Zum Buch:
Binnen Stunden können unsere Grundrechte suspendiert werden – dies hat die durch das Sars-CoV-2-Virus ausgelöste Pandemie uns vor Augen geführt. Hans-Jürgen Papier drängt beharrlich darauf, sich kritischer mit den Folgen dieser Entwicklung auseinanderzusetzen, die er für unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung befürchtet. Dabei hat die Pandemie nur Symptome verstärkt, die schon vorher wahrnehmbar waren: Der Freiheit, die wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genießen, ist ihre selbstverständliche Gewissheit abgekommen.
Hans-Jürgen Papier untersucht die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Facetten der Freiheit, und zwar stets mit dem Bezug auf unsere Verfassung, deren oberster Zweck die Freiheit ist.
Er beobachtet besorgniserregende Verschiebungen im Hinblick auf das, was wir politisch als verhältnismäßig empfinden. Durch die sich rasant beschleunigende Globalisierung und unter dem Druck von Klimawandel und Digitalisierung sind unsere Grundrechte stark unter Beschuss geraten. Tendenz steigend: Die politische und gesellschaftliche Bereitschaft, Sicherheit, Gesundheits- oder Klimaschutz gegen die bürgerlichen Freiheitsrechte auszuspielen, wächst.
Papier warnt vor Gefahren, die sich im Zuge der Auseinandersetzung um Terrorgesetzgebung, in der Sozial-, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik für die Freiheit ergeben, und er schlägt Lösungen vor, die es erlauben, die Freiheit des Einzelnen – den obersten Zweck der Verfassung – zu wahren und mit den Gemeinwohlbelangen in Einklang zu bringen. Dabei kommt er im Detail zu überraschenden Einsichten, während er mit Blick auf die Zukunft mahnt: Die Freiheit zu verteidigen wird für Politik und Gesellschaft zu einer immer wichtigeren Aufgabe – und zu einer wachsenden Herausforderung.
Zum Autor
Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier wurde im Februar 1998 zum Vizepräsidenten und im April 2002 zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Wegweisend in seiner Amtszeit war unter anderem das Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung – ein weitreichender Richterspruch zum Schutz der Freiheitsgarantien der Bürger. Nach 12 Jahren schied Prof. Papier 2010 aus dem Bundesverfassungsgericht aus und nahm seine frühere Tätigkeit als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München wieder in vollem Umfang auf. Seit 2011 ist er emeritiert und nach wie vor in der Lehre tätig.
Hans-Jürgen Papier
Freiheit in Gefahr
Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können
Unter redaktioneller Mitarbeit von Holger Heiland
Wilhelm Heyne Verlag
München
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Originalausgabe 2021
Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Annalisa Viviani
Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Stefan Linde
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie,
unter Verwendung eines Fotos von: Kay Blaschke / Penguin Random House Verlagsgruppe
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-27480-1
V001
www.heyne.de
Inhalt
Einleitung
Die Sache mit der Freiheit
Kapitel 1
Corona: Szenen einer Politik im Krisenmodus
Covid-19: Ein Virus hebelt unsere Grundrechte aus
Die Pandemie als Echtzeit-Labor: Politik basiert auf der Interpretation von Wissen
Zwischen Freiheit und Sicherheit: Die Verhältnismäßigkeit politischen Handelns
Schwierige Entscheidungen, fragwürdige Maßnahmen
Wenn Grundrechte zu Privilegien werden
Das Verstummen der Parlamente
Regieren und lavieren
Jenseits von Corona
Kapitel 2
Systemvergleiche
Das chinesische Modell
Neue Unübersichtlichkeit: Ein Einfallstor für Populisten
Starke Männer, Fake News und gespaltene Gesellschaften
Lehren aus der Rechtlosigkeit und ein Blick zurück über die Mauer
Kapitel 3
Rückblick: Wie der freiheitliche Verfassungsstaat entstand
Die Geburtsstunde der politischen Freiheit
Freiheit oder: Die Zähmung des Leviathan
Der Rechtsstaat: Von der Idee zur politischen Wirklichkeit
Das Grundgesetz: Einigkeit und Recht und Freiheit
Die Doppelfunktion der Grundrechte
Freiheit als Zweck der Verfassung
Kapitel 4
Meinungsfreiheit unter den Bedingungen der Digitalisierung
Meinungsfreiheit, Fake News und Demokratie
Meinungen, Schmähungen und Tatsachen
Grenzen der Meinungsfreiheit
Presse- und Rundfunkfreiheit – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Meinungsfreiheit im Internet
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz
»Cancel Culture« – Absagen statt aushalten?
