegungen inszeniert, Neo Pathetiker u. noch eine, verkauft sich auf der Strasse für 50 Pfennig; Morphinistin u Dichterin. Hat jetzt in Zürich das Kabaret Voltaire. Schläft dort in einem Zimmer mit sämtlichen Artisten u Dichtern des Kabarets, 17 Mann, angeblich aus Armut. Sind acht Monate nicht aus den Kleidern gekommen.«4

Kessler ist Diplomat, er weiß mit solchen Äußerungen umzugehen. Zudem ist er frei von Voyeurismus, von all den angerissenen Dramen interessiert ihn die neue Literaturbewegung am meisten. Vielleicht hat er den Namen der zweiten Bewegung nicht genau verstanden. Oder er hat es nach dem etwas komplizierten Ausdruck »Neo Pathetiker« nicht für möglich gehalten, dass dieser Name so etwas Lapidares, Stammeliges wie »Dada« sein könnte.

Auf jeden Fall ist das Cabaret Voltaire in Zürich weitgehend unbekannt, in Kesslers Hotel hat man davon noch nicht gehört. Kessler lässt sich nicht entmutigen, der Kassierer eines Varietés äußert schließlich die Vermutung, dass es »so Etwas« einmal im »Zunfthaus zur Wage« gegeben habe, in einem der vielen traditionsreichen Zürcher Zunfthäuser auf der wohlhabenden, mondänen Seite der Limmat. Da logiere es aber schon seit acht Monaten nicht mehr, vielmehr sei es nun in die »Meierei« verzogen, in ein »kleines altmodisches Gasthaus am rechten Limmat Ufer«.5 Aber als Kessler dort ankommt, muss er erfahren, dass das Cabaret Voltaire auch hier nur für kurze Zeit stattgefunden habe, die Kellnerin übermittelt ihm die bittere Nachricht, dass es inzwischen »tot« sei.

Egal. Kessler genießt den Gang durch den altertümlichen Stadtteil und die engen Gässchen, genießt die anheimelnde Ansicht, die das Ensemble von Mond, See und Lichtern auf den umgebenden Bergen bietet, und geht in ein anderes Varieté. Ein darin gezeigter Film über die erfolgreiche Atlantiküberquerung des U-Boots »Deutschland« wurde laut Kesslers Notizen »stark beklatscht«.

Uns ergeht es heute, hundert Jahre später, auf der Suche nach dem Cabaret Voltaire und dem, was dort zum ersten Mal mit dem Namen »Dada« bedacht wurde, deutlich besser als Kessler. Es dürfte schwerfallen, ein Zürcher Hotel zu finden, in dem man nicht gewissenhaft Auskunft erhielte über den Beginn von Dada. Womöglich bekommt man einen Dada-Stadtplan, der verhindert, dass man, wie Kessler zunächst, das Zunfthaus zur Waag ansteuert, schließlich war der erste Ort der späteren Dadaisten die Meierei, bevor es nach vier Monaten auf die andere Seite der Limmat ging. Auch sind inzwischen die meisten der Missverständnisse, Erinnerungslücken, Übertreibungen und Fälschungen, die die Dadaisten in Umlauf brachten, identifiziert und aufgeklärt, so dass man Äußerungen wie die von Becher über Hennings als verzerrte Gerüchte goutieren darf. Dada ist penibel und leidenschaftlich erforscht, es hat einen prominenten Platz in der Ruhmeshalle der künstlerischen Avantgarde.

Dada gilt als der explosivste, konsequenteste, schrillste und vielfältigste Versuch, Kunst, Literatur und Sprache aus den Fängen bürgerlicher Ideologie zu befreien, sie der Musealisierung und Intellektualisierung zu entreißen und mit den Forderungen des täglichen Lebens zu konfrontieren. Eine unwahrscheinliche Verbindung von absolut unterschiedlich temperierten und talentierten Künstlern, Dilettanten und sonstigen Lebensstrategen trampelte während und nach dem Ersten Weltkrieg so lange auf den Restbeständen bürgerlicher Kultur und Lebensweise herum, bis diese ihre Überlebtheit eingestehen mussten und das Fitzelchen Irrsinn, das in ihnen versteckt war, herausgaben.

