Das, was ich jetzt berichten will, soll von dem SCHRECKLICHEN handeln, natürlich soll es davon handeln, aber auch von ein paar anderen Dingen. Schließlich hat das verhängnisvolle Geschehen dazu geführt, dass ich mich an den Sommer von 1962 besser erinnere als an alle anderen Sommer meiner Jugend. Es hat seinen düsteren Schatten auf so vieles andere geworfen. Auf mich selbst und auf Edmund. Auf meine armen Eltern und meinen Bruder, einfach auf alles damals: den Ort draußen auf dem flachen Land mit seinen Menschen, Ereignissen und Meinungen – das hätte ich vielleicht niemals vom Grunde des Vergessens wieder hervorziehen können, wenn es nicht das Unheimliche gegeben hätte, das damals geschah. Das SCHRECKLICHE.
Wo ich nun anfangen soll, was der ideale Ausgangspunkt wäre, das ist eine Frage, an der ich eine Weile zu beißen hatte, es gibt so viele denkbare Möglichkeiten. Schließlich war ich all diese losen Anfangsfäden so leid, all die verschiedenen Einstiege in diesen Sommer, dass ich mich dazu entschieden habe, einfach an einem ganz normalen Tag daheim in unserer Küche in der Idrottsgatan zu beginnen. Nur mit meinem Vater und mir, an einem milden Maiabend 1962. Gesagt, getan.
»Das wird ein schwerer Sommer«, sagte mein Vater. »Am besten stellen wir uns gleich darauf ein.«
Er kippte die angebrannte Soße ins Spülbecken und hustete. Ich betrachtete seinen etwas krummen Rücken und überlegte. Es kam nicht oft vor, dass er mit bösen Prophezeiungen um sich warf, also konnte ich davon ausgehen, dass er es ernst meinte.
»Ich glaube, ich bin satt«, sagte ich und rollte die noch halb rohe Kartoffel auf die Fleischseite des Tellers, damit es so aussah, als hätte ich wenigstens die Hälfte gegessen. Er trat an den Küchentisch und betrachtete die Überreste ein paar Sekunden lang. Ein etwas betrübter Gesichtsausdruck zeigte sich, mir war klar, dass er mich durchschaut hatte, aber trotzdem nahm er den Teller und kratzte ihn über dem Mülleimer unter der Spüle kommentarlos ab.
»Wie gesagt, ein schwerer Sommer«, sagte er stattdessen, wieder seinen krummen Rücken mir zugewandt.
»Es kommt, wie es kommt«, antwortete ich.
Exakt diese Worte waren eines seiner Rezepte gegen alle möglichen Beschwernisse im Leben, und ich nahm sie in meinen Mund, damit er verstand, dass ich ihm eine Stütze sein wollte. Ihm zeigen wollte, dass wir das hier gemeinsam durchstehen würden und dass ich im Laufe des Jahres das eine oder andere wohl doch gelernt hatte.
»Das ist wahr gesprochen«, sagte er. »Der Mensch denkt, Gott lenkt.«
»Wie gesagt«, erwiderte ich.
Weil es ein richtig schöner Maiabend war, ging ich nach dem Essen zu Benny hinüber. Benny war wie immer auf der Toilette, deshalb saß ich zunächst einmal mit seiner schwermütigen Mutter in der Küche.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte sie.
»Es wird ein schwerer Sommer«, antwortete ich.
Sie nickte. Holte ihr Taschentuch aus der Kitteltasche und putzte sich die Nase. Bennys Mutter war während des Sommerhalbjahrs immer mal wieder allergisch. Sie hatte Heuschnupfen, so hieß das. Wenn ich genauer darüber nachdenke, glaube ich, sie hatte das ganze Jahr über Heuschnupfen.
»Das hat mein Vater gesagt«, fügte ich hinzu.
»Ja, ja«, sagte sie. »Kommt Zeit, kommt Rat.«
Zu der Zeit lernte ich, dass die Erwachsenen so zu reden pflegten. Nicht nur mein Vater sprach so, man musste so sprechen, damit man überhaupt dazu gehörte, um zu zeigen, dass man schon trocken hinter den Ohren war. Seit meine Mutter ernsthaft krank geworden und ins Krankenhaus gekommen war, hatte ich mir die wichtigsten Floskeln eingeprägt, damit ich sie nach Bedarf anwenden konnte.
Es kommt, wie es kommt.
Jeder Tag bringt neue Sorgen.
Es könnte schlimmer sein.
Man weiß ja so wenig.
Oder: »Kopf hoch und mit beiden Beinen fest auf dem Boden bleiben«, wie der schielende Karlesson im Kiosk hundertmal am Tag konstatierte.
Oder: »Kommt Zeit, kommt Rat«, à la Frau Barkman.