Kapitel 5
Der freiheitliche Verfassungsstaat und die Wirtschaftsordnung
Das Kapital des 21. Jahrhunderts: Big Data
Wenn zu viel freier Wettbewerb die Freiheit des Wettbewerbs bedroht
Eingriffe des Staates dürfen nicht zur Bedrohung des freien Wettbewerbs werden
Sicherung der Grundversorgung als Staatsaufgabe
Die Verfassung lässt Spielraum in Bezug auf unsere Wirtschaftsordnung
Ein Sonderfall: Die Energiewirtschaft
Staatliches Handeln: Zwischen zu viel und zu wenig
Der Datenkapitalismus als Bedrohung von Freiheit und Demokratie
Ungenutzte Gestaltungsspielräume
Kapitel 6
Freiheit und Verantwortung
Chancen und Risiken der Freiheit
Der Ruf nach einer neuen Kultur des Scheiterns
Regulierungsneigung und Überregulierung
Persönliche Verantwortung und zivilgesellschaftliches Engagement
Aufgaben des Staates und der Bürgerinnen und Bürger
Kapitel 7
Freiheit, Föderalismus, Selbstbestimmung
Die Bundesländer und ihre Eigenstaatlichkeit
Die Schwächung der Länder
Freiheit und Gleichheit in der Schule
Der DigitalPakt Schule und die Politik der offenen Hand
Neue Länder braucht das Land
Kapitel 8
Der Wert der Freiheit in der Europäischen Union
Integration als Staatsziel
Das Prinzip der Subsidiarität
Mehr Freiheiten und ihr Preis
Vervielfachter Grundrechtsschutz und Schutzlücken zwischen den Instanzen
In der EU wird es kompliziert
Kapitel 9
Freiheit und Daseinsvorsorge
Soziale Sicherheit als Staatsaufgabe
Altersarmut bekämpfen – aber bitte systemkonform und gleichheitsgerecht
Funktionieren sollte es schon …
Nehmen wir Nachhaltigkeit in die Verfassung auf!
Kapitel 10
Die Zukunft unserer Freiheit
Wie gefährdet ist unsere Freiheit?
Parlamentarische Demokratie und Autoritätshörigkeit
Globalisierung und Nationalstaat
Bildung als Menschenrecht und Voraussetzung von Freiheit
Freiheit braucht Kultur
Freiheit und ihre Voraussetzungen
Nachweise
Einleitung
Die Sache mit der Freiheit
Ob in Hamburg, München, Frankfurt oder Dresden, in Wustrow, Füssen, Mettmann oder anderswo – für uns Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland ist Freiheit vor allem eins: eine Selbstverständlichkeit. Selbst wenn den meisten von uns bewusst ist, dass wir nicht jede spontane Idee jederzeit sofort verwirklichen können, gehen wir doch davon aus, dass wir grundsätzlich die freie Wahl haben, das heißt in unseren Entscheidungen über die Gestaltung unseres Lebens und unseres Alltags frei sind. Selbstverständlich bestimmen wir, wo wir wohnen oder wann wir das Haus verlassen; mit wem wir einen Kaffee oder ein Bier trinken, selbstverständlich lassen wir uns nicht diktieren, wen wir lieben und mit wem wir befreundet sein sollen. Ob wir in die Kirche, die Moschee oder die Synagoge gehen, ist in unser eigenes Ermessen gestellt. Wie wir unsere Meinung bilden, sie äußern und verbreiten, ist unserer Entscheidung überlassen. Selbstverständlich sind uns auch die freie Wahl der Ausbildung, des Studiums, des Berufs, der Arbeitsstätte sowie das Recht auf freien Erwerb von Eigentum und nicht zuletzt das Recht auf freie Wahl der Partnerschaft anheimgestellt. Und reisen können wir im Großen und Ganzen, wie und wohin wir wollen.
