90 Prozent Handwerk und 10 Prozent Geheimnis – das sind die Zutaten zum erfolgreichen Schreiben. Den handwerklichen Anteil kann man lernen: Fritz Gesings Standardwerk führt ein in die Techniken des Schreibens, vermittelt Regeln und belegt sie mit Beispielen aus der Weltliteratur. Dieser Schreibratgeber hilft Anfängern, sich in die Kunst des Schreibens einzuarbeiten, bietet aber auch Erfahrenen und Profis zahlreiche wertvolle Hinweise und Anregungen.
Fritz Gesing, Jahrgang 1945, studierte Germanistik und sozialwissenschaftliche Fächer in Marburg, Göttingen und Freiburg, wo er über den ›Stiller‹ von Max Frisch promovierte. Längere Aufenthalte in Cambridge/England und Aix-en-Provence, sechs Jahre Gymnasiallehrer an einem Internat am Ammersee, wissenschaftliche Arbeiten zur Literaturpsychologie. Seit 1988 ist er freier Autor, der neben Sachbüchern, Rezensionen und Essays zeitgeschichtliche und zeitgenössische Romane schreibt. Seit 1998 hat er zudem – unter dem Pseudonym Frederik Berger – eine Reihe historischer Romane veröffentlicht. Er ist verheiratet und lebt am Ammersee.
www.frederikberger.de
Fritz Gesing
Kreativ schreiben
Handwerk und Techniken
des Erzählens
Überarbeitete und
erweiterte Neuausgabe
eBook 2014
© 2014 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagmotive: © Pixel & Création – Fotolia.com
Satz: Angelika Kudella, Köln
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook: 978-3-8321-8790-3
www.dumont-buchverlag.de
VORWORT:
Eine Symbiose von Handwerk und Geheimnis
»Das Schreiben ist zweifellos eine Symbiose von Handwerk und Geheimnis.« Diese Feststellung von Wolfgang Weyrauch hat im Lauf der Jahre nichts an Richtigkeit eingebüßt, und man kann sie ergänzen: Über Geheimnisse lässt sich nur rätseln. Ein Handwerk dagegen kann man lernen.
Mit diesen Sätzen leitete ich vor zwanzig Jahren das vorliegende Buch ein, das sich zu einem Longseller und Standardwerk entwickelte und das nun in einer umfassenden Neubearbeitung und Erweiterung erscheint, zusätzlich ergänzt durch Teile aus meinem zweiten Kreativ-schreiben-Buch über die Geheimnisse des Erfolgs.
Während der vergangenen Jahrzehnte haben wir literarische Moden kommen und gehen gesehen und mit ihnen Überraschungserfolge wie sang- und klangloses Verschwinden zahlreicher Bücher. Manche Autoren, die damals in aller Munde waren, sind kaum noch präsent, andere vergessen. Zudem hat sich das Kreative Schreiben im deutschsprachigen Raum enorm ausgeweitet und ist nun eine etablierte Größe.
Daher wurde es Zeit, meinen Ratgeber zum Handwerk des Erzählens neu zu gestalten und das einzuarbeiten, was in den letzten zwei Jahrzehnten an Erkenntnissen hinzugekommen ist. Natürlich wurden auch einige Beispiele aktualisiert. Außerdem ist nicht mehr zu übersehen, dass sich die zunehmende Bedeutung des Internets sowie die starke Entwicklung von E-Book und self-publishing auf den literarischen Markt auswirken. Wohin uns dieser Trend führen wird, ist zurzeit noch gar nicht abzusehen.
Gleichwohl gilt: Die grundlegenden Prinzipien des Kreativen Schreibens haben sich nicht wesentlich geändert. Dies zeigt sich rasch beim Studium der neueren Literatur zum Thema.
Daher gilt noch immer, dass zum Schreiben Talent im Umgang mit der Sprache, Beobachtungsgabe, Phantasie und Fabulierlust gehören, dass aber all diese Fähigkeiten nicht ausreichen, um einen guten und, wenn möglich, auch erfolgreichen Roman zu verfassen. Eine Menge handwerklichen Könnens ist Voraussetzung. Denn Schreiben besteht, wie Umberto Eco und vor ihm schon viele andere betont haben, zu zehn Prozent aus Inspiration und zu neunzig Prozent aus Transpiration. Aus einem Teil Geheimnis und neun Teilen Handwerk.