Benny hieß nämlich auch noch Barkman. Benny Jesaias Conny Barkman. Viele gab es, die fanden, das wäre eine merkwürdige Namensaneinanderreihung, aber er selbst beklagte sich nie darüber.
Ein geliebtes Kind hat viele Namen, pflegte seine Mutter jedes Mal zu sagen und kicherte dabei, dass ihr leberpastetenfarbenes Zahnfleisch zu sehen war.
»Halt die Klappe«, sagte Benny dann immer.
Obwohl ich also schon mit einem halben Bein in der Erwachsenenwelt stand, konnte ich nicht umhin, ich musste mich immer wieder wundern, warum die Leute nicht einfach still waren, wenn sie doch ganz offensichtlich nichts zu sagen hatten. Wie Frau Barkman. Wie der Kiosk-Karlesson, der manchmal, wenn er viele Kunden hatte, sogar beim Luftholen weiterredete, was, um die Wahrheit zu sagen, fürchterlich klang.
»Wie geht es ihr?«, fragte Frau Barkman, als sie das Taschentuch von der Nase genommen hatte.
»Jeder Tag bringt neue Sorgen«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, nicht so gut.«
Frau Barkman knetete ihre Hände im Schoß und hatte ganz feuchte Augen, aber das kam sicher nur vom Heuschnupfen. Sie war eine große Frau, die immer geblümte Kleider trug, und mein Vater behauptete, sie wäre ein bisschen debil. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, und es interessierte mich auch nicht. Es war Benny, mit dem ich reden wollte, nicht seine Mutter mit ihren feuchten Augen.
»Er scheißt ja lange«, sagte ich, in erster Linie, um erwachsen zu wirken und die Konversation weiterzuführen.
»Er hat einen nervösen Magen«, sagte sie. »Den hat er von seinem Papa geerbt.«
Nervösen Magen? Das war das Dümmste, was ich an dem Tag gehört hatte. Ein Magen konnte doch nicht nervös sein? Ich nahm an, dass sie so etwas nur sagte, weil sie debil war, und dass es nichts war, worüber man sich weiter Gedanken machen musste.
»Ist sie noch im Krankenhaus?«
Ich nickte. War nicht der Meinung, dass es Sinn haben würde, weiter mit ihr darüber zu reden.
»Hast du sie besucht?«
Wieder nickte ich. Natürlich hatte ich das. Was dachte sie sich denn? Es war eine Woche her seit letztem Mal, aber so war es nun einmal. Mein Vater fuhr jeden Tag ins Krankenhaus, und das war doch irgendwie die Hauptsache. Das müsste doch sogar so eine wie Frau Barkman kapieren.
»Jaha ja«, sagte sie. »Jeder hat sein Päckchen zu tragen.«
Sie seufzte und putzte sich die Nase. Ich hörte die Toilettenspülung, und Benny kam herausgestürmt.
»Hallo, Erik«, sagte er. »Jetzt habe ich wie ein Pferd geschissen. Wollen wir rausgehen und Scheiße bauen?«
»Benny«, sagte seine Mutter resigniert. »Achte auf deine Sprache.«
»Ja, verdammt, ja«, erwiderte Benny.
Es gab niemanden, der so viel fluchte wie Benny. Niemanden in unserer Straße. Niemanden in unserer Schule. Vermutlich niemanden im ganzen Ort. Als ich in die dritte oder vielleicht in die vierte Klasse ging, kriegten wir eine neue Lehrerin, eine fürchterlich kleinliche mit Unterbiss. Auch noch aus Göteborg. Es hieß, sie hätte eine pädagogische Ader, und am liebsten unterrichtete sie Religion. Als sie sich ein paar Tage Bennys schwefelstinkende Tiraden hatte anhören müssen, beschloss sie, das Problem anzupacken. Mit Zustimmung des Rektors Stigmans und des Klassenlehrers Wermelin durfte sie Benny zwei Stunden die Woche Sprachunterricht geben. Es fing im September an, soweit ich mich erinnere, den ganzen Herbst über waren sie dabei, und zu Weihnachten hatte Benny so ein Stottern entwickelt, dass kein Mensch verstehen konnte, was er sagen wollte. Im Frühling wurde die Göteborgsche gefeuert, Benny fing wieder an zu fluchen, und zu den Sommerferien war der alte Zustand wiederhergestellt.
