Werner Kieser

Ein starker
Körper
kennt keinen
Schmerz

GESUNDHEITSORIENTIERTES KRAFTTRAINING
NACH DER KIESER-METHODE

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Inhalt

Vorwort

Wozu brauchen Sie Kraft?

Was ist Krafttraining?

Welchen Nutzen bietet Krafttraining?

Wie entsteht ein Trainingseffekt?

Krafttraining und Leistungssport

Krafttraining für Herz und Kreislauf

Schlank und rank

Krafttraining für die Frau

Alt und stark

Theorie und Konsequenz

Der Stoff, aus dem wir sind

Aktivität und Ruhe bedingen sich gegenseitig

Wie arbeitet ein Muskel?

Quantität oder Qualität?

Muskelschlingen

Kraftkurven

Kraft ohne Muskeln?

Es gibt nur eine Kraft

Das Training nach der Uhr

Einen „Satz“ oder mehrere?

Die richtige Reihenfolge

Ein- und Mehrgelenk-Übungen

Kraftmessung, wozu?

Trainingsprinzipien

Technik

Geschichte des Krafttrainings

Entwicklungsstufen der Trainingstechnik

Wie funktioniert ein Exzenter?

Kritik am „Maschinentraining“

Vorzüge von Kraftmaschinen

Der nächste Fortschritt im Maschinenbau

Muskeln

Die Muskeln des Torso

Die Muskeln der Beine

Die Muskeln der Füße

Die Muskeln der Arme

Übungen

Programme und Methoden

Standortbestimmung

Korrekturprogramm

Erhaltungsprogramm

Programm-Variationen

Vor- und Nachermüdungsmethoden

Negativmethode

Zeitlupentraining („super-slow“)

RPT und PITT-Force®

Teil-(„Split“-)Programme

Trainingsbuchhaltung

Sportartspezifische Trainingsprogramme

Übertraining

Therapie

Chronischer Kreuzschmerz

Knochenschwund (Osteoporose)

Muskuläre Dysbalancen

Probleme des Beckenbodens

Fußprobleme und Sturzrisiko

Flankierende Maßnahmen

Ernährung

UV-Strahlung

Trainingsbekleidung

Selbstwahrnehmung

Der Beruf des Krafttrainers

Hilfe zur Selbsthilfe statt Abhängigkeit

Die Befriedigung im Trainerberuf

Irrtümer und Vorurteile

Literaturhinweise

Register

Werner Kieser ist Diplomtrainer und studierter Philosoph (MA). Er beschäftigt sich seit über 50 Jahren mit dem Thema Krafttraining. In den Achtzigerjahren trainierte er zahlreiche Spitzensportler, darunter mehrere Weltmeister und Olympiasieger verschiedener Sportarten. Später spezialisierte er sich zusammen mit seiner Frau, Dr. med. Gabriela Kieser, auf die Anwendung des Krafttrainings in Prävention und Therapie. Mittlerweile trainieren über 270 000 Kundinnen und Kunden in über 140 Kieser Training-Studios in sieben Ländern. Die aktuellen Standorte finden sich im Internet unter www.kieser-training.com.

Vorwort

Die Bedeutung der Kraft und damit des Krafttrainings wurde erst in den späten Sechzigerjahren erkannt. Und dies fast ausschließlich unter dem Aspekt der Sportvorbereitung. Es vergingen weitere zwei Jahrzehnte, bis der gesundheitliche Nutzen einer starken Muskulatur von den Präventivmedizinern wahrgenommen wurde. Ausdauertraining war lange Zeit die dominierende Empfehlung zur Gesundheitsförderung durch körperliche Aktivität.

Die Sicht der Fachwelt änderte sich vor allem durch zwei empirische Befunde. Erstens zeigte die bemannte Raumfahrt die erstaunliche Geschwindigkeit des Muskel- und Knochenabbaus durch das Ausbleiben der Schwerkraft, deren Widerstand unsere Muskeln auf der Erde täglich überwinden müssen. Zweitens stellten Untersuchungen an betagten Menschen fest, dass die Muskulatur bis ins hohe Alter trainierbar ist und dass viele sogenannte Altersbeschwerden in der Rückbildung der Muskulatur ihre Ursache haben.