Das Handwerk, von dem dieses Buch handelt, zielt auf ein Schreiben, das Leser durch Eleganz, Intensität, Phantasie und Emotion ansprechen und verführen möchte. Es meint eine Literatur, die uns von Menschen und ihren verschlungenen, abenteuerlichen und tragischen Schicksalen erzählt, die uns auf kluge und klare, unterhaltsame, berührende und fesselnde Weise neugierig und nachdenklich macht und unser Wissen vom Menschen erhöht. Bei ihr sollten weder Spaß noch Spannung, weder Erkenntnis noch Faszination fehlen; zugleich verzichtet sie auf triviale Effekthascherei, Stereotype und Klischees.
Geleitet von diesen Prinzipien versuche ich, Voraussetzungen und grundlegende Techniken eines Erzählens zu vermitteln, das sich an dramatischen Geschichten orientiert und in der Lage ist, uns erfolgreich und innerlich beteiligt in den fiktionalen Traum hineinzuziehen.
Ich stütze mich in erster Linie auf Autoren des amerikanischen creative writing, die, selbst Schriftsteller, aus ihrer Werkstatt erzählen und die Regeln des Handwerks weiterzugeben versuchen. Darüber hinaus sind vielfältige Äußerungen europäischer Autoren zu dem Wie, Warum und Wozu ihres Metiers in meine Überlegungen eingeflossen und nicht zuletzt eigene Erfahrungen. Seit über fünfzig Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Literatur, schreibend, forschend und unterrichtend. Neben meinen wissenschaftlichen Arbeiten und Sachbüchern habe ich bisher zehn (meist historische) Romane veröffentlicht und noch weitere geschrieben. Unter meinen historischen Romanen erreichten zwei Bestseller-Rang. Andere Romane, die meist in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts spielen, liegen noch in der Schublade. Von fast allen gibt es mehrere Fassungen. Einen Roman immer wieder zu bearbeiten oder neu zu schreiben, kann zwar mühsam sein, ist aber in aller Regel lehrreich. Über das Handwerk des Erzählens, über das Funktionieren zahlreicher Prinzipien des creative writing lernte ich mit jedem neuen Roman und jeder Neubearbeitung eine ganze Menge.
Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass alle Ratschläge in diesem Buch nur Vorschläge sein können, Hinweise und hilfreiche Tipps, Wegweiser und Ge(h)hilfen, keine Bedienungsanleitungen oder Rezepte, die einen Erfolg garantieren. Erfolg bleibt immer unwägbar, weil er auch von unberechenbaren und zudem rasch wechselnden Faktoren des öffentlichen wie individuellen Geschmacks abhängt. Jeder, der Bücher schreibt, verlegt oder verkauft, weiß, wie schwer Trends vorherzusagen sind, wie rasch der eine out und der andere in sein kann. Er weiß ebenso, dass gelegentlich ein Aspekt des Schreibens gegen die erprobte Regel funktioniert. Dabei wird allerdings die Regel nicht außer Kraft gesetzt, eher modifiziert. Schreiben ist keine mechanische Anwendung von Techniken, sondern kreatives Tun, das – wie alle Kunst – auf handwerklicher Grundlage beruht und sich dann in einem Spannungsverhältnis von Konvention und Abweichung entfaltet, daraus seinen Reiz, sein Geheimnis und nicht zuletzt seine Überzeugungskraft gewinnt.
Auf jeden Fall gilt, was bereits dem scharfsinnigen und unkonventionellen Voltaire und C. M. Wieland, dem großen deutschen Romancier des 18. Jahrhunderts, zugeschrieben wird und was der kürzlich verstorbene Marcel Reich-Ranicki nie zu verkünden unterließ: »Jede Art von Literatur ist erlaubt, außer der langweiligen.«
Mit meinem Buch möchte ich diejenigen ansprechen, die gern schreiben wollen und nicht recht wissen, wie sie es anstellen sollen; außerdem diejenigen, die zu schreiben begonnen haben und handwerkliche Hilfe benötigen. Aber auch selbstkritische Profis, die ihre Texte auf Schwachpunkte und Wirksamkeit überprüfen, dürften von dem Buch profitieren. Nicht zuletzt wende ich mich an Lehrende und Lernende in Schule, Universität und Erwachsenenbildung, in Kursen und Workshops, kurzum, an alle, die sich eine Übersicht darüber verschaffen wollen, nach welchen Regeln, nach welcher ›Poetik‹ anspruchsvoll-unterhaltsame Literatur entsteht und unter welchen Bedingungen sie funktioniert.
Noch eine Anmerkung: Die Begriffe Autor, Schriftsteller, Leser werden als Genus-Bezeichnungen verwendet, schließen also Autorinnen, Schriftstellerinnen und Leserinnen mit ein.
Meiner Frau Patricia und Jochen Rudschies möchte ich danken für das Gegenlesen und ihr stetes Interesse an meiner Arbeit.
KAPITEL 1
Welchen Weg soll ich gehen?