An diesem Maiabend, als mein Vater gesagt hatte, dass es ein schwerer Sommer werden würde, gingen wir raus und setzten uns in die Zementröhre, Benny und ich. Jedenfalls für den Anfang. Es war wie immer. Die Zementröhre war eine Art Ausgangspunkt für das, was uns im Laufe des Abends noch erwarten würde. Sie lag in einem ausgetrockneten Graben, fünfzig Meter in den Wald hinein, und Gott mag wissen, wie sie dahin gekommen war. Sie hatte einen Durchmesser von ungefähr eineinhalb Metern, war genauso lang, und da sie auf die Seite gekippt war, war sie ein prima Versteck, wenn man in Ruhe und Frieden irgendwo sitzen wollte. Oder wenn man Schutz vor dem Regen haben wollte. Oder wenn man nur ein bisschen überlegen und heimlich einzelne John Silver rauchen wollte, die ein paar Gören gezwungenermaßen für uns in Karlessons Kiosk gekauft hatten. Oder die wir notfalls auch selbst gekauft hatten.
An diesem Abend hatten wir noch ein paar, in einer Dose unter einer Wurzel ganz in der Nähe vergraben. Benny grub sie aus. Wir rauchten andächtig, wie immer. Dann diskutierten wir, was am besten klang. Ziggi oder Lulle. Und wie man die Zigarette halten sollte. Daumen-Zeigefinger oder Zeigefinger-Mittelfinger. Auch an dem Tag kamen wir zu keiner endgültigen Entscheidung.
Dann fragte Benny nach meiner Mutter.
»Deine Mutter«, sagte er. »Oh Scheiße, wird sie ...«
Ich nickte. »Denke schon«, sagte ich. »Vater hat es gesagt. Die Ärzte haben es gesagt.«
Benny kramte in seinem Wortschatz.
»Verdammtes Pech«, sagte er schließlich.
Ich zuckte mit den Schultern. Benny hatte eine Tante, die gestorben war, deshalb wusste ich, dass er wusste, wovon er sprach. Ich selbst hatte keine Ahnung.
Tot?
Wenn ich daran dachte – und ich hatte während dieses kalten, trostlosen Frühlings ziemlich oft darüber nachgedacht –, dann kam ich meistens nur darauf, dass es wohl das sonderbarste Wort war, das es überhaupt gab.
Tot?
Unbegreiflich. Und das Schlimmste war, dass mein Vater genauso wenig Zugriff zu diesem Wort zu haben schien wie ich. Ich hatte es vor nicht allzu langer Zeit bemerkt, als ich ihn das einzige Mal fragte, was es eigentlich bedeutete. Was es beinhaltete, tot zu sein.
»Hmm ja«, hatte er gemurmelt und weiterhin auf den Fernseher gestarrt, der mit leise gestelltem Ton lief. »Das weiß man nicht. Die, die leben, werden sehen.«
»Ein schwerer Sommer«, wiederholte Benny nachdenklich. »Zum Teufel, Erik, du musst mir schreiben. Ich sitze da oben in Malmberg, bis die Schule wieder anfängt, aber wenn du einen guten Rat brauchst, dann weißt du, wo du mich finden kannst.«
Da ging ein Engel durch die Zementröhre. Er war ganz deutlich zu spüren, und ich weiß, dass auch Benny ihn fühlte, denn er räusperte sich und wiederholte sein Angebot mit feierlicher Stimme.
»Verfluchter Mist, Erik. Schreib mir, wie es dir geht.«
Wir teilten noch eine letzte zerknitterte Zigarette. Ich glaube, dass ich später Benny sogar einen Brief geschrieben habe, wahrscheinlich irgendwann im Juli, als es am allerschlimmsten war, aber ich bin mir dessen nicht sicher. Ich weiß jedenfalls, dass er mir nie einen Rat gegeben hat.
Er war nicht so gut mit Papier und Bleistift, der Benny Barkman. Absolut nicht.
In diesem Jahr Anfang der Sechziger arbeitete mein Vater im Gefängnis. Das war wahrscheinlich ein anstrengender Job, vor allem für eine Person mit seiner Empfindsamkeit, aber er sprach nie darüber; wie er sowieso nicht gern über unangenehme Dinge sprach.
Jeder Tag bringt neue Sorgen. Das ohnehin.
Er war Ende der dreißiger Jahre in den Ort gekommen, mitten in der Depression, hatte meine Mutter kennen gelernt und sie ungefähr zu der Zeit geschwängert, als die Welt verrückt wurde und sich selbst zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert an die Gurgel sprang. Mein Bruder Henry wurde am ersten Juni 1940 geboren, mein Vater besuchte seine Ehefrau und seinen Sohn im Krankenhaus drei Tage später, er kam mit frisch gepflückten Maiglöckchen und vierzig Dosen Armeeleberpastete direkt von seinem Regiment oben in Lappland.
So wurde es zumindest immer erzählt.
