Bei der feierlichen Einweihung der Kinderklinik Weißensee sind Ärzte und Schwestern gleichermaßen aufgeregt. Marlene und Emma sind die einzigen Waisen unter den Lernschwestern und werden mit Argusaugen beobachtet. Emma fällt es nicht schwer, sich unterzuordnen. Still geht sie in der Kinderpflege auf, während ihre Schwester nach den Sternen greift. Weil Marlene immer weniger Zeit mit ihr verbringt, geht sie auf die Avancen des lustigen Melkers Tomasz ein. Ob er ihre große Liebe ist? Seit die forsche Marlene einem kleinen Patienten bei einer Mandeloperation beistehen durfte, interessieren sie Medizinbücher mehr als Pflegebücher. Besonders wenn sie ihr vom Assistenzarzt Doktor Maximilian von Weilert angetragen werden. Heimlich lehrt er sie, wie Krankheiten diagnostiziert werden und wie man Walzer tanzt. Marlene verliebt sich zum ersten Mal und vertraut ihm ihren geheimsten Wunsch an: Sie will selbst Kinderärztin werden. Doch seine Eltern sind gegen die Verbindung. Als es zu einem folgenreichen Zwischenfall in der Klinik kommt, bei dem das Leben eines Kindes in Gefahr gerät, drohen Marlenes Träume wie Seifenblasen zu zerplatzen …
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Dezember 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: Trevillion Images / © Lilia Alvarado (Junge); www.buerosued.de (Landschaft); Berliner Denkmalschutzbehörde, Straßenansicht von der Gierstraße, um 1911 (Klinik)
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ISBN 978-3-8437-2401-2
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Lübars bei Berlin
3. Juli 1898
Marlene stand an der Tür der kleinen, windschiefen Kate und hielt sich die Hände vors Gesicht. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihre Hände waren feucht vor Aufregung. Sie musste sich anstrengen, nicht doch zum Tisch hinüberzulinsen, von wo ein Rascheln und kleinkindliches Flüstern zu hören waren. Es duftete herrlich süß.
»Und wer im Juli geboren ist, tritt ein, tritt ein, tritt ein«, erklang endlich die zärtliche Stimme ihrer Mutter, untermalt von Emmas Singversuchen, die noch Probleme hatte, sich den Text des Geburtstagsliedes zu merken.
Für Marlene war ihr Geburtstag der schönste Tag im Jahr, noch schöner als Weihnachten, weil sie trotz der Feststimmung nicht in die Kirche mussten. An Geburtstagen konnten ihre Mutter, ihre jüngere Schwester Emma und sie ganz unter sich sein, die kleine Familie Lindow. Anmutig schritt Marlene zum Geburtstagstisch. Der liebevolle Blick ihrer Mutter gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, eine Prinzessin mit Krone und Schleier.
»Der macht vor uns einen tiefen Knicks, recht fein, recht fein, recht fein«, sang Elisabeth Lindow weiter, wie sie es an vielen Abenden zuvor schon vor dem Einschlafen für ihre Kinder getan hatte.
Marlene knickste ungelenk wie jedes Jahr, weil sie nur Augen für den Geburtstagskuchen hatte. Sechs Kerzen leuchteten auf dem Streuselkuchen, gelb wie die Sterne am Himmel über Lübars. Sie war so froh darüber, dass ihre Mutter doch noch eine sechste Kerze hatte kaufen können, obwohl zuletzt nicht einmal mehr Geld für die Arztrechnung da gewesen war.
»Mädel, dreh dich, Mädel …«, sang Elisabeth weiter und tanzte mit, fasste sich dabei aber an den Bauch.
Marlene drehte sich so eifrig, dass ihre dicken Zöpfe aufflogen. Erst als sich ihre Mutter abwandte und ihr die Stimme versagte, hielt auch sie inne. »Mama, was ist mit dir?«, fragte sie, während sich die Wände um sie herum noch zu drehen schienen.
»Es geht schon«, wiegelte Elisabeth ab und lächelte ihre Tochter liebevoll an, sodass diese ihre Sorge auch gleich wieder vergaß. Es war ihr Geburtstag, der Tag ausgelassener Fröhlichkeit, und wie ihre Mutter immer sagte: Traurigkeit ist an diesem Tag nicht erlaubt.
»Mädel, dreh dich, Mädel, dreh dich, hei hopsasasa!«, sang Elisabeth weiter und drehte sich wieder.
Marlene lachte auf. Bei der nächsten Liedzeile drehte auch Emma sich mit und wollte gar nicht mehr aufhören, bis sie taumelnd gegen das Bett stieß.
»Und natürlich gibt es einen Streuselkuchen für dich«, sagte ihre Mutter, nachdem die letzte Zeile des Liedes verklungen war.