Warum schreiben?
Was treibt uns an zu schreiben? Lassen Sie mich ein paar Punkte aufzählen:
→ Die Faszination an Geschichten und die daraus entstehende Fabulierlust.
→ Die Faszination, welche die so unendlich vielfältigen Menschen und ihr Schicksal auf uns ausüben.
→ Die geradezu sinnliche Lust an der Sprache und das Vergnügen, mit ihr zu spielen, sie zu verfremden und zu bereichern.
→ Das Bedürfnis, (eigene) Erlebnisse und Erinnerungen aus dem Strom des Vergessens zu retten, die Vergangenheit besser zu verstehen und womöglich auf diese Weise seelische Wunden zu heilen.
→ Der Wunsch, einen spürbaren Mangel im eigenen Leben zu beheben, die Stummheit früherer Jahre zu überwinden.
→ Die Begeisterung über die Buntheit der Welt und die daraus entstehende Neugier. Das, was wir sehen und staunend erleben, möchten wir begreifen, festhalten, gestalten – und im Verlauf dieser Gestaltung verwandeln wir uns selbst.
→ Die Lust an vergangenen Epochen: Mit Hilfe des Schreibens können wir uns auf Zeitreisen begeben und das historisch Fernliegende in die Gegenwart holen.
→ Die Lust an fremden Welten. Durch das Erzählen entfalten wir unsere Schöpferkraft. Wir entwerfen neue Welten – phantastische, vergangene, zukünftige – und können dabei uralte, mythische Erzählmuster verwenden, grundlegende Werte und Verhaltensweisen darstellen, die Verkörperungen von unvergessenen Ängsten und Sehnsüchten aus der Kindheit zu neuem Leben erwecken.
→ Das Bedürfnis, im gestalteten Tagtraum aus einer als unangenehm empfundenen Wirklichkeit zu fliehen und sich in Phantasien der Wunscherfüllung hineinzubegeben.
→ Die Faszination am Schrecken, am Normbruch und Verbrechen, überhaupt am Bösen.
→ Der Protest gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt und das Bedürfnis, die dunklen Bezirke der Gesellschaft auszuleuchten.
→ Das Bedürfnis, alte Wahrheiten und Weisheiten in neuen Geschichten zu erzählen.
→ Der Wunsch, über die Menschen und ihr seltsames, schräges, auch komisches Verhalten zu lachen, sich über sie lustig zu machen, sie durch übertreibende Nachahmung zu entlarven.
In welchen der angeschnittenen Aspekte finden Sie sich wieder? Und: Fallen Ihnen noch weitere ein? Dann ergänzen Sie die Liste! Es ist immer sinnvoll, sich klar zu werden über die innersten Antriebe und das, was einen am meisten interessiert und fasziniert; es hilft, den eigenen Weg in der unübersichtlichen Welt der Literatur und in dem kaum weniger unübersichtlichen literarischen Betrieb zu finden.
Wie die Aufzählung zeigt, gibt es vielfältige Gründe zu schreiben: Sie können sich ergänzen, vermischen oder auch nacheinander wirksam werden. Für viele Autoren sind sie so wichtig, dass sie sich ein Leben ohne die Feder bzw. den Computer nicht vorstellen können. Für sie wird die Lust am Schreiben zum schöpferischen Zwang. So erging es Gustave Flaubert (seine Madame Bovary lohnt noch immer eine aufmerksame Lektüre), der alle Höhen und Tiefen einer kreativen Besessenheit durchlebte und einmal erklärte:
»Schreiben ist eine köstliche Sache; nicht mehr länger man selbst zu sein, sich aber in einem Universum zu bewegen, das man selbst geschaffen hat. Heute zum Beispiel bin ich gleichzeitig als Mann und als Frau, als Liebhaber und Geliebte, an einem Herbstnachmittag durch einen Wald unter gelben Blättern geritten; und ich war in den Pferden, den Blättern, dem Wind, in den Worten meiner Figuren, sogar in der roten Sonne, die sie ihre liebestrunkenen Augen schließen ließ.«
Kann ich es schaffen?
Für viele (angehende) Autoren ist schreiben eine lustvolle Tätigkeit, die ihnen vielleicht sogar leichtfällt. Sie sind davon überzeugt, dass sie etwas geschaffen haben oder schaffen können, was auch andere kaufen und lesen sollten. Die Selbstkritischen unter ihnen suchen in Workshops, Seminaren und/oder Büchern zum Kreativen Schreiben nach Anleitung und Hilfe oder versuchen gar, Kreatives Schreiben an den Universitäten in Leipzig, Hildesheim oder Biel zu studieren. Auf diese Weise können sie zumindest ihr Handwerk verbessern, im ungünstigsten Fall feststellen, dass ihre Texte vielleicht doch (noch) nicht für die Öffentlichkeit geeignet sind.