Er kehrte nie wieder in den Norden zurück. Auf irgendeine Weise gelang es ihm, nachdem sein erster Sohn geboren worden war, sich für den Rest des Kriegs dem Militärdienst zu entziehen. Ich glaube, er gab irgendwie seinem Rücken die Schuld. Bekam dann stattdessen einen Job in einer der vielen Schuhfabriken des Ortes, hier stellte man Winterstiefel für die Armee her, und auf diese Art und Weise trug auch er noch sein Scherflein dazu bei. Ein paar Jahre nach Kriegsende zog die Familie dann in die Wohnung in der Idrottsgatan.
Was mich betrifft, so wurde ich ungefähr acht Jahre und acht Tage nach meinem Bruder geboren, und ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es einen bedeutend größeren Altersabstand zwischen meinem Bruder und mir gab als zwischen ihm und unseren Eltern. Inzwischen, Anfang der Sechziger, wurde mir langsam klar, dass das ein Irrtum sein musste, vielleicht half mir auch die Krebserkrankung meiner Mutter dabei, mir bildhaft klar zu machen, wie es sich wirklich verhielt.
Denn sie waren schon ziemlich alt, meine Mutter und mein Vater. In dem Sommer, in dem meine Mutter sterben sollte, waren sie beide siebenundfünfzig. Zusammen einhundertvierzehn, eine fast Schwindel erregende Zahl. Henry wurde im Juni zweiundzwanzig. Oder war es dreiundzwanzig? Ich selbst wurde vierzehn. So war die Lage, und mein Vater arbeitete inzwischen im Gefängnis, seit man vor eineinhalb Jahren dessen Tore für die gefährlichsten Verbrecher des Landes geöffnet hatte.
Oder besser gesagt, sie hinter ihnen geschlossen hatte.
Er war ein Schließer; ein Wort, das niemand im Ort kannte, bevor der große graue Kasten draußen auf dem Freigelände errichtet worden war.
Wächter, nannte er es selbst. Alle anderen sagten Schließer. Schließer im großen grauen Kasten.
Vorher war er Ledernäher in verschiedenen Fabriken gewesen. Ledernäher war ein Wort, das zu dem Zeitpunkt verschwand, als die letzte Fabrik geschlossen wurde und an ihrer Statt die Schließer kamen. So ging es nun einmal in der Welt zu, das hatte ich inzwischen gelernt. Einige Dinge verschwinden, und andere tauchen stattdessen auf. Ereignisse und alle möglichen Erscheinungen. Und Menschen.
Allein im Kopf ist alles zu finden. Obwohl es manchmal auch den Anschein haben mag, als sei dort etwas verschwunden.
Eine Fabrik, die bis zu dem Jahr noch nicht dicht gemacht hatte, war Sylt & Saft, dort arbeitete meine Mutter. Jedenfalls bis sie krank wurde. Es bringt so einige Vorteile mit sich, wenn man einen Vater in der Schuhfabrik und eine Mutter in der Saftherstellung hat. Man hatte immer flotte Schuhe, und meistens gab es ein riesiges Lager Apfelsaft im Vorratskeller.
Aber in dem besagten Sommer waren diese Zeiten fast vorbei. Einen Vater zu haben, der Schließer war, hatte eigentlich keinerlei Vorteile.
Was meinen Bruder Henry betrifft, so war geplant, dass er studieren und sich dadurch eine Gesellschaftsschicht oder zwei nach oben arbeiten sollte, aber es lief nicht so wie geplant. Er begann zwar in der Oberschule der Provinzhauptstadt. Die hatte einen ehrwürdigen Ruf, nahm nur Jungen auf und lag in einem tausendjährigen Schloss mit einem Burggraben drum herum. So weit lief alles glatt. Er paukte und nahm jeden Tag den Zug hin und zurück.
Aber nach gut zwei Schulhalbjahren haute Henry ab. Es war im Herbst 1957, und es dauerte mehr als ein Jahr, bis er wieder daheim an der Tür in der Idrottsgatan anklopfte, mit einem Seesack und einem Sack Bananen auf dem Rücken. Er war um die ganze Welt gefahren, erklärte er, aber in erster Linie war er in Hamburg und Rotterdam gewesen, und auf den Arm hatte er sich eine Rose tätowieren lassen. Allen war danach klar, dass er nicht viel Lust hatte, sich eine oder mehrere Stufen in der Gesellschaft nach oben zu arbeiten, jedenfalls nicht in der Art und Weise, wie es von ihm erwartet worden war. Meine Mutter weinte, als Henry zurückkam, ob jedoch aus Freude oder aus Kummer über die Tätowierung, die sie nicht mochte, das weiß ich nicht.
