Buch

Leicht und melodisch erzählt Danijela Pilic von den Winden, dem Meer und den Farben ihrer Heimat, von ihren Dichtern, Bildhauern und Erfindern. Aber auch von den blutigen Grenzen, dem Exil als Überlebensstrategie und dem Pulverfass voller Lebensfreude, warum sie Sitzen auf unfertigen Mäuerchen immer einem langen Spaziergang vorziehen wird und wie es sich anfühlt, verschiedene Identitäten aufeinanderzupacken wie Schichten in einem Kuchen.

Autorin

Danijela Pilic wurde 1971 in Split (Kroatien) geboren. 1981 zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Seit Abschluss ihres Studiums im Fach Writing an der Middlesex University in London ist sie als Journalistin und Redakteurin in den Bereichen Mode, Lifestyle und People tätig. Von 2008 bis 2009 war sie Editor At Large bei Vanity Fair, seit 2009 schreibt sie ein Stilblog auf glamour.de. Zurzeit leitet sie das Ressort Schönheit bei myself. Ihr erstes Buch »Yoga Bitch« erschien 2010. In »Jetzt rede ich schon wie meine Mutter!« (2012) erzählt sie, wie aufregend und komisch erste Male sein können. Danijela Pilic lebt und arbeitet in München.

Im Goldmann Verlag ist von Danijela Pilic außerdem erschienen:

Jetzt rede ich schon wie meine Mutter!

Danijela Pilic

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Sommer
vorm Balkan

Mein Leben
zwischen Alpen und Adria

1. Auflage

Originalausgabe Juni 2015

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2015 der Originalausgabe
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagabbildungen: FinePic®, München

und Privatarchiv der Autorin (Mija Adamovic, circa 1968)

KF · Herstellung: Str.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-16021-0

www.goldmann-verlag.de

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Für mein Land und meine Leute
und für Dan

Inhalt

Prolog

Teil I
Von Vorfahren und Winden

Das Wiedersehen

Der Palast

Der Bildhauer

Die Statue

Der Dichter

Die Festung

Teil II
Mit Tränen in den Augen
kannst du nicht
in die Zukunft blicken

Die Reise

Die Ankunft

Die Sprache

Der Marschall

Teil III
Es war einmal ein Land.
Dann war es nicht mehr.

Der Balkan

Das Exil

Die »Situation«

Das Genie

Krieg

Epilog

Prolog

Das Jahr war 1990, und darin taten sich große Dinge. Im Jahr zuvor war die Mauer gefallen, Deutschland stand kurz davor, seinen Westen und seinen Osten wie zwei Stücke eines viel zu simplen Puzzles, auf dessen Lösung womöglich gerade ob ihrer Banalität zu lange kein Mensch gekommen war, zusammenzufügen, somit seine schlanke Taille zu verlieren und sich zugleich, wenn man so will, der Figur Helmut Kohls anzupassen. Die fetten Jahre waren nicht vorbei, nicht hier, sie sollten erst noch beginnen, nicht nur für mein neues Land, sondern auch für mich: Ich war einen Monat nach dem Fall der Mauer volljährig geworden, und die Freiheit, die man in jenen Nächten gefeiert hatte, schmeckte ich jeden Morgen unabhängig von der Geschichte, die um mich herum geschrieben wurde, jeden Morgen, nur für mich in meinem Mund, und sie schmeckte nach unendlichen Möglichkeiten der Zukunft, nach allem, was vor mir lag, nach dem Jahreszeitenwechsel zwischen Sommer und Herbst, nach einer Mischung aus Wehmut und Vorfreude, und ich grüßte sie mit den Worten: Guten Morgen, Übermorgen.

Zur gleichen Zeit stand meine Heimat, Jugoslawien, kurz vor dem Kriegsausbruch. Die Vorahnung eines Kriegs war so unheilvoll und unfassbar wie nichts zuvor in meinem achtzehnjährigen Leben, und das glich, vielleicht nicht unüblich für eine Abiturientin im München der frühen neunziger Jahre, einer Liebesparade. (Genau zu dieser Zeit wurde auch die echte Love Parade erfunden. Wer war es, der gesagt hat, Zufälle seien Gottes Möglichkeit, anonym zu bleiben?) Sich mit einem realen Krieg auseinanderzusetzen war für mich, wie für wahrscheinlich jeden jungen Menschen des späten 20. Jahrhunderts, kaum vorstellbar. Mein Leben damals: Kollegstufe, die Klassiker lesen, lernen, raven, knutschen, sich um halb sieben unten in der U-Bahn-Station Münchner Freiheit treffen, mit den Eltern um mehr Freiheit/Geld/Respekt streiten, Augen rollen, Führerschein – beim ersten Anlauf! – schaffen. Das Foto, das mich aus dem rosagrauen Lappen ansieht, auf einem Papier, das fünfundzwanzig Jahre später immer noch den gleichen speckigen Glanz hat wie nach einer Woche, zeigt ein aufmüpfiges Gesicht, von einer Dauerwelle umrahmt, mit einem unbedingten Glauben in den Augen, den nur die wirklich Jungen haben können: dass die Welt uns gehört, dass alles gut werden wird, dass wir unseren Weg finden und gehen werden.