Wie bedeutsam unsere Freiheit und die Grundrechte, die sie absichern, für unsere Lebensgestaltung sind, wird sofort und schmerzlich spürbar, wenn sie eingeschränkt werden. Genau diese Erfahrung machen wir in Deutschland seit Mitte März 2020, nachdem von einem Tag auf den anderen als Reaktion auf die pandemische Ausbreitung des neuartigen SARS-CoV-Virus öffentliches Leben und Wirtschaft in der Bundesrepublik flächendeckend heruntergefahren und die meisten unserer Freiheitsrechte, über die wir uns im Alltag kaum Gedanken machen, ausgesetzt oder stark eingeschränkt wurden. Diese Zeit der Restriktion war zwar zunächst nur von einer begrenzten Dauer, Lockerungen folgten, und die schrittweise Rückkehr in Richtung Normalität wurde angestrebt. Doch im Herbst 2020 folgte der nächste sogenannte Lockdown, und trotz aller Bemühungen und entgegen der ursprünglichen Beteuerungen der Regierenden war Ende April – sechs Monate später – immer noch kein Ende in Sicht. Es zeigte sich, dass der Weg bis zur Aufhebung aller Restriktionen auch mit Zulassung der ersten Impfstoffe noch einige Zeit in Anspruch nehmen würde.
Wie kein anderes Ereignis machte die Pandemie uns deutlich, dass es uns mit unseren Grundrechten beziehungsweise Freiheitsrechten in etwa so geht wie mit der Luft zum Atmen: Sind sie vorhanden, nehmen wir sie nicht wahr, fehlen sie, leiden wir unter diesem Mangel. Friedrich Schiller hat diese paradoxe Erfahrung bereits vor über zweihundert Jahren in Worte gefasst, als er schrieb: »… die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt.«1
Ist uns, weil wir als Gesellschaft so lange daran gewöhnt sind, frei zu sein, das Bewusstsein für Freiheit und ihren Wert abhandengekommen? Verstehen wir Freiheit nur noch im konsumistischen Sinn von Freisein in der Wahl von Konsumgütern? Haben wir, während wir uns ständig mit den neuesten Kleidermoden und Einrichtungstrends, Freizeit- und Reisemöglichkeiten beschäftigen und permanent aufgefordert sind, uns zwischen dieser und jener Bedürfnisbefriedigung zu entscheiden, aus den Augen verloren, dass Freiheit auch eine politische Dimension hat?
Vielleicht. Wir brauchen nur einen Blick auf die ehemalige DDR und die anderen untergegangenen Systeme des Ostblocks zu werfen: Dort war der Wunsch nach Reise- und Meinungsfreiheit die wesentliche Triebkraft für das Erstarken der Bürgerrechtsbewegungen; dazu herrschte aber auch in vielen anderen Bereichen des Lebens häufig schmerzlich empfundene Unfreiheit, so für viele etwa bei der Studien- und Berufswahl oder der Möglichkeit, sich außerhalb des bestehenden Parteiapparats mit seinen Hierarchien und Zwängen politisch zu betätigen. Und schauen wir uns um: Es gibt immer wieder Länder und Weltregionen, in denen die herrschenden Regime ihre Politik auf unmittelbare Gewalt oder religiöse Dogmen gründen. Im Iran oder im Königreich Saudi-Arabien, aber auch in Ägypten, dem Jemen, den palästinensischen Gebieten, Indonesien, Pakistan, Malaysia, dem Sudan und in Teilen weiterer afrikanischer Staaten existieren etwa islamische Religionspolizeien, die aus der Scharia abgeleitetes Recht zur Unterdrückung abweichender Meinungen durchsetzen, wobei die Anwendung von Körperstrafen keine Seltenheit ist. Insbesondere den Frauen werden hier viele von uns als selbstverständlich erachtete Rechte vorenthalten.