Nachdem er sich ein paar Monate ausgeruht hatte, zog Henry erneut los. Befuhr die sieben Meere bis 1960. Dann kam er wieder nach Hause – am gleichen Tag, an dem Dan Waern in Rom über eintausendfünfhundert Meter die Bronzemedaille verfehlt hatte – und sagte, er hätte genug von der Seefahrt. So fing er als Freelance, als freier Journalist, bei der Regionalzeitung Kurren an und verschaffte sich eine feste Freundin. Eine gewisse Emmy Kaskel, die bei Blidbergs Herrenausstatter arbeitete und den schönsten Busen der Stadt hatte.
Vermutlich der ganzen Welt.
Ungefähr zur gleichen Zeit besorgte er sich in der Provinzhauptstadt, die ungefähr zwanzig Kilometer entfernt lag, eine Wohnung, nicht weit von der Zentralredaktion des Kurren. Seine Einzimmerwohnung war ungefähr so groß wie zwei Tischtennisplatten, hatte weder Klo noch fließend Wasser, trotzdem ist anzunehmen, dass Emmy Kaskel ihm in diesem Verschlag ab und zu ihre herrlichen Brüste und auch mehr zeigte.
Jedenfalls nahmen Benny und ich das an.
Aber sie zog nicht mit ihm zusammen. Emmy war zwei Jahre jünger als Henry und wohnte immer noch bei ihren Eltern, diese waren Missionare und bekamen bei Blidberg Prozente. In irgendeiner Form hatte unser halber Ort etwas mit der Freikirche zu tun, deshalb war das kein Grund zur Beunruhigung, meinte Henry, mein Bruder.
Was sie haben wollen, das kriegen sie auch in der Freikirche, pflegte er mit einem schiefen Grinsen zu sagen.
»Ach, du bist das?«, fragte mein Vater, als ich an diesem warmen Maiabend nach Hause kam.
»Ja«, antwortete ich, »ich bin’s nur.«
Es schien, als hätte er noch etwas auf dem Herzen, deshalb setzte ich mich an den Küchentisch mit Apfelsaft vom Vorjahr und etwas Knäckebrot. Ich blätterte in einem alten Reader’s Digest, von denen wir immer fünf Kilo zu Weihnachten geschenkt bekamen von Onkel Wille, der Zwölfter in der schwedischen Schachmeisterschaft geworden war und eine Milchbar in Säflle hatte.
»Es ist schwer«, sagte mein Vater.
»Es ist, wie es ist«, erwiderte ich.
»Du wirst wohl den Sommer in Genezareth verbringen.«
»Von mir aus gern«, sagte ich.
»Das wird schön für dich sein. Ich habe mit Henry geredet. Emmy und er werden auch dort sein und sich um dich kümmern.«
»Ich komme schon zurecht«, sagte ich.
»Ich weiß«, nickte mein Vater. »Vielleicht kommt Edmund ja auch.«
»Edmund?«, fragte ich.
»Warum nicht?«, entgegnete mein Vater und kratzte sich angestrengt am Hals. »Dann hast du etwas Gesellschaft in deinem Alter.«
»Tja«, sagte ich. »Jeder Tag bringt neue Sorgen.«
Das Schulgebäude hatte drei Stockwerke. Es war rechteckig wie ein Schuhkarton und aus gelblichweißen Ziegeln gebaut, die im Laufe der Zeit bräunlich geworden waren. Auf der einen Längsseite gab es einen Kiesplatz, auf dem man in den Pausen Fußball spielen konnte – auf der anderen Seite einen Kiesplatz, auf dem man auch hätte Fußball spielen können, es aber nicht tat.
Auf dieser anderen Seite hielten sich die Antifußballer auf; wie die Mädchen, die sich in immer den gleichen Grüppchen zusammenstellten, verschiedene Sachen untereinander tauschten und kicherten. Genau genommen weiß ich gar nicht, ob sie wirklich etwas untereinander tauschten oder was sie da eigentlich taten, da ich mich immer in einem sicheren Abstand von ihnen befand.
Ansonsten gehörte ich nämlich zu dem Dutzend Jungs, die nicht Fußball spielten und sich nicht jede Pause einsauten. Die Antifußballer. Im Grunde meines Herzens war ich zweifellos ein Sporthasser. Ich konnte nie begreifen, wie all die Fußballspieler eigentlich in jeder Pause Platz auf dem Feld fanden, es muss sich um mindestens fünfzig Jungs gehandelt haben. Aber vielleicht war es ja auch nur die Elite, die wirklich spielte, während die anderen herumstanden, schrien und sich so gut es ging dreckig machten. Ich weiß es nicht. Ich war nie dabei und habe nie zugeguckt. Ich gehörte auf die Mädchenseite, wie gesagt, das war nichts besonders Ehrenwertes, aber ich versuchte mir einzureden, dass es auf der Welt andere Werte gab.