Jeder von uns hat sich vermutlich schon die Frage gestellt: Bin ich überhaupt begabt genug? Selbstverständlich lässt sich nicht abstreiten, dass man für das literarische Schreiben eine gewisse Begabung benötigt, insbesondere im Umgang mit der Sprache und in der Fähigkeit, von Vorbildern zu lernen. Wer sich also nur hölzern und hilflos ausdrücken kann, wem nichts auf- und einfällt, wem Phantasie fehlt, der ist vermutlich nicht geeignet, ein Schriftsteller zu werden.
Doch sollte man eins bedenken: Ob jemand Schreibtalent hat, ist meist schwer zu beurteilen, denn die Voraussetzungen literarischer Kreativität sind vielfältig; außerdem kann man durch das Erlernen des Handwerks und das Studieren wie Nachahmen von Vorbildern viel erreichen. Anerkennung und Erfolg hängen zudem von zahlreichen Faktoren ab, die mit Schreibkunst wenig zu tun haben, nicht zuletzt vom Zufall.
Statt über Ihre Begabung zu rätseln, sollten Sie sich lieber folgende Fragen stellen:
→ Ist für Sie Schreiben (auch) Selbstzweck, eine aus innerer Motivation getriebene, von ›Funktionslust‹, das heißt: Erzählfreude begleitete Notwendigkeit?
→ Lesen Sie gerne und viel? Ohne gründliche Kenntnis der Literatur wird man schwerlich ein Schriftsteller.
→ Sind Sie bereit, die eigene Sprachkompetenz zu erweitern und sich die allgemeinen Grundlagen des Erzählhandwerks anzueignen? (Ganz offensichtlich sind Sie es, denn sonst würden Sie dieses Buch nicht lesen.)
→ Gehen Sie mit neugierigen Augen durch die Welt? Interessieren Sie sich für Menschen und ihr Schicksal?
→ Sind Sie in der Lage, sich selbst und die Welt unverstellt und ungeschönt wahrzunehmen? Das heißt auch: die Menschen Ihrer Umwelt wie ein Ethnologe zu betrachten, ohne Vorurteil und Moral, ohne festgefügte Meinungen und Einstellungen?
→ Haben Sie ein überdurchschnittliches Maß an Phantasie, Sensibilität und Einfühlungsvermögen entwickelt?
Wenn Sie einen Großteil dieser Fragen mit Ja beantworten, dann brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, dann haben Sie auch das Zeug dazu, ein Schriftsteller zu werden.
»Genie ist große Geduld«
Dennoch sollte Ihnen eins klar sein: Selbst wenn alles wie gewünscht läuft, wenn sich Ausdrucksfähigkeit und Phantasie mit Lesefreude und Lernbereitschaft verbinden und sich in anhaltender Fabulierlust ausdrücken, wenn Sie diszipliniert genug sind (und die Zeit dazu haben), auch ein umfangreiches Werk zu entwerfen und zu Ende zu bringen, selbst dann ist erst eine Stufe auf der Leiter zum Erfolg erstiegen.
Die Konkurrenz der Schreibenden ist groß, zugleich nimmt die Zahl der Romanleser ab, zumindest ihre Lesezeit, äußerst selten reagieren Agenturen oder Verlage begeistert auf Ihre Anschreiben und Angebote, meist reagieren sie gar nicht oder nach langer Zeit mit einem inhaltsleeren Vordruck.
Mit anderen Worten: Wenn Sie nicht großes Glück (oder allerbeste Beziehungen) haben, erwartet Sie ein harter Kampf um Anerkennung; immer sind Fehlschläge, sogar ein Scheitern einzukalkulieren. Sie benötigen ein gutes Durchhaltevermögen und stützen sich finanziell am besten auf ein zweites Standbein, einen Brotberuf, der Ihnen Zeit und die Möglichkeit innerer Konzentration lässt. Von ihrem Schreiben leben können mittel- oder gar langfristig nur sehr wenige. Einmal verlegt worden zu sein bedeutet noch lange keinen Bestandsschutz. So überraschend man aufsteigen kann, so rasch kann man auch abstürzen.
Gleichwohl, für die wahren Schriftsteller gilt: Sie sind Sucher – wie eine der Lieblingsgestalten unserer Literaturgeschichte –, und ihr Leben ist eine Sucher-Geschichte mit ungewissem Ausgang. Für sie wiegen die Freuden des Schreibens die Mühen und Risiken des Marktes auf, für sie gibt es nichts, was sie lieber tun möchten.