Das Cabaret Voltaire ist tot, behauptet die Kellnerin und damit hat sie vollkommen recht. Zur Zeit des Besuchs von Harry Graf Kessler im September 1916 ist die erste Phase von Dada vorbei. Hugo Ball, der damalige Freund von Hennings und Initiator des Cabarets, hat sich nach Ascona zurückgezogen, die Dadaisten werden auf die kleine Bühne der Meierei nicht wieder zurückkehren. Der Coup bei der Namensfindung »Dada« bestand darin, dass Dada von allen Bedeutungszuschreibungen frei gehalten werden sollte. Das paradoxe Programm war, kein Programm zu haben – was auch der dadaistisch Begabteste nicht lange durchhält. Auch deswegen ist Dada, kaum dass es begonnen hat, schnell wieder vorbei.

Das Cabaret Voltaire ist tot, da irrt sich die Kellnerin natürlich gewaltig. Die Protagonisten des Cabarets werden bald eine eigene Dada-Galerie eröffnen; die Dada-Zeitschrift ist noch nicht erschienen; legendär werdende Zürcher Auftritte stehen erst noch bevor. Zudem schwärmen die Dadaisten bald aus, tragen das Dada-Virus nach Genf, Berlin, Köln und Paris und stecken die ganze Welt damit an.

Noch heute ist »Dada« ein Wort, mit dem jeder etwas anfangen kann, es hat sich von seinen historischen Manifestationen längst emanzipiert und ist in die Alltagssprache eingesickert. Mit diesem Zweisilber kann man sich ganz hervorragend über lustigen Quatsch oder subversive Sprachkunst verständigen: von den weit ausgreifenden und emotional intensiven Anweisungen eines Fußballtrainers, der des Deutschen noch nicht ganz mächtig ist, bis hin zur Rap-Sprechakrobatik werden mitunter eine Vielzahl von Gegenwartsphänomenen unter dem Dach »Dada« versammelt. Und wann immer in europäischen Hauptstädten ein Club gegründet wird, der sich in die Tradition von kultureller Avantgarde, intellektueller Distinktion und libertinärem Kitzel stellen will – von den Salons der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert bis zum New Yorker Studio 54 –, darf das Cabaret Voltaire nicht fehlen.

Insofern ähnelt unsere Situation vielleicht doch der von Kessler. Dada schwirrt durch alle möglichen Träumereien von Befreiungsimpulsen und Subversion. Auf der Suche nach dem Erbe von Dada wird man von dem einen in die Hochzeit des Punk nach London geschickt, wo die von Dada erfundene nihilistische Geste zur Geltung kam – dann wieder wird man mitten in die Happenings der Achtundsechziger hineingeworfen, die die dadaistische Technik der provokanten Aktion ausnutzten.6 Der Philosoph Paul Feyerabend verwandelte die dadaistische Haltung gar in eine grundlegende, anarchistische Gedankenfigur: Einen Fortschritt des Denkens und der Erkenntnis könne es nur geben, wenn man bereit sei, sämtliche Vorannahmen und Erwartungen über den Haufen zu werfen.7 Ist das der unverlierbare Triumph von Dada, dass es so etwas wie eine Essenz von Widerstand zusammengebraut hat: hochexplosiv, schnell wieder vorbei, aber gerade deswegen universell anwendbar?