Und ich war keineswegs einsam. Benny war auch dort. Und Snukke. Balthazar Lindblom und Veikko und Arsch-Enok. Sowie noch ein paar.
Und Edmund.
Als ich über ihn nachdachte – nachdem mein Vater den Vorschlag gemacht hatte, dass wir doch den Sommer zusammen verbringen könnten –, fiel mir auf, dass ich eigentlich überhaupt nichts von ihm wusste.
Abgesehen von den üblichen Sachen natürlich. Dass sein Vater Pornoblätter las und dass er mit sechs Zehen an jedem Fuß geboren worden war.
Ansonsten war er ein unbeschriebenes Blatt, das wurde mir jetzt klar. Ziemlich groß und ziemlich kräftig – und mit einer Brille, der immer entweder ein Glas oder ein Bügel fehlte. Wir waren nur dieses letzte Jahr in einer Klasse zusammen gewesen, es kursierten irgendwelche Gerüchte, wonach er eine enorm große Modelleisenbahnanlage hatte und eine riesige Sammlung von Westerngroschenromanen, aber ich wusste nicht, wie viel an diesen Behauptungen dran war.
Sein Vater war Schließer, da fand sich das Bindeglied. Er hatte das ganze letzte Jahr mit meinem Vater zusammengearbeitet, und da hatten sie wohl über den Sommer gesprochen. Und über das eine und andere mehr.
Ich hatte eigentlich keine festeren Freundschaften – abgesehen von Benny möglicherweise, aber der fiel ja für den Sommer aus –, deshalb streckte ich meine Fühler aus, nachdem ich ein paar Pausen um ihn herumgeschlichen war.
»Hallo, Edmund«, sagte ich.
»Hallo«, sagte Edmund.
Wir standen an der Ecke des Fahrradständers mit dem Wellblechdach und traten ohne großen Ehrgeiz Kieselsteine gegen ein paar Mädchenräder.
»Mein Vater hat mir was gesagt«, sagte ich.
»Ich habe es gehört«, sagte Edmund.
»Aha, ja«, sagte ich.
»So ist es«, sagte Edmund.
Dann klingelte es zur Stunde, und mehrere Tage lang sprachen wir nicht mehr drüber. Aber ich fand, es war eine vielversprechende Einleitung gewesen.
Genezareth war kein See. Es war ein Haus, das an einem See lag, und der hieß Möckeln. So heißt er noch heute.
Fünfundzwanzig Kilometer außerhalb der Stadt. Gut zwei Stunden mit dem Fahrrad hin. Gut eineinhalb zurück. Der Zeitunterschied ergab sich durch den Klevabuckel, einem fürchterlichen Muskelfresser von ungefähr dreihundert Metern Länge genau auf halber Strecke.
Es lagen einige Häuser am Möckeln – einem relativ großen und fast kreisrunden See mit braunem Wasser –, aber meistens waren es bewaldete Strände. Genezareth lag auf einer Kiefernlandzunge in ziemlich einsamer, majestätischer Lage und kam von mütterlicher Seite in unsere Familie. Eine baufällige, zweigeschossige Holzhütte ohne jeden größeren Komfort außer einem Dach über dem Kopf und frischem Seewasser in zehn Metern Entfernung. Jeden Winter zerbrach das Eis den Steg, und für den Kahn gab es einen Außenbordmotor, der eigentlich seit meiner Geburt auseinander genommen in einem Schuppen lag.
Meiner sterbenden Mutter gehörte das Haus nicht allein. Es gab noch eine Tante Rigmor, ihr gehörte die Hälfte davon, aber sie war nicht zurechnungsfähig und konnte keine Ansprüche stellen.
Der Grund für Rigmors traurigen Zustand lag in einem traumatischen Unglück während einem der ersten Kriegssommer. Der ging in unsere Familiengeschichte mit der gleichen Selbstverständlichkeit ein wie der Sündenfall in die biblische – sie war mit einem Elch zusammengestoßen, und die Tatsache, dass sie mit einem Fahrrad gefahren war, warf einen starken, fast mythologischen Schein auf das Geschehen. Gemeinsam mit einer Freundin war sie in den Ferien mit dem Fahrrad unterwegs in Småland gewesen, und von irgendeinem Hügel im Hochland war sie zuerst direkt in einen prächtigen Zwölfender gerast und anschließend ins allgemein bekannte Dingle-Irrenhaus an der Westküste gekommen.
Lebenslänglich, wie es schien. Ich hatte sie nur einmal kurz gesehen und fand, sie ähnelte meiner Mutter in keiner Weise. Eher erinnerte sie mich an einen Seehund. Mit Brille statt Schnauzbart, aber ich nahm an, dass man genau so aussehen sollte, wenn man im Dingle saß.