Die ›Berufenen‹, wie sie früher nicht ohne Pathos hießen, haben einen Lebenstraum, fühlen einen inneren Drang, der auch starken Widerstand überwindet, nehmen sogar verkürzte Nächte und schmale Budgets, Ehekrisen und verkorkste Lebensläufe in Kauf, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen.
Wenn Sie sich also ›berufen‹ fühlen, darf anfängliche Erfolglosigkeit Sie nicht schrecken. Wichtig ist, sich handwerklich zu vervollkommnen, auf den Rat erfahrener Literaturkenner wie auf die skeptischen Stimmen der Erstleser zu hören, seine Texte selbstkritisch auf Schwachpunkte abzuklopfen, ansonsten aber unbeirrt und unermüdlich zu schreiben (und zu lesen, nicht zu vergessen!). Auch unter widrigen Umständen. Lassen Sie die kreative Maschine in Ihrem Kopf laufen: Wie ein Langstreckenläufer in seiner Einsamkeit werden Sie immer wieder Momente der Euphorie erleben, welche die Mühen als nichtig erscheinen lassen.
Man kann einem langen, dornigen Weg zur Anerkennung aber auch etwas Gutes abgewinnen, denn ein (Kunst-)Handwerk gründlich zu lernen braucht seine Zeit. Meisterschaft im Umgang mit der Sprache und souveräne Beherrschung gestalterischer Techniken wachsen nur durch viel Übung. Thomas Mann, der große Stilist, misstraute der allzu glatten Schreibbegabung seines eigenen Sohns Klaus und sagte einmal pointiert und nicht ohne ironische Zuspitzung: »Ein Schriftsteller ist jemand, dem das Schreiben schwerfällt.«
Hinzu kommt, dass gerade der Romancier Lebenserfahrung benötigt. Er muss lernen, sich selbst, andere Menschen und Phantasiefiguren von innen und von außen zu sehen, er braucht gleichzeitig Nähe und Distanz zu den Dingen seines Lebens, sollte Ambivalenzen ertragen können.
»Genie ist große Geduld«, zitierte Gustave Flaubert seinen Landsmann Buffon. Nicht weniger eindeutig hat sich der afroamerikanische Romancier James Baldwin einmal ausgedrückt: »Jenseits des Talents liegen all die gewöhnlichen Worte: Disziplin, Hingabe, Glück und, vor allem, Geduld.«
Den Markt beobachten!
Wer Schriftsteller sein möchte, sollte sich noch einer anderen Aufgabe stellen: Es gilt, den literarischen Markt und seine Entwicklung im Auge zu behalten. Der Wortarbeiter im berüchtigten Elfenbeinturm, der nur seiner kreativen Eingebung folgt und auf Entdeckung, Anerkennung und Ruhm hofft, gehört ebenso der Vergangenheit an wie der Verleger, der sich wie ein treusorgender Vater seiner Autoren annimmt. Selbstvermarktung gehört für zahlreiche, vornehmlich junge Autoren zum Tagesgeschäft, und ›Fremdvermarktung‹ durch Agenturen setzt sich immer mehr durch.
Diese Entwicklung hat sich während der letzten Jahre verstärkt und eine grundlegend neue Richtung eingeschlagen. Die Digitalisierung des Buchs durch E-Books und elektronische Reader ist ein Trend, der sich bereits massiv auf den literarischen Markt auswirkt, und er wird an Geschwindigkeit und Nachhaltigkeit weiterhin zulegen. Auf jeden Fall sei jedem Autor ans Herz gelegt, diese Entwicklung aufmerksam zu verfolgen und die Möglichkeiten, die sich bieten, genau abzuwägen.
Der entscheidende Aspekt liegt in den zunehmenden Möglichkeiten des self-publishing. Mit anderen Worten: Der Autor veröffentlicht sein Buch selbst, ohne dabei auf Druckkostenzuschussverlage angewiesen zu sein, und streicht den größeren oder größten Teil der Honorare selbst ein. Er muss in diesem Fall allerdings alles selbst machen: Nicht nur schreiben, sondern auch lektorieren, eine digitale Fassung erstellen, die in E-Book-Formate transformierbar ist, er muss sich um ein Cover kümmern, gegebenenfalls um eine Druckfassung und schließlich zum großen Teil um Werbung und Vermarktung.