Jede sympathisierende Erzählung der Dada-Bewegung ist dem großen Reiz dieser Träumerei verpflichtet. Aber sie darf ihm nicht gänzlich erliegen. Denn die Gefahr ist groß, dass all das, was Dada für uns heute interessant macht, unter der Erwartungshaltung der Nachwelt begraben wird und nurmehr eine Art Subversionsfolklore übrigbleibt. Dada sei eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und auf die Bankrotterklärung einer Kultur, die ihn möglich machte: So lautet ein völlig plausibler Dada-Erklärungsreflex. Doch je näher man den einzelnen Protagonisten und ihrer Geschichte kommt, desto vielschichtiger wird die Bewegung. Und desto spannender: Weil Dada so viele und so unterschiedliche Biografien, Interessen und Ausprägungen von Talent aushalten muss, ist das unter dieser Bezeichnung versammelte Ringen mit den Verheißungen, Zumutungen und Abgründen der damaligen Zeit so intensiv, so drängend, so enervierend. Einer Zeit, die noch dazu wesentliche Züge der unseren trägt.8

Eine Phase immensen wirtschaftlichen Wachstums führt zu einem Innovationsschub, der das Alltagsleben komplett umkrempelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sorgen Eisenbahn und Telegraphie für eine rasante Beschleunigung und Ausdifferenzierung der Lebenswelt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die digitale Revolution sämtliche Abläufe des privaten und beruflichen Umgangs verändert. So wie sich mit den Bevölkerungsexplosionen der Großstädte ein neues Verhältnis von Nähe und Distanzierung ausbalancieren muss, erzwingen die sogenannten sozialen Medien eine Neudefinierung des Mit- und Gegeneinander. Nach dem Scheitern der sozialistischen Staatsprojekte hat sich in unserer Zeit das Gefühl des Posthistoire ausgebreitet: die Annahme, dass sich die großen Utopien und geschichtlichen Entwicklungslinien mehr oder weniger erledigt haben. Alles findet gleichzeitig statt, es gibt ein riesiges Durch-, weil Nebeneinander von Lebensentwürfen.

Eben diese Gleichzeitigkeit wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals zu einer Herausforderung für den mentalen Apparat des Normalmenschen. Der zeigt sich dieser Erfahrung nicht sofort gewachsen, die Welt ist derart komplex geworden, dass es dem Einzelnen schwerfällt, mit ihr mitzuhalten. Die Gefahr ist groß, dass der äußeren Unordnung eine innere antwortet: Das Denken werde »zerrissen in 1000 Einzelgedanken, Gedankenmoleküle und Atome, Einzelgedänkelchen, Einzelwesen«,9 schreibt beispielsweise der Schweizer Psychologe Fritz Brupbacher zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Einzelne verliert das Zutrauen, auf irgendeine Weise in die unordentlich und übermächtig gewordene Welt eingreifen zu können. Mehr noch, es wird immer fragwürdiger, ob er überhaupt noch das selbstbestimmte und selbstbewusste Individuum ist, das zu sein er einst stolz glaubte: »Alles was heute der Mensch über sich selber oder über die Welt erfährt, […] wirkt dahin, sein Persönlichkeitsgefühl zu schwächen. Seine Empfindungen, seine Triebe, seine Instinkte – so hört er – sind nicht sein individuelles Eigentum, sondern von seinen Vorfahren ererbt oder von seiner Umgebung bedingt; er ist ihr Durchgangspunkt, die flüchtige Zusammenfassung von Teilen, die im nächsten Augenblick sich zerstreuen und neue Verbindungen eingehen werden.«10 Das schreibt Kessler am Ende des 19. Jahrhunderts, vor der Macht-Analytik eines Michel Foucault und ehe es Algorithmen gab, die Wünsche zu erfüllen drohen, noch bevor man weiß, dass man sie hat.

Die Folge ist das Anschwellen von Ratlosigkeit, Überforderung, Erschöpfung. Der Vorläufer des Burn-out war die um die Jahrhundertwende grassierende Neurasthenie.11 Auch das beunruhigende Phänomen des Umschlagens von Unübersichtlichkeit in eine Gegenbewegung – dass junge Leute sich fanatisieren und in einen Krieg ziehen – kommt uns nicht unbekannt vor. Dies ist die Situation, in der sich im Februar 1916 einige junge Menschen auf einer kleinen Bühne im Zürcher Amüsierviertel in Kleider werfen, aus denen sie einige Zeit nicht mehr herauskommen werden. So ist das Wort von der Jahrhundertgeschichte im Untertitel dieses Buches nicht nur Mimikry an den Gegenstand: ein Bluff, eine maßlos überzogene Behauptung, provokanter Unsinn. Sondern es meint genau dies: dass die Dadaisten das Jahrhundertmatch »Wir gegen die Welt« angepfiffen haben, ein Match, das keineswegs vorbei zu sein scheint.