Es ist zwar nicht ganz sicher, dass meine Eltern versucht hätten, Genezareth zu verkaufen, wenn es nicht diese tragische Tante gegeben hätte, aber ich nehme es stark an. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie sich dort draußen wirklich wohl fühlten.
Vielleicht, weil es so unbequem war. Vielleicht, weil meine Mutter nie schwimmen gelernt hatte. Es war ein tiefer See. Zumindest an bestimmten Stellen. Zumindest vor unserer Landzunge.
Wie es sich mit dem ein oder anderen nun auch verhielt, jedenfalls hatte ich an diesem Tag im Mai Probleme, mir vorzustellen, wie der Sommer sich wohl gestalten würde.
Mit Henry und Emmy. Ich konnte nicht an Emmy denken, ohne ihren Busen vor mir zu sehen. Vollkommen bedeckt, aber trotzdem. Und ich konnte ihren Busen nicht vor mir sehen, ohne einen Steifen zu kriegen. So war es nun mal.
Und der Gedanke daran, was mein Bruder wohl mit Emmy Kaskel vorhatte, war ebenfalls nicht so leicht zu bewältigen, oh nein. Genezareth war kein großes Haus.
Und dann noch das mit Edmund. Ich wusste ganz einfach nicht, wie es werden würde.
Obwohl, scheiß drauf, dachte ich. Kommt Zeit, kommt Rat.
Es war ein Donnerstag, als Ewa Kaludis ihre Stelle in der Stavaschule antrat. Wir hatten gerade eine Doppelstunde in der Holzwerkstatt gehabt, und ich hatte letztendlich den Zeitungsständer demoliert, an dem ich seit sieben Monaten gearbeitet hatte. Holz-Gustav war nicht begeistert gewesen, aber ich hatte ein gutes Gefühl. Ich mochte das Werken nicht, weder Nähen noch Holzarbeiten, irgendwie wurde es nie so, wie ich es mir gedacht hatte, und es dauerte immer so verdammt lange.
Wie üblich hing ich mit Benny und Arsch-Enok unter dem Fahrradständerdach herum, wir warteten darauf, dass die Pause zu Ende ging, da tauchte sie auf der Straße auf.
Ich würde ja behaupten, dass ich sie zuerst gesehen habe, aber Benny und Arsch-Enok waren sich genauso sicher, sie wären es jeweils gewesen. Eigentlich spielt das auch keine Rolle, die Hauptsache war, dass sie kam. Auf jeden Fall musste sie zuerst am Fußballplatz vorbeigekommen sein, denn innerhalb weniger Sekunden war die Mädchenseite proppevoll mit Leuten, die glotzend herumstanden. Schmutzige Fußballspieler massenweise.
»Ich glaube, ich bepiss mich«, sagte Benny und sperrte den Mund auf, als säße er beim Zahnarzt Slaktarsson und warte auf den Bohrer.
»Ja, ja, aber ...«, stotterte Arsch-Enok. »Das ist Kim Novak.«
Ich selbst sagte nichts. Zum einen, weil ich normalerweise nicht unnötig den Mund aufmachte, zum anderen, weil es mir die Sprache verschlagen hatte. Es war wie in einem Film. Nur noch besser. Die Biene, die da auf ihrem Moped direkt auf den Schulhof geknattert kam, sah wirklich aus wie Kim Novak. Dickes, weizenblondes Haar, schick hochgesteckt mit einem roten Tuch. Eine dunkle, elegante Sonnenbrille und ein Mund, der so groß und atemberaubend war, dass mir die Knie weich wurden. Schwarze, enge Stretchhose und ein schwarz-rot-kariertes Hemd, das im Wind flatterte.
»Verflucht, ist die scharf«, sagte Balthazar Lindblom.
»Das ist ein Puch«, sagte Arsch-Enok. »Meine Fresse, Kim Novak fegt auf einem Puch auf unseren Schulhof. Küss mich da, wo ich schön bin.«
Dann wurde Arsch-Enok bewusstlos. Er hatte so eine Art leichte Epilepsie und fiel ab und zu um. Es wäre eher merkwürdig gewesen, wenn er dem hier gewachsen gewesen wäre, dachte ich.
Kim Novak stellte ihren Puch aus. Sie stand einen Augenblick breitbeinig über ihm, die Füße im Kies, während sie lächelnd die hundertacht erstarrten Figuren auf dem Schulhof betrachtete. Dann stieg sie ab, schob das Moped elegant auf den Ständer, zog die flache Aktentasche vom Gepäckträger und marschierte quer durch das Wachsfigurenkabinett ins Schulgebäude hinein.