Welche Freiheiten statthaft sind und für wen sie gelten, ist und war immer umkämpft und hängt von vielen Faktoren, wie dem Stand des Wissens und der Wissenschaften sowie den vorherrschenden gesellschaftlichen Einstellungen, ab. So verfügten die Bürger in den antiken Demokratien über ethisch wohlbegründete Freiheitsrechte, die sie vor tyrannischer Willkür und Unterdrückung schützten, was aber nicht für die Sklaven galt, die unter Zwang deren Wohlstand erarbeiten mussten. Sie hatte man aus dem philosophischen und rechtlichen Diskurs über die Freiheit ausgegrenzt, und so kamen sie auch nicht in den Genuss ihrer Segnungen. Wer meint, bei diesem Beispiel handle es sich um eine längst überholte Fragestellung, ein philosophisches und rechtliches Problem, das sich seit vielen Jahrhunderten erledigt habe, braucht nur in unser Nachbarland Schweiz zu schauen, das sich selbst als Musterland der Demokratie begreift und erst 1971 das Wahlrecht für Frauen eingeführt und somit das Recht auf politische Mitbestimmung auf den weiblichen Teil der Bevölkerung ausgeweitet hat.
Mich persönlich hat das Thema Freiheit mein gesamtes berufliches Leben begleitet. Als Staatsrechtswissenschaftler, insbesondere aber als Richter, als Richter des Bundesverfassungsgerichts und schließlich als dessen Präsident, war ich immer wieder damit befasst, zu untersuchen und zu beurteilen, was Freiheit für das Zusammenleben der Menschen bedeutet, wie sie in unserer Verfassung, dem Grundgesetz, verankert ist und unser Rechtssystem überhaupt erst begründet. Viele Male galt es dabei abzuwägen, wie die Spannungen ausbalanciert werden können und sollen, die sich ergeben, wenn staatlich garantierte Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt mit Belangen des Gemeinwohls, etwa den ebenfalls wichtigen Sicherheitserfordernissen, in Konflikt geraten – wenn es zum Beispiel darum geht, das Leben von Bürgerinnen und Bürgern vor terroristischer Bedrohung oder den Folgen von Umweltzerstörungen und anderen Katastrophen zu schützen. Das ist selten eine leichte Aufgabe für die Entscheider – wie jetzt in der Corona-Pandemie beobachtet und erfahren werden kann. Ganz pauschal möchte ich aber schon an dieser Stelle sagen, dass die wesentliche Bedeutung der Freiheit für unsere staatliche Ordnung und unser Selbstverständnis immer als Maßstab genommen werden muss.
Was es bedeutet und wie entscheidend es ist, frei zu sein, erfuhr ich bereits in jungen Jahren. Aufgewachsen im West-Berlin des Kalten Krieges, habe ich den Mauerbau und viele weitere Aspekte des DDR-Unrechtsregimes aus nächster Nähe erlebt. Angesichts militärisch aufgerüsteter Grenzanlagen und langer Stunden Wartezeit im Transit bekam die Idee von Freiheit für mich eine besondere und persönliche Bedeutung. Ich erinnere mich noch heute, wie wir in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit unserem VW-Käfer bisweilen stundenlang am Grenzübergang Babelsberg auf die Einreise in die DDR oder, wenn wir, aus dem Bundesgebiet kommend, die DDR durchquert hatten, auf die Einreise in unsere Heimatstadt warteten. Hier mussten wir, als die Reihe endlich an uns war, unser gesamtes Gepäck ausladen, und die Grenzsoldaten durchsuchten akribisch den Wagen. Dabei hoben sie sogar die Rückbank wegen darunter vermuteter geschmuggelter Waren, Dokumente oder gar Republikflüchtlinge an. Selbstverständlich waren wir und insbesondere unsere Kinder immer froh, wenn wir das hinter uns hatten und an den Grenzsoldaten mit ihren Maschinenpistolen vorbei waren.