Die Geschichte von Dada wird umso mehr zu einer Geschichte, die uns noch heute etwas angeht, je genauer man sie einbettet in die Zeit des Jahrhundertbeginns. Deswegen werden die Dadas in diesem Buch von raumgreifenden Auftritten zahlreicher Personen flankiert, die nicht zum Inner Circle der Dadaisten gehören. Das ist auch deswegen unverzichtbar, weil sich die Dadaisten in ihrer Lust auf unmittelbaren Gegenwartsbezug ständig an Zeitgenossen abarbeiten, die inzwischen aus dem geistesgeschichtlichen Kanon herausgefallen sind. Erst wenn man beispielsweise Max Brod, Theodor Däubler, Kurt Hiller oder Salomo Friedlaender neu kennenlernt, werden aus vermeintlichen Unverständlichkeiten konkrete Polemiken und Anspielungen; erst dann konturieren sich die manchmal auch gänzlich undadaistisch aussehenden Strategien, mit denen es die Dadaisten mit den Ideen ihrer Zeit aufnehmen.

So steht zwar im ersten Teil dieses Buches der berühmte Auftritt Hugo Balls im kubistischen Kostüm beim Vortrag seiner Lautverse im Zentrum. Balls Bühne ist in diesem Moment aber nicht nur ein Zürcher Zunfthaus, sondern der Epochenbruch, der sich schon lange vor dem Ersten Weltkrieg ereignet. Der Begriff der Simultanität wird dabei vom modischen Schlagwort für diesen Bruch zur tatsächlich nützlichen Kategorie für die Beschreibung einer als Durcheinander empfundenen neuen Welt. Balls »Vorleben« bis zu seinem Auftritt ermöglicht uns eine Tour de Force durch die ästhetischen Avantgarden, durch die Boheme-Gruppierungen und literarischen Zirkel wie etwa die angeblich von Hennings gegründeten Neo-Pathetiker, die um eine adäquate Haltung zu dieser Simultanität ringen. Die gewichtigen Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Kunst, nach dem Stand der Geschlechterverhältnisse, nach der Möglichkeit von Gemeinschaft – Hugo Ball stellt sie, indem er da steht in seinem kubistischem Kostüm, er stellt sie vehement und beharrlich, da hat er noch nicht einmal zu sprechen begonnen.

Die Dadas durchleben eine Übergangszeit. »Es bröckelt bereits«, schreibt einer von ihnen, »der neue Mensch dehnt sich«, aber wie wird er aussehen, der neue Mensch, wenn er denn endlich die alte Welt durchbrochen hat? Es gibt zum Jahrhundertbeginn ein unüberschaubares Angebot an alternativen Lebenskonzepten, die der rasanten Industrialisierung und wachsenden Unübersichtlichkeit neue Einfachheit, Mystik und Transzendenz entgegensetzen. Womöglich sind das aber nur die Geburtswehen für eine stillere Utopie, für ein lässiges Auf-Augenhöhe-Kommen mit einer Welt voller Möglichkeiten, für eine Entspannung der Geschlechterverhältnisse, für eine Coolness, die viele Europäer in der Neuen Welt und deren Hauptstadt New York vermuten.

Der Elsässer Künstler Hans Arp, ebenfalls einer der vermeintlich 17 Männer des Cabaret Voltaire, ist unser Begleiter durch die utopischen Landschaften zwischen den Lebensreformern in Ascona, den Bemühungen um ein zeitgemäßes, menschenfreundliches – also ideologiefeindliches – Design und der Suche nach der klaren, einfachen Linie, nach einer Kunst, die die Übertreibungen des modernen Persönlichkeits- und Künstlerkults revidiert. Dass die Dadaisten die Kunst für tot erklärt haben, ist ein Gerücht, das sie selbst durch die ständige Produktion von Kunstwerken, Ausstellungen und das Besprechen von Kunstwerken widerlegen. Sie propagieren nicht das Ende der Kunst, sondern den Beginn einer neuen, wie sie sich etwa in einem Relief von Hans Arp manifestiert, das in diesem Kapitel seinen Auftritt haben soll.