Damit hat sich der Bedeutungshorizont des Krafttrainings beträchtlich erweitert. Gesundheitsorientiertes Krafttraining zielt nicht auf die einseitige Maximierung spezifischer sportlicher Leistungen, sondern auf die Optimierung der physikalischen Daseinsbedingungen des Individuums durch einen harmonischen Aufbau und die sachgemäße „Wartung“ des Bewegungsapparates. Die inneren Organe sind lediglich die „Diener“ der Muskulatur. Ihr Funktionieren und ihre Gesunderhaltung bedingt eine Muskulatur, die regelmäßig adäquaten Spannungsreizen ausgesetzt wird. Damit sind die Prämissen dieses Buches definiert.

Zürich, im August 2015

Werner Kieser

Wozu brauchen Sie Kraft?

Schon früh morgens brauchen Sie Kraft. Ohne Kraft kämen Sie nicht aus dem Bett. Oder stellen Sie sich vor, Sie erwachten eines Tages und wären nur noch halb so schwer wie am Abend zuvor (bei gleichem Kraftniveau). Sie hätten das Gefühl, aus dem Bett zu schweben.

Ohne die Kraft Ihrer Muskeln können Sie sich nicht bewegen

Es sind ausschließlich Ihre Muskeln, die Ihnen Bewegung ermöglichen und die Sie tragen. Von deren Kraft hängt es ab, ob Sie Ihren Alltag als körperlich beschwerlich oder als lustvoll erleben, ob Ihr Rücken schmerzt oder nicht, ob Sie dauernd das Gefühl haben, „etwas“ für Ihre Figur tun zu müssen, oder ob Sie sich (und anderen) gefallen, wie Sie sind.

Was ist Krafttraining?

Weil zuerst die Sportler Krafttraining betrieben, wird Krafttraining von vielen Leuten noch immer als eine Sportart betrachtet. Das ist es nicht. Krafttraining ist ein rationelles Mittel zur Erhöhung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Es ist auch nicht eine Ergänzung sportlicher Betätigung, sondern deren Grundlage. Krafttraining vereinigt als Konzentrat all jene Wirkungen sportlicher Betätigung, die wir als „gesund“ bezeichnen. Welche Sportart Sie auch immer betreiben – es sind deren kraftbildende Anteile, die Ihren Körper positiv verändern.

Es mangelt uns nicht an Bewegung, sondern an Widerstand

Wann werden Muskeln stärker? Wenn wir uns bewegen? Das glauben noch immer viele Leute. Darum spricht man auch von einem „Bewegungsmangel“, unter dem wir angeblich leiden. Uns mangelt es aber nicht an Bewegung, uns fehlt der Widerstand. Weil wir mit unseren Bewegungen meistens einen zufällig vorhandenen Widerstand – vornehmlich die Erdanziehung – überwinden, kann Bewegung einen Trainingseffekt haben, muss es aber nicht.

Krafttraining verändert Ihren Körper

Aus diesem Grund ist beim Krafttraining Bewegung als solche von sekundärer Bedeutung. Wichtig ist der Widerstand. Das Training an Maschinen ermöglicht es heute, diesen Widerstand exakt zu dosieren, seinen Verlauf zu steuern, Fortschritt von „Pseudo“-Fortschritt zu unterscheiden, zu objektivieren und zu protokollieren. Krafttraining ist weder besonders unterhaltsam noch sonderlich geeignet, die sozialen Beziehungen zu pflegen. Warum betreiben es dann so viele? Weil es produktiv ist! Mit keinem anderen Verfahren erreichen Sie derart tiefgreifende und auch äußerlich sichtbare Veränderungen Ihres Körpers.

Welchen Nutzen bietet Krafttraining?

Gesundheitsorientiertes Krafttraining verändert Ihre physikalischen Daseinsbedingungen zu Ihren Gunsten. Wenn Sie noch jung sind, schaffen Sie sich mit starken Muskeln ein natürliches „Korsett“, das Sie ein Leben lang stützt und trägt. Wenn Sie schon älter sind, verlangsamen Sie mit Krafttraining die Abbauvorgänge Ihres Körpers und beschleunigen die Aufbauvorgänge.