»Führerschein« – das war so ein Wort, das den Unterschied des Eingelebtheitsgrads zwischen meinen Eltern auf der einen und meinem Bruder und mir auf der anderen Seite eindeutig indizierte. Meine Eltern zuckten bei »Führer« jedes Mal zusammen und verharrten, als würden sie sich sogleich sehr gerade hinstellen und dann kräftig die Hinterseiten ihrer Fersen aneinanderklacken, während mein Bruder und ich entspannt blieben, weil es uns nicht weiter überraschte, dass auf das Wort »Führer« das Wort »schein« folgte.

Ich war angekommen, zwar nicht bei mir, aber hier, in diesem Land: Deutschland.

Dann kam der Brief an.

Sein Umschlag war nicht Normal-Weiß, sondern Zugestellt-Gelb, vielleicht war es auch ein Behörden-Grün oder Justiz-Blau, jedenfalls handelte sich um eine Farbe, die auf postalisch wichtigmachte und die man wegen aufkommender Panik gar nicht erst öffnen wollen würde, sondern auf einen Stapel legen und dann nachts in kaltem Schweiß deswegen aufwachte – natürlich erst, wenn man erwachsen war, nur wusste ich das damals noch nicht. Ob meiner Jugend hatte ich noch nie einen solchen Brief erhalten. Wie es sich herausstellen sollte, würde ich nie wieder einen Brief mit solchem Inhalt erhalten. Ich öffnete ihn.

Sehr geehrte Frau Pilic,

Diese Anrede gefiel mir sehr gut. Ich wurde mit Frau-plus-Nachname angesprochen und gesiezt, und zu Hause wurde ich »wie ein Kind behandelt!« (Ich.) »Dann benimm dich halt nicht so!« (Meine Eltern.)

Der Inhalt des Briefes besagte in sehr umständlicher Sprache, dass mir hiermit die deutsche Staatsangehörigkeit angeboten wurde, und Glückwunsch auch dazu.

Und mit einem Mal musste ich mich entscheiden.

Nicht dass jemand gedacht hätte, eine Entscheidung würde noch ausstehen, vor allem meine Eltern nicht. Sie waren es, die drei Jahre zuvor den Antrag gestellt hatten, in meinem minderjährigen Namen, in jener Villa in Bogenhausen, die Adolf Hitler 1935 für Eva Braun gekauft hatte und in der sich nun das jugoslawische Konsulat befand – ein Geschenk des deutschen (meines neuen) an den jugoslawischen (meinen alten) Staat. (In einer interessanten zeitgeschichtlichen Parallele standen beide Staaten vor rasanten Veränderungen, die ihre Grenzen betrafen; einer würde vereint, der andere zerstückelt werden.) Das jugoslawische Konsulat hatte also den Auftrag erhalten, mich aus der Staatsbürgerschaft zu entlassen. Ob es nun daran lag, dass sie sehr langsam arbeiteten, oder ob sie jeden Jugoslawen und jede Jugoslawin, jene Nationalität, die es so bald nicht mehr geben würde, daran hindern wollten, das sinkende Schiff zu verlassen – in jedem Fall hatte der Vorgang sehr lange gedauert. Für einen Teenager sind drei Jahre lang genug, um etwas so Entscheidendes völlig zu vergessen.

Für meine Eltern war die Sache nicht einfach, aber logisch: Die doppelte Staatsbürgerschaft gab es nicht, also musste man sich für eine entscheiden. Ich brauchte den deutschen Pass, denn hier würde ich sehr wahrscheinlich bleiben, und sie wollten mir ermöglichen, dass ich das ohne Schwierigkeiten und Schikane tun konnte. Außerdem, keine kleine Sache: Jugoslawien stand ein Krieg bevor. Wir hofften zwar, dass das durch irgendein Wunder verhindert werden könnte, alles hätten wir dafür gegeben, daran gerade noch vorbeizuschrammen, doch die Schwierigkeiten, die sich für mich auftaten als Tochter einer Serbin und eines Kroaten machten ihre Entscheidung von einer Herz- flugs zu einer Kopfsache. 1990 gab es in Deutschland vielleicht Zeit für Nostalgie, bei uns nicht.