Da die Entwicklung zurzeit stürmisch verläuft, ist es wenig sinnvoll, hier Einzelheiten auszubreiten, da sie bald schon wieder veraltet sein können. Noch gibt es die grobe Zweiteilung des Markts in die Amazon-basierte Veröffentlichung, die jedoch nur auf dem Kindle lesbar ist, und die anderen EPUB-Systeme, die sich eine Reihe von Verlagen und Vermarktungsinstitutionen mit unterschiedlichen Readern teilen. Es bieten mehrere Verlage und Buchhandelsketten Publikationsmöglichkeiten und Reader an, die untereinander kompatibel sind, und dem Autor kann auch ein Teil der Arbeit abgenommen werden – was allerdings seinen Preis hat. Das heißt, die Gewinnspanne, die ihm bleibt, wird deutlich geringer. Aber bei fast allen Möglichkeiten muss er sich um den Verkauf und die Werbung für das Endprodukt, also sein Buch, selber kümmern.
Das hört sich mehr oder weniger gut an. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass die Verlage (und vor ihnen die Agenturen) als Publikationsfilter wegfallen. Verlagslektoren mögen sich in zahlreichen Fällen täuschen, das heißt, gute und ungewöhnliche Manuskripte ablehnen, miserable Texte auf den Markt werfen, doch im Großen und Ganzen sieben sie das meiste von dem aus, was gut gemeint, aber nicht gut gemacht, was allzu persönlich und nicht von öffentlichem Interesse ist.
Durch das self-publishing steigt die Zahl der publizierten Romane (bleiben wir nur bei ihnen) stark an, die Qualität nimmt tendenziell ab, und die (E-Book-)Leser finden sich noch schwerer zurecht in dem riesigen Angebot.
Natürlich wird es weiterhin genügend Leser geben, die auf das materielle Buch nicht verzichten wollen (wie die letzte Befragung von Stiftung Lesen aus dem Jahr 2008 zeigt), und selbstverständlich werden auch weiterhin Verlage ihre traditionelle Aufgabe wahrnehmen. Vermutlich wird sogar ihre Erwartung an die Qualität des Manuskripts steigen; oder sie warten ab, ob die E-Book-Verkäufe eine Übernahme ins Verlagsprogramm und damit eine Printveröffentlichung lohnen. Dieses Modell besteht bereits, und ich gehe davon aus, dass es sich ausbreitet.
Insbesondere der überraschende Erfolg der Shades-of-Grey-Bücher, die sich jetzt auch in Deutschland als gebundene HC (Hardcover) wie warme Semmeln verkaufen, hat einen Veränderungsschub in Gang gesetzt.
Ich kann nur wiederholen: Die Marktentwicklung beobachten, die Möglichkeiten ausloten und sich gut überlegen, welchen Weg man einschlagen will.
Zu betonen ist, dass sich die Lage für etablierte Autoren anders darstellt. Sie bieten bereits jetzt ihre backlist-Bücher, also diejenigen, die möglicherweise vergriffen sind, selbst als E-Books an, außerdem Manuskripte, die sie geschrieben haben, für die sich aber kein Verlag interessiert. Dies geschieht, gerade in unsicheren Zeiten wie den jetzigen, häufiger, als sich das manche vorstellen können. Die Verlage sind, auch auf Grund der E-Book-Entwicklung, zunehmend verunsichert, wollen Verluste möglichst vermeiden, erwarten von ihren Autoren im Unterhaltungssektor mehr denn je, dass sie sich finanziell rentieren.
Auf jeden Fall steigt für jeden Autor die Bedeutung der ›Vernetzung‹ mit Hilfe der modernen Medien und sozialen Netzwerke, der Internetplattformen und der literaturbezogenen Events.
Lesungen gibt es schon seit langem, Poetry Slams oder andere mediale Mischformen (Text und Musik, Gemeinschaftslesungen usw.) erst seit vielleicht zwei Jahrzehnten. Mittlerweile kommen über literarische Internetplattformen vermittelte ›Leserunden‹ hinzu, die den Autor mit seinen Lesern in Kontakt treten lassen, außerdem natürlich die Website des Autors und seine Facebookseite oder sein Twitteraccount, es gibt Leserrezensionen samt Ranking, Sternchen und Qualitätsprozenten.
Das klassische, anspruchsvolle Feuilleton, das sich in erster Linie um die E-Literatur kümmert (also kaum um die populäre U-Literatur, für die die Prinzipien des creative writing in erster Linie gelten), ist weitgehend ein Informationskanal für Intellektuelle und macht eher selten Romane zu Bestsellern. Wichtiger sind da die literarischen Preise, die einen deutlichen Verkaufsanstieg nach sich ziehen können. Fast die gesamten Bestseller-Erfolge der letzten Jahre, die Bücher aus dem E-Segment betreffen, haben ihren Rang auf Grund von bedeutenden Preisen errungen (ich denke an den Deutschen Buchpreis, den Büchner-Preis und natürlich an den Nobelpreis).