Hätte ich nur wenige Kilometer weiter östlich gelebt und meinen Bildungsweg statt in West-Berlin in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, absolvieren müssen, wäre mir das Studium der Rechtswissenschaft mit Sicherheit verwehrt gewesen, da meine Eltern nach DDR-Diktion nicht zur Arbeiterklasse gehörten. Als Sohn einer Bäckermeisterfamilie hätte ich wohl als Angehöriger der »Bourgeoisie« gegolten und als solcher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht studieren dürfen. Nach meiner ersten juristischen Staatsprüfung 1967 in Berlin machte ich dort mein Referendariat und wurde Assistent bei Staatsrechtsprofessor Karl August Bettermann an der Freien Universität Berlin. Es war die Zeit der APO und der Studentenunruhen. Als Referendar hatte ich nur wenig direkte Berührungspunkte mit den Protesten. Ich erinnere mich aber, dass ganze Semester lang wichtige Lehrveranstaltungen ausfallen mussten, weil die Hörsäle verbarrikadiert waren. Für Studentinnen und Studenten hieß das unter anderem, dass Klausuren nicht geschrieben und Scheine nicht gemacht werden konnten, sie also in ihrem Fortkommen empfindlich behindert wurden. Professor Bettermann erging es wie vielen seiner Kollegen auch, er wurde bei den sogenannten Streiks mitunter sogar durch physische Gewalt an der Lehre gehindert. Heute wundere ich mich angesichts dieser Ereignisse manchmal, wenn es heißt, Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft nähmen rasant zu. Als 1967 der Besuch des Schahs von Persien bevorstand, der wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen international in der Kritik stand, herrschten in Berlin mancherorts durchaus bürgerkriegsähnliche Zustände; wenn man den Kurfürstendamm entlangfuhr, sah man an manchen Tagen rechts und links brennende Autos. So konnte man mitten im »Schaufenster des freien Westens« das Entstehen rechtsfreier Räume beobachten.
Nach der Promotion 1970 und der zweiten juristischen Staatsprüfung 1971 habilitierte ich mich zwei Jahre später an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über die Grundrechtseingriffe und ihre Rechtsformen – ein Thema, das mich nicht mehr loslassen sollte – und nahm 1974 den Ruf der Universität Bielefeld auf die Professur für Staats- und Verwaltungsrecht an. Dort war ich später Mitbegründer und Erster Leiter des Instituts für Umweltrecht. 1992 erhielt ich den Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München, beschäftigte mich schwerpunktmäßig weiter mit deutschem und bayerischem Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentlichem Sozialrecht und damit mit der Frage, wie der gesellschaftliche Wandel und unsere grundgesetzlich-freiheitliche Verfasstheit sich gegenseitig beeinflussen.
Neben der akademischen Tätigkeit übernahm ich bereits früh mehr und mehr praktisch ausgerichtete juristische Ämter und Aufgaben, so von 1977 bis 1987 als Richter im Nebenamt am Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen. In einer Zeit, in der der Terrorismus des Deutschen Herbstes die Republik in Atem hielt, fällten wir dort Grundsatzurteile insbesondere zum Umweltschutz, in Rechtsgebieten also, die damals ganz neu erschlossen werden mussten.