»Scheiß drauf«, sagte ich und knallte den Brief hin. »Ich mach das nicht.«

Meine Mutter sah von ihrer Illustrierten auf, die sie stets sehr elegant blätterte, sanft und müde lächelnd, denn meinen Ausruf Scheiß drauf, ich mach das nicht hörte sie in dieser Zeit ständig.

Weil sie nicht reagierte, spezifizierte ich meine Weigerung.

»Scheiß drauf, ich mache das nicht, das mit dem deutschen Pass.«

»Waaaas? Nikola, komm sofort her«, schrie sie, und mein Vater schrie aus dem ersten Stock zurück: »Was? Wieso, was ist denn jetzt schon wieder?«

»Danijela will den deutschen Pass nicht annehmen.« (Somit war klar, dass die Sache ernst war, denn wenn ich mit Danijela – statt Elja – bezeichnet und/oder gerufen wurde, handelte es sich um Dringlichkeitsstufe eins im Gebiet der Kinderwiderborstigkeit.)

Mein Vater stürzte die Treppen hinunter, und beide plärrten auf mich ein, vernünftig solle ich sein, und was sei denn nur los mit mir und so weiter. Und ich dachte nur:

Mein armes Land, es ist im freien Fall. Ich kann es doch nicht jetzt im Stich lassen.

»No way. Ich bin Jugoslawin«, sagte ich bestimmt und gar nicht zickig, wirklich nicht.

»Ja und? Der neue Pass ändert doch nichts daran.«

»Ich will aber meinen Pass nicht hergeben.«

»Warum? Du weißt doch, was bei uns los ist. Was meinst du, was erst passiert wenn …«

Ich wollte sie das Wort nicht sagen lassen und unterbrach: »Weil ich aus Jugoslawien stamme.«

»Das wirst du immer.«

»Deine Herkunft kann dir niemand nehmen.«

Und immer wieder:

»Kind. Komm doch zur Vernunft! Es ist nur ein Stück Papier.«

»Wenn es nur ein Stück Papier ist, kann es euch doch wurscht sein, welches ich besitze.«

Und immer wieder:

»Außerdem bin ich volljährig und darf selbst entscheiden!«

Wochenlang ging das so. Die Argumente meiner Eltern, das sehe ich heute, waren gleichermaßen von Liebe und Angst bestimmt, denn es wäre nicht nur töricht, sondern womöglich auch gefährlich gewesen, die deutsche Staatsangehörigkeit nicht anzunehmen. Wer weiß schon, wie sich so ein Krieg entwickelt, wie lange er dauert, wie weit er wütet, welche Opfer er fordert; all das, was theoretisch immer so erschreckend wie hanebüchen ist, war für uns mit einem Mal zum Greifen nah.

Alles wurde praktisch und persönlich.

Letzten Endes entschieden weder sie noch ich, sondern indirekt ein besonders blöder Beamter des KVR München. Das KVR (Kreisverwaltungreferat) an der Poccistraße – genau dort, wo ich heute, nach vielen Zwischenstationen, fünfundzwanzig Jahre später lebe – war, soweit ich mich richtig erinnern kann, damals sehr unbeliebt und erfüllte schon rein optisch das Klischee einer riesigen kafkaesken Behörde: lange graugrüne Gänge, ein trister Ficus benjamina hie und da, schlechte Luft, Eau de Verzweiflung, volle Wartesäle, geflüsterte Sätze. Die jungen Münchner meiner Generation regten sich immer darüber auf, dass das KVR »fei scho wieder einen geilen« Laden dichtmachte und grundsätzlich daran interessiert zu sein schien, München ein cooles Nachtleben und eine Subkultur zu untersagen (was natürlich nicht gelang, denn Trotz kann ein großer Ansporn sein). Ich fand mich nun im KVR in der Rolle eines stempelsuchenden Ausländers wieder. Nix mehr coole Abiturientin, voll integriert und so, sondern mit einem Mal Bittstellerin mit fremdländisch klingendem Namen.