»Mit ganz viel Butter?«, fragte Marlene ungeduldig.
»Natürlich, Lene«, antwortete Elisabeth, und Marlene wollte sich schon an den Tisch setzen und nach einem Stück Kuchen greifen, als ihre Mutter sie noch einmal zu sich heranzog und an sich drückte. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine liebe Lene.« Eine Träne lief Elisabeth über die Wange. »Es ist ein Wunder zu sehen, wie schnell du groß wirst. Jetzt bist du schon sechs Jahre alt.« Schnell wischte Elisabeth sich die Träne fort und lächelte jenes Lächeln, das Marlene so an ihrer Mutter liebte, das ihr das Gefühl gab, bedingungslos geliebt zu werden. Sie umarmte ihre Mutter lang und fest und bemerkte dabei, dass diese stark schwitzte, was sie sonst nicht tat. Letzte Nacht, als sie eng aneinandergeschmiegt geschlafen hatten, war das Nachthemd ihrer Mutter auch schon ganz feucht gewesen. Jetzt stand ihrer Mutter schon wieder der Schweiß auf der Stirn, obwohl es nicht heiß im Haus war.
Emma holte einen kleinen Sommerblumenstrauß mit Kornblumen unter dem Bett hervor: Margariten und eine Distel, die die Blätter schon etwas hängen ließen. »Die habe ich gestern für dich gepflückt.« Sie überreichte Marlene den Blumenstrauß und schmiegte sich an das Bein ihrer Mutter.
»Der Strauß ist wunderschön, Emmalein, danke!« Marlene wuschelte ihrer Schwester durch das weiche Haar. »Und jetzt essen wir endlich den Streuselkuchen, ja?«
Sie nahmen auf den Hockern am Tisch Platz, an dem ihre Mutter viele Stunden in der Woche Damenpantoffeln nähte. Fünfzig Pfennig gab es für das Dutzend Paar.
Elisabeth schnitt den Blechkuchen in Stücke. Unter ihrem milden Blick tat Marlene sich gleich drei davon auf, und auch auf Emmas Teller stapelte sie mehrere. Während sie gebutterten Hefeteig und zuckersüße Streusel schmeckte, überlegte Marlene, ob sie die Tür für einen Luftzug öffnen sollte, damit ihrer Mutter nicht mehr so heiß war. Die winzigen Fensterluken hakten, solange sie denken konnte.
Auch Emma aß mit Appetit und versuchte gleichzeitig noch »hei hopsasasa « zu singen, was ihre Mutter lächeln ließ.
Wie jedes Jahr war Marlene der Überzeugung, dass dieser Geburtstag ihr schönster war. Sie aßen den besten Streuselkuchen von ganz Lübars, waren fröhlich beieinander und tranken Kakao, der auch nur an Festtagen auf den Tisch kam.
Plötzlich versuchte Elisabeth jedoch ein Würgen zu unterdrücken. Sie erhob sich vom Tisch und verließ mit der Hand vor dem Mund die Kate. Marlene konnte hören, dass sie sich im Abort hinter dem Haus übergab. Als ihre Mutter zuletzt nach Berlin zum Arzt gefahren war, hatte sie auch so geschwitzt und sich erbrochen. Marlene legte ihr drittes Stück Kuchen auf den Teller zurück und wollte gerade hinauslaufen, um ihrer Mutter zu helfen, da stand Elisabeth bereits wieder in der Tür. »Es geht schon«, sagte sie und lächelte Marlene an. »Heute ist dein Geburtstag, Lene.« Sie deutete zum Tisch, wo Emma unbeschwert Kuchen aß.
Elisabeth straffte sich unter Schmerzen. »Lasst uns weiterfeiern«, sagte sie, aber eine neuerliche Schmerzwelle ließ sie zum Bett taumeln, wo sie unter Stöhnen zusammensackte.
Verängstigt starrte Marlene ihre Mutter an, die nun auch zitterte. »Mir ist plötzlich so kalt«, murmelte Elisabeth.
Marlene breitete die Bettdecke über ihrer Mutter aus, aber Elisabeth fror nur noch mehr. Marlene meinte, die Zähne ihrer Mutter klappern zu hören. Aufgeregt holte sie Wäsche aus dem Schrank neben dem Bett, drei Röcke, Schürzen und ihre Unterhemden, und breitete alles über ihrer Mutter aus. Letzten Winter hatten sie oft gefroren, weil kein Geld mehr für Holz da gewesen war, es hatte sich schrecklich angefühlt.