Wie aber kommt das Neue in die Welt, wie geht Veränderung vor sich? »Auf die Verbindung kommt es an«, sagt Hugo Ball, »und dass sie vorher ein bisschen unterbrochen wird.« Das Zerlegen des Bestehenden und das Neukombinieren der befreiten Elemente ist eine grundlegende Technik der Dadaisten, sie nimmt sich die Institutionen der Gesellschaft und deren symbolische Codes vor. Je nachdem, wie stark die Welt gerade wütet, kann man das »Unterbrechen« auch ihr selbst überlassen. Krieg, Revolution und deren Niederschlagung erzeugen genug Gesellschaftsabfall, den man als Dadaist dann nur noch einsammeln muss. Am deutlichsten zeigt sich diese Technik in den Collagen – Hannah Höchs »Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands« steht im Zentrum des Kapitels »Zusammen kleben« und ermöglicht uns einen Blick auf das Berlin der Nachkriegszeit und auf das Gerangel zwischen der dadaistisch inspirierten Gruppe um das Cabaret-Gründungsmitglied Richard Huelsenbeck (mit Raoul Hausmann und Johannes Baader) auf der einen Seite und der politisch kämpferischeren Gruppe um den Maler George Grosz auf der anderen.

Die größte und langfristigste Wirkung hatten die so kurzlebigen Dadas im »Unterbrechen« des symbolischen Codes, in der Irritation und Überdehnung konventioneller und ritueller Sprechweisen. Hugo Balls Lautverse sind nur die berühmtesten Unterbrechungen sinnhaften Sprechens, die Dadaisten vollziehen ein ganzes Register von sprachlichen Lockerungsübungen, von denen wir heute noch zehren. Im Kapitel »Sprechen« flankieren diese sprachlichen Dehnungsübungen die Erzählung von den Versuchen des jüngsten Gründungsmitglieds des Cabaret Voltaire, des Rumänen Samuel Rosenstock alias Tristan Tzara, den Geist von Dada nach Paris zu exportieren.

Wenn zum Dadaismus der produktive Umgang mit den Unmöglichkeiten des eigenen Vorhabens gehört, dann sind die folgenden Seiten als durchaus dadaistisch zu begreifen. Jedes Kapitel gehört einem der Gründungsmitglieder des Cabarets, gehört der Stadt, der er die frohe Kunde von Dada bringt, und der Kunstform, die er in der Hauptsache praktiziert – dieser Plan ist natürlich viel zu schematisch, als dass er so ein spontanes und schillerndes Phänomen wie die Dada-Bewegung auch nur annähernd in den Griff bekäme. Deswegen geht das auch andauernd schief, deswegen hat sich schon im zweiten Kapitel mit Ascona ein dezidiert undadaistischer Ort hineingedrängelt, deswegen schieben sich zwischen die Kapitel auch Intermezzi, in denen Anekdoten angehäuft werden, die zwar nicht unbedingt alle wahr sind, aber unbedingt wahrhaftig. Und wenn sich das Wort »Dada« von der Zürcher Gründermannschaft emanzipiert und Künstler auf der ganzen Welt inspiriert, dann verlässt es die engen Grenzen dieses Buches.

»Auf die Verbindung kommt es an«, sagt Hugo Ball, »und dass sie vorher ein bisschen unterbrochen wird.« Nun denn. Raus aus den Kleidern, in denen es sich die Rezeption einiger Dadaisten bequem, aber müffelig gemacht hat, und hinein in die Indianergeschichten!

AUFTRETEN

Hugo Ball im kubistischen Kostüm