In den Neunzigerjahren – von 1991 bis 1998 –, nach der friedlichen Revolution in der DDR und dem Fall der Mauer, war ich mit der Aufarbeitung des DDR-Unrechts befasst. Als Vorsitzender der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR konnte ich hier, anschließend an meine persönlichen Erfahrungen aus der Jugendzeit, ausführlich Einblick in die Strukturen und Verfahrensweisen dieses wenig freien Systems nehmen.
1998 wurde ich zum Richter und Vizepräsidenten sowie Vorsitzenden des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts gewählt und im Jahr 2002 nach dem Ausscheiden von Jutta Limbach zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Vor allem infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika begann die Politik damals auch in Deutschland, die staatlichen Sicherheitsgesetze gewaltig auszubauen. Wesentliche Stichworte in diesem Zusammenhang lauteten: Großer Lauschangriff, Vorratsdatenspeicherung, Onlinedurchsuchung, Luftsicherheitsgesetz, Rasterfahndung nach sogenannten Schläfern, anlasslose Erfassung von Kfz-Kennzeichen im öffentlichen Straßenverkehr und Telekommunikationsüberwachung durch die Nachrichtendienste. Als Richter und Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hatte ich darüber mitzuentscheiden, inwieweit diese Gesetze der neuen Sicherheitsarchitektur verfassungsgemäß waren. Mit einiger Genugtuung kann ich sagen, dass das Bundesverfassungsgericht damals sehr deutliche Zeichen für die Freiheit und gegen eine überbordende Sicherheitspolitik gesetzt hat.
Auch heute noch denke ich, dass wir unsere seit der Aufklärung erkämpften Freiheiten nicht leichtfertig verspielen sollten. Unsere Grundrechte – und damit die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürgerinnen und Bürger – bilden das Rückgrat unserer Demokratie. Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit scheint mir auf die Dauer, allen Verfechtern autoritärer Maßnahmen und »illiberaler« Demokratieauffassungen zum Trotz, kaum erstrebenswert. Statt für Gerechtigkeit und Ausgleich zu sorgen, würde sie auf lange Sicht unweigerlich eine Herrschaft der Mehrheit oder einer straff organisierten Einheitspartei über die Minderheiten und politisch Andersdenkenden zementieren. Erst die rechtsstaatlichen Elemente unserer Verfassung sichern die Einzelnen vor staatlicher Willkür und garantieren ihnen ihre Freiheit. Hierfür bindet das Grundgesetz die Gesetzgebung (die Legislative), die vollziehende Gewalt (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative) gleichermaßen an die verfassungsmäßige Ordnung und an Recht und Gesetz. Einst als Provisorium in Reaktion auf die Erfahrungen aus der rechtlosen Terrorzeit des Nationalsozialismus für das freie Westdeutschland entworfen, hat das Grundgesetz nun bereits seit über siebzig Jahren für Stabilität und Rechtssicherheit gesorgt. Mit den in ihm enthaltenen Grundrechten verfügt es über einen Kanon fundamentaler und unverbrüchlich festgeschriebener Rechte, die den Kern unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung ausmachen. Sie definieren unsere Freiheit, und auch die EU ist auf ähnliche Grundwerte und die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit gegründet.