Da ich nun volljährig war, musste ich meine Aufenthaltsgenehmigung selbst verlängern lassen. Ich saß in einem Wartesaal der Ungewissheit, nicht wirklich meiner, sondern der der anderen: Ihre Nummern wurden aufgerufen, und an einem Schreibtisch, auf dem ein Katzenkalender stand, entschied ein Fremder über ihr Schicksal: ob nun für sechs Monate Ruhe war oder für ein Jahr, ob Familien zusammenbleiben würden, ob man arbeiten durfte. Oder eben nicht, und was dann?

Das alles bestimmte der zuständige Beamte. Meiner hatte eine kräftige krause Prollmatte auf dem Kopf und lächelte mich recht freundlich an.

»So, Frau ääh Pillitsch, hehe. Du wollen Stempel, he?«

Ich war perplex. Noch nie hatte jemand so mit mir gesprochen. Warum der Deppen-Infinitiv? Natürlich: weil er konnte.

»Wie bitte?«, fragte ich.

Und er wieder: »Du Stempel wollen?« Diesmal sagte er es etwas langsamer.

Ich wollte nicht frech sein, sondern ehrlich wissen: »Warum reden Sie denn so mit mir?«

»Wie denn? Wös?«

»Na ja, so … falsch?«

»A so! Ja Kruzitürken, woher soll i denn wissen, dess du Deitsch konnst!«

Ich beherrschte »Deitsch« zwar besser als er, doch er war es, der über meinen Verbleib in diesem Land urteilte. Also hielt ich die Klappe, wahrscheinlich auch aus Überforderung, denn so etwas war mir noch nie passiert. Und ich würde sicher nicht zulassen, dass es mir noch einmal passiert.

Ich weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn er mir die Aufenthaltsgenehmigung verweigert hätte. (Nicht auszudenken! Dann hätten meine Eltern total Recht behalten.) Doch ich wusste, dass ich solch eine Willkür nicht noch einmal über mich ergehen lassen wollte, dass ich für mich beschließen wollte, wo ich leben und mit wem und wie und wohin ich reisen, wo ich studieren wollte. Das wurde mir mit einem Mal sehr klar, und ich tat das, was vernünftig war. Ich hielt den Mund, ließ mir den Stempel geben und nahm kurz darauf die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Meine Eltern ließen zwar ein paar Erleichterungsseufzer raus, doch sie hielten sich zurück mit dem »Warum nicht gleich so« und »Ich hab’s dir ja gesagt«. Dafür war die Sache zu wichtig. Wie wichtig, würde sich erst noch zeigen.

Und so wurde in dem ersten Jahr der Neunziger, des grauenvollsten Jahrzehnts meines in grauenvollen Jahrzehnten so erprobten Landes, aus mir eine deutsche Staatsbürgerin, mit einem Gefühl der Verbundenheit meinem neuen Land gegenüber und diesem Stück Papier, das es mir gegeben hatte, dank dessen ich frei leben und reisen konnte, und auch mit einem Gefühl der Schuld, einen Verwundeten auf der Flucht liegen gelassen zu haben. Völlig irrational der Gedanke, natürlich, denn wäre ich Jugoslawin auf dem Papier geblieben, hätte das den Verlauf der Geschichte kaum beeinflusst, höchstwahrscheinlich nicht – wobei dies nicht wirklich ein Gedanke war, eher ein Zustand, der zur Folge hatte, dass mir die Wichtigkeit meiner Wurzeln fortan stets bewusst war. Eine Erkenntnis lieferte die Sache auf jeden Fall und schob den Migrationshintergrund fortan in den Vordergrund: Auch wenn das ganze Leben und das eigene Schicksal ein Labyrinth waren, der Ausgangspunkt waren die Wurzeln. Sie bestimmen nicht nur, woher du kommst, wie du aussiehst, woran du dich erinnerst, wie rastlos du bist, wie du alterst, sondern auch, was du bist, warum du bist, wo du bist, und außerdem: wohin du gehst, wie häufig du das Ziel änderst und wie leicht dir Letzteres fällt. Gut, dass ich die Wichtigkeit der Wurzeln erkannte, denn in den Jahren, die folgten, würde mir die Frage nach meiner genauen Herkunft sehr häufig gestellt werden, denn je klarer sich die Kriege abzeichneten, desto interessanter wurde sie für andere Menschen.

Man ist mehr als die Summe seiner Teile, doch was ist, wenn sich die Teile völlig und konstant verändern?

Um das nachzuvollziehen: Ein Blick nach hinten, scharf und eindeutig und heiter wie ein Sonnenstrahl, der sich unverzagt durch eine schwarze Wolke drängt.

Teil I

Von Vorfahren und Winden