»Komm, Emma, wir wärmen Mama, damit sie nicht mehr frieren muss.« Marlene half Emma an die linke Seite ihrer Mutter, sie selbst schmiegte sich an deren rechte. Dabei fielen ihr hellrote Streifen am Unterarm ihrer Mutter auf, die nun schnell und flach atmete und sich immer wieder an den Bauch fasste. Ganz vorsichtig, wie Elisabeth es bei ihr zu tun pflegte, wenn sie Bauchschmerzen hatte, begann Marlene, ihr den Bauch zu streicheln, der sich hart wie ein Brett anfühlte.
»Wir müssen weiterfeiern«, murmelte Elisabeth, Schweiß rann ihr an den Schläfen hinab und nässte ihr Haar.
Sehnsüchtig schaute Marlene zu den sechs Kerzen auf dem Streuselkuchen hinüber. Der Tag fühlte sich gar nicht mehr wie ein Geburtstag an, ihrer Mutter ging es immer schlechter. »Was kann ich tun, Mama, damit du dich besser fühlst?« Auch vor dem Arztbesuch im großen Berlin, wohin der Armenarzt sie geschickt hatte, hatte ihre Mutter schon Schmerzen im Bauch gehabt, aber nicht so schlimm wie heute.
»Schmieg dich an mich«, bat ihre Mutter mit erstickter Stimme, woraufhin Marlene noch einmal näher rückte.
»Liegst du auch ganz eng an Mama dran?«, fragte Marlene ihre Schwester.
Emma hob ihren Kopf, Streuselkrümel hingen ihr in den Mundwinkeln. »Ganz eng«, bestätigte sie unter Nicken und schmiegte sich wieder an ihre Mutter.
Elisabeth zwang sich ein Lächeln ins verschwitzte Gesicht. »Du musst jetzt mutig sein, meine große Lene.«
»Ich tue alles, damit es dir schnell wieder besser geht«, versprach Marlene ihrer Mutter, die sich nun mit schmerzerfülltem Gesicht auf die Seite drehte und die Beine vor den Bauch zog wie ein Säugling.
»Pass gut auf dich und unser Emmalein auf«, flüsterte Elisabeth.
Marlene richtete sich auf. »Warum sagst du das?«
Elisabeth röchelte. »Ihr seid das Beste, was mir je passiert ist.«
Marlene beugte sich über ihre Mutter, die die Augen nun geschlossen hatte. »Mama ist eingeschlafen«, flüsterte sie ihrer Schwester zu und atmete erleichtert aus. Wenn ein Kranker viel schläft, sagte ihre Mutter immer, wird er schneller gesund. »Schlaf du jetzt auch etwas, Emma.«
Kurz darauf vernahm Marlene ein kaum hörbares »Ja« von der anderen Seite des Bettes, dann schmiegte sie sich wieder enger an ihre Mutter, die der Schlaf zu entspannen schien. Am nächsten Morgen, so nahm sie sich vor, würde sie sich um den Haferbrei zum Frühstück kümmern, damit ihre Mutter sich im Bett noch von ihren Bauchschmerzen erholen konnte. In Gedanken bei dem verbliebenen Streuselkuchen schlief Marlene ein.
Mitten in der Nacht wachte sie auf. Der Mond schien durch die Fensterluke aufs Bett, es roch seltsam, unangenehm. Sie schob ihre Hand in die ihrer Mutter und erschrak! Die Hand ihrer Mutter fühlte sich steif und kalt an, viel kälter noch als an Wintertagen, wenn Elisabeth Lindow auf den Kartoffeläckern gearbeitet hatte. »Mama?«, fragte Marlene leise, um Emma nicht aufzuwecken. Der Mund ihrer Mutter stand zwar etwas offen, aber ihre Lippen blieben reglos.
Das Herz schlug Marlene bis zum Hals, Tränen schossen ihr in die Augen. »Mama, sag doch was!« Sie ruckelte etwas fester an dem Körper ihrer Mutter, aber auch darauf reagierte Elisabeth nicht. Als Letztes hielt Marlene ihr die feuchte Hand vor den Mund. Kein Atemhauch war daran zu spüren. Ihre Mutter war tot. Marlene setzte sich auf, Tränen liefen ihre Wangen hinab. Es fühlte sich an, als drehte sich alles um sie herum, nur viel schneller als beim Geburtstagslied. Mädel, dreh dich, Mädel, dreh dich, hei hopsasasa. Obwohl der Dorfpfarrer sagte, dass nach dem Tod alles besser sei als im Leben, war sie untröstlich. Sie kroch zurück unter die Bettdecke, um noch einmal ganz nah bei ihrer Mutter zu sein.