Die Schwerkraft schwindet

Das Training verhindert den Abbau des Körpers

Je trainierter Sie sind, um so mehr Kraft steht Ihnen pro Kilogramm Körpergewicht zur Verfügung. Vergessen Sie nicht – es ist allein Ihre Muskelkraft, die Sie aufrecht hält, die Treppe hinaufbringt oder Sie trägt. Ohne Muskelkraft rühren Sie sich nicht vom Fleck, jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe. Warum fühlt man sich in der Badewanne so wohl? Weil man sich durch die Wasserverdrängung fast schwerelos fühlt. Ein ähnliches Gefühl als Dauerzustand bietet Ihnen Ihr auf Kraft trainierter Körper: Sie tragen leichter an sich.

Ihr Aussehen verändert sich

Ihre ganze äußere Erscheinung, auch die Art und Weise, wie Sie sich bewegen, wird durch den Zustand und die Form Ihrer Muskeln bestimmt. Schlaffe, untrainierte Muskeln erzeugen eine schlaffe äußere Erscheinung. Alles strebt nach unten. Mit dem Training straffen Sie die Muskeln und damit die Figur.

Sie werden beweglich

Krafttraining an Maschinen belastet den Muskel auch in gedehntem Zustand. Auf diese Weise wird Beweglichkeit effektiver entwickelt als mit Freiübungen. Die vollständige Kontraktion eines Muskels bewirkt wiederum die vollständige Dehnung seines Antagonisten (Beispiel Bizeps/Trizeps).

Sie verbessern Ihr Herz-Kreislauf-System

Krafttraining nach den Trainingsprinzipien (hier) vermehrt die Kapillaren sowie die Mitochondrien und erhöht die Herzleistung. Damit ist eine sinnvolle Infarktprophylaxe gewährleistet, die ein gesondertes Ausdauertraining erübrigt.

Rückenschmerzen verschwinden

Eine starke Rückenmuskulatur verhindert Schmerzen

80 Prozent der Rückenbeschwerden rühren von einer zu schwachen Rückenmuskulatur. Ein starker Rücken kennt keine Schmerzen. Die einzig wirksame Maßnahme zur Vorbeugung und – wie die neuere Forschung zeigt – zur Therapie ist spezifisches Krafttraining. Passive Maßnahmen (Fango, Bäder usw.) verschlimmern längerfristig gesehen das Leiden.

Sie verhindern Knochenschwund (Osteoporose)

Nicht nur die Muskeln und Sehnen, sondern auch die Knochen reagieren auf dosierten Widerstand, indem sie stärker werden.

Sie erholen sich schneller

Krafttraining stimuliert den Aufbaustoffwechsel. Damit verkürzt sich die Rehabilitationszeit z. B. nach Operationen beträchtlich. Da die Muskeln weitgehend isoliert trainiert werden, ist auch dann ein Training möglich, wenn einzelne Gliedmaßen stillgelegt sind, z. B. in einem Gipsverband.

Sie sind gegen Verletzungen besser gewappnet

Trainierte Muskeln weisen eine höhere Dichte auf. Das spezifische Gewicht nimmt zu und damit der Schutz gegen Gewalteinwirkung von außen (Panzerfunktion).

Sie bauen Körperfett besser ab

Wenn Sie weniger Kalorien aufnehmen, als Sie ausgeben, oder mehr ausgeben, als Sie aufnehmen, zwingen Sie Ihren Körper, sich selbst zu verwerten: Sie verlieren Fett und Muskeln. Darum sehen Leute nach einer Hungerkur oft schlechter aus als zuvor. Bei gleichzeitigem Training jedoch erhalten Sie sich die Muskeln, während der Fettverlust sich beschleunigt. Muskeln sind Fettverbrenner.

Sie werden selbstsicher

Die Veränderungen durch Krafttraining greifen tiefer als erwartet. Sie werden gelassener. Sie entwickeln eine Sicherheit, die von innen kommt und sich positiv auf Ihre mitmenschlichen Beziehungen auswirkt.