Die literarische Vermarktungsmaschinerie setzt aber auch noch auf ganz andere Faktoren. Es mag zynisch klingen, aber wer hübsch aussieht und jung ist, wer im Fernsehen gut ›rüberkommt‹ und unbefangen plaudern kann, hat ein großes Plus. Dass man Autoren aus anderen Literaturen mehr Verkaufspotential zutraut und dabei die hohen Übersetzungs- und Agenturkosten nicht scheut, ist bereits seit langem zu beobachten.
Das Markenimage des Namens ist mittlerweile so bedeutsam, dass sich männliche Autoren als Pseudonym auch mal weibliche Namen zulegen. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren sammeln Pseudonyme wie Abendkleider oder Armani-Anzüge, und zwar je nach Genre, das sie bedienen, unterschiedlich. Die eine nennt sich Rosa Rasato oder Carlotta Capotini (oder so ähnlich!), der andere Jean-Luc Bannalec. Die Namen klingen nach der Gegend, über die die Autoren schreiben, also authentisch, ungewöhnlich. Generell gilt: Frederik klingt einfach besser als Fritz (um bei mir selbst zu bleiben), Anna Gavalda ansprechender als Edeltraud Prawitzki-Hühnemann.
Darüber hinaus haben sich andere Trends verfestigt:
→ Die normale ›Umschlagszeit‹ eines Buchs währt nicht länger als ein halbes Jahr: Hat es sich innerhalb dieses Zeitrahmens nicht durchgesetzt, wird man es abschreiben können.
→ Generell gilt: Wenn ein Buch seinen Weg nicht in die Buchhandlungen findet und nicht auf einem der Tische sichtbar ausliegt, dann hat es kaum Chancen. Dies beginnt bereits vorher: Wenn ein Buch vom Verlag als C-Titel eingestuft wird, in der Vorschau nur eine halbe oder eine Seite erhält, von den Vertretern wenig nachdrücklich mit »Dann haben wir auch noch …« vorgestellt wird, kann man nur beten, dass eine Mund-zu-Mund-Propaganda Wunder bewirkt (was gelegentlich vorkommt, da noch immer die persönliche Empfehlung den mit Abstand häufigsten Kaufgrund darstellt).
→ In manchen Genres (wie dem historischen Roman) ist das Hardcover mittlerweile eine Rarität und wird nur ganz wenigen Autoren gewährt, die ihre treue Lesergemeinde haben und hohe Verkaufszahlen garantieren (wie z. B. Ken Follett, Rebecca Gablé und Tanja Kinkel).
→ Durch das Internet, zum Beispiel durch Amazon, Ebay und ZVAB, haben sich neue Verkaufswege für gebrauchte Bücher etabliert: Vor allem junge Leute, aber auch finanziell karg ausgestattete Bibliotheken bestellen (und verkaufen) hier ihre Bücher. Das klassische Buch-Antiquariat ist nahezu gänzlich ins Internet abgewandert.
→ Seit längerer Zeit ist eine Veränderung der kulturellen Großwetterlage zu beobachten, die durch die Digitalisierung enorm beschleunigt wird. Zum einen nimmt die tägliche Lesezeit aller Bevölkerungsschichten ab, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen, zum anderen sinkt die Wertschätzung des ›Kulturguts‹ Buch. Es wird aus Wohnzimmern in den Keller verbannt, weggeworfen oder dem internetvermittelten Zweitverwertungs-Kreislauf übergeben. Die gediegene Bücherwand als Ausweis gehobenen ›geistig-kulturellen‹ Anspruchs wirkt unter den Zeichen des modischen Einrichtungsminimalismus wie ein zu belächelnder Anachronismus ältlicher Herrschaften.
Vom Anspruchsvollen zum Trivialen
Für den Autor ist wichtig, dass seine Themen, Phantasien und Figuren, seine Gestaltungsmöglichkeiten und sein Stil, sein Wissen und sein Witz mit dem Geschmack, den Vorstellungen und Erwartungen möglicher Leser korrespondieren. Hat er Glück, findet er Geschwister im Geiste. Er kann diesem Glück ein wenig nachhelfen, wenn er sich rechtzeitig, das heißt, bereits während des Planens und Schreibens, überlegt, wen er ansprechen kann und will. Der Erfolg des Schreibens hängt häufig genau von dieser Fähigkeit ab. »Zu wissen, für wen man schreibt, heißt zu wissen, wie man schreiben muss.« (Virginia Woolf)
Ich will hier keinem Schubladendenken Vorschub leisten, doch Agenten und Lektoren erwarten – mehr denn je – von einem Manuskript eine klare Möglichkeit der Zuordnung: E oder U, Mainstream oder Genre, und wenn Genre, dann welches?