Während das Mondlicht über das Bett wanderte, weinte sie leise vor sich hin, obwohl sie viel lieber laut und verzweifelt geschrien hätte. Keinen Tag wollte sie ohne ihre Mutter sein. Es war unvorstellbar, dass der Pfarrer Mutters Körper bald in ein kaltes Erdloch legen würde. Und sie selbst? Was würde aus ihr und Emma werden? Sobald die Leute aus dem Dorf ihre tote Mutter fänden – spätestens vor dem nächsten Kirchgang – würden Emma und sie ins Waisenhaus gebracht werden, weil sie keine Verwandten hatten. Genauso war es dem Nachbarsjungen ergangen. In Lübars erzählte man sich, dass Waisenhäuser dunkle Mördergruben seien, Orte, an denen verwahrloste, kriminelle Kinder hausten, die wie ausgezehrte Gerippe aussahen. Dorthin wollte Marlene auf keinen Fall! Hastig wischte sie sich ihre Tränen fort. »Emma, wach auf! Wir müssen fort von hier.«
Emma lag an den Rücken ihrer Mutter geschmiegt und schaute sie aus verschlafenen Augen an.
»Mama schläft jetzt ewig«, sagte Marlene mehr zu sich selbst als zu ihrer Schwester. »Und wir sind in Gefahr!«
Emma klammerte sich aber nur fester an ihre tote Mutter.
»Mamas Seele ist jetzt da oben im Himmel.« Marlene deutete durch die Fensterluke in den Nachthimmel, wo die Sterne funkelten. »Sie sitzt auf einem Stern und schaut auf uns herab.« Das war ihr sehnlichster Wunsch in diesem Moment.
»Ist Mamas Bauchweh denn besser?«, wollte Emma wissen, was Marlene bewies, dass ihre Schwester gerade nichts begriff.
Marlene musste ihre Tränen zurückhalten, als sie mit brüchiger Stimme erklärte: »Hoch oben bei den Sternen gibt es kein Bauchweh. Auch frieren wird Mama dort nie, und es ist immer genug zu essen da. Jeden Tag gibt es Streuselkuchen und Kakao.«
Kurz stahl sich ein Lächeln in Emmas Mundwinkel.
»Wir müssen weg, Emma, sonst sperren sie uns in ein Waisenhaus, wo wir nichts zu essen kriegen.« Marlene hielt ihrer jüngeren Schwester die Puppe hin, die Mutter ihr zum vierten Geburtstag aus Filzresten von Damenpantoffeln genäht hatte, mit zwei blauen Knöpfen als Augen. »Schau mal, Rosi kommt mit uns mit.« Sie klang alles andere als überzeugend.
Zögerlich griff Emma nach der Puppe, aber ohne ihre Mutter mit der anderen Hand loszulassen.
»Alles wird gut werden«, versprach Marlene, weil sie sonst nicht wusste, wie sie ihrer vierjährigen Schwester etwas erklären sollte, das sie selbst nicht verstand. Während sie einige nötige Dinge in einen Beutel packte, schluchzte sie vor sich hin. Sie nahm ein Messer mit, das kleine Kirchenbuch unter Mutters Kopfkissen, das diese verehrt hatte, und ein halbes Brot. Außerdem steckte sie sich die Reste vom Streuselkuchen in die Taschen. Dann ging sie noch einmal zum Bett zurück, strich der Toten das Haar aus dem Gesicht und küsste sie zum Abschied auf die kalte Stirn. »Auf Wiedersehen, bei den Sternen«, flüsterte sie ihrer Mutter zu.
Dieses Mal versuchte sie ihre Stimme nicht so betrübt klingen zu lassen, als sie zu Emma sagte: »Und nun komm!«
Die Puppe fest vor die Brust gedrückt, hielt Emma ihren Blick auf das Bett geheftet, in dem ihre Mutter unter dem Berg aus Decken und Kleidung begraben lag.
Als sich Wolken vor den Mond und die Sterne drängten, schob Marlene ihre Schwester aus der Kate. Die Angst vor dem Waisenhaus trieb sie die Dorfstraße hinab und auf jenen Weg, den ihre Mutter zum Arzt nach Berlin genommen hatte. Von ihr wusste sie auch, dass Berlin so groß war, dass man dort sogar einen Riesen verstecken konnte. In Berlin würden Emma und sie vor dem Waisenhaus sicher sein.
»Kommt Mama wirklich nicht nach?«, fragte Emma und schaute einmal mehr zur windschiefen Kate zurück. Tränen schimmerten auf ihren Wangen.
Marlene schüttelte verzweifelt den Kopf, dann nahm sie ihre Schwester fester bei der Hand. Sie überlegte krampfhaft, wie lange sie vom Streuselkuchen und einem halben Brot würden satt werden können, und redete sich ein, dass sie sich vor der Dunkelheit nicht zu fürchten bräuchten.
Mit Beinen schwer wie Blei ging Marlene weiter in Richtung Berlin und wusste dabei nur, dass sie ihren Geburtstag nie wieder feiern würde. Wenn ihre Mutter nicht so viel mit ihr hätte tanzen und singen müssen, wäre sie nicht gestorben.