Ihre Haltung verändert sich positiv

Krafttraining korrigiert Dysbalancen

Eine schlechte Haltung ist das Resultat unausgeglichener Zugverhältnisse der Muskeln untereinander. Unsere Alltagsbelastungen, körperliche Arbeit, aber auch sämtliche Sportarten produzieren durch ihre Einseitigkeit so genannte Dysbalancen. Diese werden mit Krafttraining korrigiert.

Sie erhalten die Kraft im Alter

Dass wir älter werden, lässt sich nicht verhindern, wohl aber, dass wir schwach werden. Eine Hauptursache der Altersbeschwerden liegt im Verlust von Muskelmasse und Knochengewebe. Damit schwindet die Kraft. Sie verlieren die Kontrolle über Ihren Körper und werden ängstlich. Gleichzeitig erhöht sich die Bruchgefahr für die Knochen. Trainieren und erhalten Sie Ihre Kraft – und Sie bewahren sich damit die Kontrolle über Ihren Körper.

Wie entsteht ein Trainingseffekt?

Die Natur beugt möglichen Schädigungen durch vermehrten Anbau von Gewebe vor

Wir haben es alle schon am eigenen Körper erlebt: Nach einer Hautverletzung endet der Heilungsprozess nicht etwa, sondern an der geschädigten Stelle wird weiter Gewebe aufgebaut, es bilden sich Narben und die Haut wird an der ehemals verletzten Stelle dicker, als sie ursprünglich war. Vergleichbares beobachtet man nach Knochenbrüchen und auch nach schweren Blutverlusten. Wissenschaftler sprechen in solchen Fällen auch von einer „überschießenden Reaktion“. Offenbar handelt die Natur in der Absicht, weiteren Schädigungen mit einem vermehrten Anbau von Gewebe vorzubeugen.

Oben: Zu kurze Intervalle bewirken ein rasches Abfallen der Kraft.
Mitte: Zu lange Intervalle bewirken die Rückbildung des Trainingsgewinnes vor dem nächsten Training.
Unten: Beim korrekten Intervall addieren sich die Trainingsgewinne.

Als „Superkompensation“ bezeichnet man das eigenartige Verhalten lebender Systeme, bei erhöhter Beanspruchung mit einem Aufstocken der eigenen Reserven zu reagieren.

Durch Übertraining werden die Muskeln schwächer

Krafttraining macht sich dieses Prinzip zunutze. Eine unmittelbare Schwächung der Muskeln durch ungewohnt hohe Anspannung bewirkt, dass der Muskel in der Folge stärker wird. Diese Reaktion braucht allerdings Zeit. Wird die Erholungszeit zu kurz bemessen, d. h. zu oft trainiert, werden nicht nur die Muskeln schwächer, sondern der ganze Mensch. Insbesondere sein Immunsystem wird bei „Übertraining“ in Mitleidenschaft gezogen. Insofern entspricht die Reaktion auf „zuviel" Training jener von „zuwenig" Training.

Krafttraining und Leistungssport

Noch vor 30 Jahren war Krafttraining den meisten Trainern unbekannt oder zumindest suspekt. Man glaubte, durch „zu viel“ Kraft würden die Athleten unbeweglich und langsam. Doch bald war auch den überzeugtesten „Kraft-Gegnern“ unter den Trainern klar: Wenn alle sonstigen Bedingungen gleich sind, gewinnt der körperlich Stärkere – in jedem Sport. Was sind aber die „sonstigen Bedingungen“?

Vererbte Eigenschaften

Die Länge der Muskeln im Verhältnis zu den Sehnen bestimmt das mögliche Muskelwachstum

Sie mögen 30 Jahre lang täglich Basketball spielen. Wenn Sie nur 165 cm groß sind, werden Sie kaum ein Spitzenspieler werden. Sie mögen Muskeln haben wie Arnold Schwarzenegger: Wenn Sie lange Arme und lange Beine haben, werden Sie nie ein guter Gewichtheber. Sollten Ihre Beine im Verhältnis zum Rumpf relativ kurz sein, ist Ihnen eine sportliche Karriere beispielsweise als Hochspringer für immer versagt. Wenn Ihre Muskelbäuche (der mittlere Teil eines Muskels zwischen den Sehnenübergängen) relativ kurz sind im Verhältnis zur Länge der Sehnen, ist das Dickenwachstum Ihrer Muskeln derart limitiert, dass Sie es mit allem Training und aller Chemie dieser Welt nie zum Bodybuilding-Champion bringen werden.