Als sie verschwunden war, drehte ich den Kopf und stellte fest, dass Edmund neben mir stand. Fast Schulter an Schulter, obwohl er etwas größer war.
»Die da«, sagte er mit belegter Stimme. »Die würde ich eine reife Frau nennen.«
Ich nickte. Dachte an die Pornoblätter seines Vaters und nahm an, dass er wusste, wovon er sprach.
Innerhalb von zwei Stunden hatte sich alles aufgeklärt. Die Leute von der anderen Seite der Schule hatten schon lange gewusst, dass Berra Albertsson in die Stadt ziehen würde, vielleicht hatten wir es sogar auch gewusst, zumindest, wenn wir genauer darüber nachdachten. Berra war eine Handballlegende, er hatte mehr als hundertfünfzig Länderspiele mitgemacht, und es hieß, er würde so hart wie mit Kanonenkugeln werfen, dass die Torwarte stürben, wenn sie den Ball an den Kopf kriegten. Nach zwölf Saisons in der obersten Liga und in der Nationalmannschaft wollte er es jetzt etwas ruhiger angehen lassen, indem er Spielertrainer der Handballmannschaft unserer Stadt wurde und sie in die oberste Klasse bringen wollte. Das kapierte sogar jemand wie Veikko, und außerdem war das alles vor ein paar Wochen im Kurren zu lesen gewesen. Kanonen-Berra sollte in eins der Neubauhäuser hinten auf dem Ångermanland ziehen, und er würde am ersten Juli seinen Dienst als Vizechef der Parkanlagen antreten.
Nicht in der Zeitung gestanden hatte, dass er mit Kim Novak verlobt war, und dass sie eigentlich Ewa Kaludis hieß.
Und dass sie die alte, hoffnungslose Eleonora Sintring vertreten sollte, die sich schon Anfang des Monats bei einer Grätsche über den Kasten während der Hausfrauengymnastik den Oberschenkelknochen gebrochen hatte.
Bereits am folgenden Tag ließen einige Fußballspieler eine Liste herumgehen, auf der man sich eintragen konnte, falls man bereit war, der Sintring noch mal ein Bein zu brechen, wenn sie wieder zurückkam. Es war geplant, den Täter unter den Freiwilligen auszulosen, sobald die Sache aktuell werden sollte.
Als Benny und ich uns eintrugen, war die Liste schon ziemlich lang.
An diesem Samstag stieß ich in der Bibliothek auf Edmund.
»Gehst du oft hierher?«, fragte ich ihn.
»Manchmal«, antwortete Edmund. »Na, genau genommen sogar ziemlich oft. Ich lese eine Menge.«
Das konnte schon stimmen. Denn ich selbst ging höchstens einmal im Monat dorthin, weshalb es nicht so verblüffend war, dass wir uns hier noch nie getroffen hatten.
Edmund war ja auch ziemlich neu in der Stadt.
»Was liest du denn am liebsten?«, fragte ich.
»Detektivromane«, antwortete er, ohne zu zögern. »Stagge und Quentin und Carter Dickson.«
Ich nickte. Von denen hatte ich noch nie gehört.
»Und Jules Verne«, fügte er nach einer Weile hinzu.
»Jules Verne ist verdammt gut«, sagte ich.
»Verdammt gut«, stimmte Edmund zu.
Wir starrten noch eine Weile aneinander vorbei.
»Was wird nun mit dem Sommer?«, fragte er dann.
»Was soll damit werden?«, fragte ich zurück.
»Na, das mit dieser Hütte«, sagte Edmund. »Eurem Haus.«
Ich verstand nicht so recht, was er meinte oder worauf er hinauswollte.
»Wieso?«, fragte ich.
Er nahm seine Brille ab und justierte das Klebeband neu, das sie zusammenhielt. Diesmal war das Gestell offensichtlich direkt über der Nasenwurzel gebrochen.
»Ach, Scheiße«, sagte er.
Ich entgegnete nichts. Es verging eine halbe Minute.
»Kann ich nun mitkommen oder nicht?«, fragte er schließlich.
»Mitkommen?«, wiederholte ich. »Wie meinst du das?«
Er seufzte. »Oh, Scheiße, schließlich entscheidest du das doch«, sagte er.
Da kapierte ich.
Und begann mich plötzlich wie ein Hund zu schämen. Bekam direkt eine Gänsehaut, das ganze Rückgrat hinauf.
»Natürlich, ist doch klar«, sagte ich.
Edmund setzte sich die Brille auf.
»Bestimmt?«
»Selbstverständlich«, sagte ich. Die Gänsehaut verschwand. Es entstand eine kleine Pause.
»Toll«, sagte er dann mit der gleichen belegten Stimme wie auf dem Schulhof. »Eh ... findest du Märklin oder Fleischmann besser?«