Trotz dieser Absicherungen ist die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen für den Fortbestand und das Funktionieren unserer parlamentarischen Demokratie entscheidend. 1922 charakterisierte Thomas Mann in seiner Rede »Von Deutscher Republik« die »Freiheit« in der Demokratie folgendermaßen: Diese sei kein bloßer Spaß und kein Vergnügen, der andere Name für »Freiheit« laute vielmehr »Verantwortlichkeit«.2 Damit meinte er, dass der demokratische Staat nicht die Angelegenheit weniger ist, sondern dass er alle etwas angeht, dass jeder Bürger, jede Bürgerin Verantwortung für Staat und Verfassung trägt. Das gilt insbesondere für die heutige Jugend, die nicht der vielfach beschriebenen und beschrienen Politik- und Parteienverdrossenheit überlassen werden darf. Es gibt gute Gründe, der vermehrt kursierenden Einstellung, sich für die Freiheit zu engagieren, sei von gestern, entgegenzuwirken. Wer an Stelle von Verantwortung und Beteiligung opportunistisch auf starke Führung und einen zwar vielleicht wohlwollenden, notfalls aber autoritären Fürsorge- und Wohlfahrtsstaat vertraut, trägt zur Infantilisierung der Gesellschaft bei. Wer das nicht will, sollte sich klarmachen, dass Freiheit und Selbstbestimmung mündige Bürgerinnen und Bürger brauchen, eigenverantwortlich handelnder Menschen bedürfen. Das entspricht im Übrigen ganz dem Menschenbild des Grundgesetzes, das das Individuum als autonome Persönlichkeit begreift, das in der Gemeinschaft steht und ihr verpflichtet ist.
Gesellschaft und Wirtschaft sind heute gezwungen, einer sich im Großen wie im Kleinen radikal verändernden Welt zu entsprechen. Das Recht muss die dafür nötigen Anpassungsprozesse unterstützen, kann aber das Sicheinstellen nicht vollziehen, sozusagen den Menschen abnehmen. Es entwickelt weder einen Lebensplan noch eine Vollversicherung, weder für die einzelnen Bürger noch für die Gesellschaft im Ganzen. Statt einen trügerischen und letztlich lähmenden Glauben zu verstärken, dass es so weitergehen werde wie bisher und dass alles Liebgewonnene bis in alle Zukunft gesichert sei, sollte die Rechtsordnung – jedenfalls auch und vermehrt – wieder zu Eigenverantwortung und Eigeninitiative ermutigen und diese sichern. Von dieser Eigenverantwortlichkeit lebt unser Gemeinwesen. Das vorliegende Buch versteht sich als Plädoyer für ihre Stärkung.
Dass die hier geforderte Selbstbestimmung und Verantwortung der Einzelnen für das eigene Handeln wieder aufleben kann, hat meines Erachtens mehrere grundsätzliche Anforderungen an Staat und Gesetzgebung zur Folge. Zum einen muss die Politik den permanenten Krisenbewältigungsmodus hinter sich lassen. Gesetzgebung darf kein Feld persönlicher Profilierung sein, wie das stellenweise bei der Einführung von Maßnahmen zur Einhegung der Corona-Pandemie zu beobachten war. Generell sollte die Rechtsetzung nicht weiter überregulieren. Nicht jede aktuell auftretende Fragestellung braucht ein neues Gesetz. Die konsequente Anwendung geltenden Rechts wäre vielfach die richtigere Entscheidung, auch wenn sie nicht dazu beiträgt, die eigene Politiker-Persona – letztlich zu Unrecht – ins Rampenlicht zu rücken. Stattdessen wäre die Forderung zu stellen, lieber weniger, dafür aber handwerklich bessere und absehbar nachhaltige Gesetze zu schaffen, die auch tatsächlich umgesetzt werden können.
Zum anderen müsste der Gesetzgeber beziehungsweise die gesetzgebende Gewalt, wenn sie die grundgesetzlich verankerten Freiheitsrechte stärken will – wozu sie durch unsere Verfassung verpflichtet ist –, zwingend dafür sorgen, dass die hierfür nötigen sogenannten Grundrechtsvoraussetzungen erhalten bleiben oder geschaffen werden. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen die Möglichkeiten und reellen Chancen erhalten, ihre verbrieften Grundrechte auch wahrzunehmen, und zwar in ökonomischer wie sozialer Hinsicht und, besonders wichtig für die Zukunftsfähigkeit unserer rechtsstaatlich-liberalen Demokratie, im Hinblick auf – nicht zuletzt politische – Bildung. Ohne diese Grundsteine für gesellschaftliche Mitwirkung bleiben alle Forderungen nach mehr Initiative, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Einzelnen politische Rhetorik.