Spitzensport ist die Auslese von genetisch spezialisierten Individuen. Obwohl dieses Feld für Trainer und Wissenschaftler hochinteressant ist, hat es keine gesundheitliche Bedeutung. Vielleicht einer unter zehntausend Männern hat die genetischen Voraussetzungen für die Muskelentwicklung eines „Mr. Universum“. Zur Veranlagung zählen auch neurophysiologische Fähigkeiten, wie beispielsweise die in vielen Sportarten ausschlaggebende Reaktionsschnelligkeit.

Umwelteinflüsse

Sportliche Erfolge sind nur aufgrund einer entsprechenden Veranlagung möglich

Kindheitserlebnisse, Erziehung, soziales Umfeld und Gesellschaftssystem prägen die Wertvorstellungen eines Menschen und damit seinen Charakter. Durchhaltewillen und Ausdauer (als Charaktereigenschaft) können zweifellos den sportlichen Erfolg fördern, sind aber nur wirksam vor dem Hintergrund einer entsprechenden Veranlagung.

Koordination

Koordination ist die Steuerung der Muskeln durch das Nervensystem

Auch die beste Veranlagung kommt jedoch erst mit Übung zum Tragen. Hier liegt die größte Reserve des Menschen. Das Meistern von Bewegungsaufgaben, sei es Kugelstoßen, Boxen oder Klavierspielen, erfordert Koordination. Damit bezeichnet man die Steuerung der Muskeleinsätze durch das Nervensystem. Was uns im Alltag als selbstverständlich erscheint, wie z. B. aufstehen, gehen oder sich hinsetzen, stellt sich bei näherem Betrachten als hochkomplizierte, vom Nervensystem genau synchronisierte und fein dosierte Kette von Einzelbewegungen heraus, an denen eine Vielzahl von Muskeln in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt sind. Solche Bewegungsmuster werden erlernt, durch häufige Wiederholung von unzweckmäßigen Nebenbewegungen bereinigt, „eingeschliffen“ und schließlich im Hirn als abrufbare, so genannte bewegungsempfindliche Erinnerungsbilder gespeichert. Sie heißen Engramme und sind spezifische „Verdrahtungen“. Einmal verinnerlicht, fallen uns solche Bewegungen leicht: Man führt sie schließlich unbewusst aus; eine mit viel Aufwand erlernte Bewegung läuft automatisch ab.

Bewegungsmuster sind immer aufgabenspezifisch. Es findet keine Übertragung auf ähnliche Abläufe statt. Die beste „Übung“ für den Fußballer ist Fußballspielen. Enthält sein Pensum andere koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten wie z. B. Hindernisläufe, Radfahren, Schwimmen usw. trägt dies nichts zu seinen Fähigkeiten auf dem Fußballplatz bei.

Verändert Kraft den Stil?

Krafttraining macht schneller und beweglicher

Vorurteile haben ein zähes Leben. Noch gibt es Trainer, die befürchten, ihren Athleten würde Krafttraining schaden. Diese Ängste haben sich weitgehend als unbegründet erwiesen. Krafttraining macht schneller und beweglicher. Trotzdem sind gewisse Vorbehalte nicht ganz unangebracht, weil sich mit der veränderten Kraft auch die Statik der Kräfte des Bewegungsapparates verändert. Dies kann sich – zumindest vorübergehend – negativ auf die sportliche Leistung auswirken. Warum?

Wir neigen dazu, die stärkeren Muskeln zu belasten und die schwächeren zu schonen

Die Art, wie ein Mensch sich bewegt, sein „Bewegungsstil“, ist Resultat und Ausdruck der Kraftverhältnisse seiner Muskeln untereinander. Wir neigen dazu, unsere stärkeren Muskeln häufiger zu belasten als die schwächeren. So hat jeder sich mit seinen Stärken und Schwächen eingerichtet und seinen Stil gefunden. Werden diese Kräfte verändert – sei es nach oben oder nach unten –, haben die alten Bewegungsmuster zum Teil keinen Sinn mehr oder sind nicht mehr zweckmäßig. Bis neue eingeübt sind, dauert es einige Monate. In dieser Übergangsphase ist die Koordination nicht optimal.

Stellen Sie sich vor, Ihr Einkommen würde sich in kurzer Zeit verdoppeln. Erst allmählich würde sich Ihr Lebensstil ändern. Nach einiger Zeit jedoch würden Sie auf „größerem Fuß“ leben. Ähnlich kann es Ihnen ergehen, wenn Sie Ihre Kraft verdoppelt haben: Sie bewegen sich noch eine Weile so, als wären Sie schwächer, als Sie sind, und nutzen die neuen Ressourcen nur mangelhaft. Wenn Ihre Koordination sich jedoch auf das neue Kraftniveau eingestellt hat, sind die „Störungen" verschwunden.

Kraft lässt sich nicht „mischen"

Bewegungsabläufe mit Zusatzlasten nachzuahmen verschlechtert die Koordination und bringt nur minimalen Kraftzuwachs

In diesem Zusammenhang muss auf ein in der Sportvorbereitung gängiges Verfahren hingewiesen werden, dessen Beliebtheit leider nichts an der Tatsache ändert, dass es falsch ist. Es handelt sich um die Imitation sportlicher Bewegungsabläufe unter erschwerten Bedingungen. Im Streben nach Praxisnähe empfiehlt mancher Trainer dem Speerwerfer, mit einem schwereren Speer zu üben, in der Hoffnung, dass sein Schützling dadurch eine Kräftigung erzielt und danach den leichteren Speer weiter schleudert. Auch das Hochsprungtraining mit einer Bleiweste oder das Üben des Starts beim Sprint gegen den Zug eines Gummiseiles sind Beispiele für dieses Verfahren. Wie schon gesagt, handelt es sich bei Koordinationsprozessen um äußerst komplexe Steuerungsvorgänge, die an gleichbleibende äußere Bedingungen gebunden sind. Werden solche Bewegungsabläufe unter erschwerten Bedingungen geübt, bildet sich allmählich ein neues Erinnerungsbild, das vom „alten“, richtigen, d. h. im Wettkampf benötigten, geringfügig abweicht. Gerade die Geringfügigkeit der Abweichung birgt die Gefahr einer „Entgleisung“, einer Störung des zweckmäßigen Bewegungsablaufes im Wettkampf. Außerdem ist der mit diesem Verfahren erzielbare Kraftgewinn minimal, weil sich die Belastung auf zu viele Muskeln verteilt und dadurch die Spannung in den meisten Einzelmuskeln unter der Reizschwelle zu liegen kommt.

Brauchen Leistungssportler ein spezielles Krafttraining?

Kraft kann nicht sportartspezifisch trainiert, wohl aber das Trainingsprogramm sportartspezifisch zusammengestellt werden

Dem Muskel ist es egal, wozu seine Kraft dient. Er befindet sich in einem labilen Gleichgewicht zwischen Aufbau und Rückbildung. Sie wächst, oder sie wächst nicht. Die Kraft kann nicht sportartspezifisch trainiert, wohl aber das Trainingsprogramm sportartspezifisch zusammengestellt werden. Es gibt auch keine verschiedenen „Kräfte". Sowohl für Sportler wie für Nichtsportler lautet die sinnvolle Maxime für das Krafttraining: kurz und bis zur (lokalen) Erschöpfung, aber nicht zu oft.

Für die Koordinationsschulung gilt jedoch das Gegenteil: So oft wie möglich, aber nie bis zur Erschöpfung, weil sonst falsche Bewegungsmuster eingeübt werden.

Bei der Übungsauswahl für ein sportartspezifisches Programm ist die Grundsatzentscheidung zu treffen: Soll das Programm die sportliche Leistung maximieren oder soll es das durch die Sportart erzeugte Ungleichgewicht der Kräfte kompensieren? Jede Sportart beansprucht bestimmte Muskeln mehr als andere. Dies führt zu sogenannten muskulären Dysbalancen und damit früher oder später zu Problemen mit dem Bewegungsapparat. Diese Einseitigkeit ist durchaus im Sinne der Leistungsmaximierung, nicht aber im Sinne einer Optimierung der physikalischen Daseinsbedingungen des Sportlers.

Bodybuilding