Dass sich die anspruchsvolle Feuilletonliteratur (der zur Hochkultur gehörige E-Bereich) in einem umfangreichen mittleren Bereich mit der ›unterhaltenden‹ Literatur überschneidet, ist im deutschen Sprachraum unzweifelhaft Marktrealität; dennoch ist die alte (bei uns besonders ausgeprägte) E- und U-Aufteilung nicht aus den Köpfen zu vertreiben: die trennende und wertende Unterscheidung zwischen der ›eigentlichen‹ und ›ernsthaften‹ (Kunst-, Kanon- und Feuilleton-)Literatur und der ›bloßen‹ (populären) Unterhaltungsliteratur, die als konventionell oder gar als trivial angesehen wird. Die E-Literatur wird gelobt, die U-Literatur gelesen, um es überspitzt und mit Lessing zu formulieren, die eine streicht Stipendien, Stadtschreiberstellen und Preise ein, die andere bessere Verkaufszahlen. Die eine wird in den Verlagen quersubventioniert, die andere muss sich ihr Geld selbst verdienen. Der mittlere Bereich, also die ›anspruchsvolle Unterhaltung‹, findet zwar die Gunst der meisten Verlage und zahlreicher Leser, aber in unserem literarischen Koordinaten- und Wertungssystem hat sie noch keinen angemessenen Ort gefunden.
In den angelsächsischen Ländern wird die Romanliteratur häufig differenzierter in drei Kategorien eingeteilt: highbrow, middlebrow und lowbrow. Will man die englischen Begriffe ins Deutsche übertragen, wäre
→ lowbrow Trivial- oder Schemaliteratur,
→ middlebrow anspruchsvolle Unterhaltungsliteratur und ›leichtere‹ E-Literatur;
→ highbrow müsste man der Kunst- oder Feuilletonliteratur zuordnen, der Kanon-Literatur und der (experimentellen) Avantgarde.
Im Grunde ist auch diese Dreiteilung zu grob, man könnte ebenso fünf Ebenen unterscheiden:
1. Da ist zum einen die Heftchen-Literatur, eine triviale Genre-Literatur, die nach vorgegebenem Schema am Fließband hergestellt wird. Sie ist auch vom Preis her billige Konsumliteratur, die man sich nicht einmal ins Regal stellen kann. Die Autorennamen sind Pseudonyme bzw. fiktiv, das heißt: hinter einem Namen verbergen sich häufig mehrere ›Lohnschreiber‹. Obwohl die Auflagenzahlen hoch sind (vor ca. fünfzehn Jahren wurden sie in Deutschland insgesamt auf unglaubliche 300 Millionen pro Jahr geschätzt!), geben die Konsumenten bei Befragungen selten zu, dass sie solche Literatur (früher wurden sie »Groschenhefte« oder einfach »Schund« genannt) lesen.
2. Auf leicht höherem Niveau, aber ebenfalls schematisch, ist der (›seichte‹) Trivialroman. Er erscheint als Taschenbuch, wird oft seriell verfasst und erreicht, wenn erfolgreich, ein breites Publikum.
3. Der mehr oder weniger anspruchsvolle oder gehobene Unterhaltungsroman umfasst (auch in Hinsicht auf seine literarischen Qualitäten) ein breites Spektrum: Meist wird er als Genre-Roman gehandelt und folgt den entsprechenden Konventionen und Erwartungsmustern, die jedoch immer individuelle und kreative Abweichungen einschließen, ja, voraussetzen.
Einzelne Titel gehören zu den erfolgreichsten Büchern überhaupt. Ihre Autoren bemühen sich um spannendes und emotional aufgeladenes Erzählen, um Welthaltigkeit (auch in der ›Fantastik‹) und Aktualität ihrer Themen, um melodramatische Momente und ungewöhnliche Situationen, um sympathische Hauptfiguren und raffinierte Gegenspieler, um durchsichtige Handlungsführung und meist auch um ein Happy End. Der Lesefluss soll möglichst nicht durch formale oder sprachliche Eigenheiten unterbrochen werden.
Durch all die genannten Aspekte und die Vermeidung von hoher Komplexität in Sprache und Komposition sprechen sie ein breites, aber zugleich lesegeschultes Publikum an, das sich hauptsächlich für Menschen und ihre Schicksale interessiert, kaum für sprachliche wie formale Experimente.
4. Die dem E-Bereich zugeordnete Mainstream-Literatur beansprucht für sich eine werkzentrierte Poetik, wie bereits Gustave Flaubert betont hat. Sie tritt in anderem Gewand, mit anderem Anspruch und in einem anderen literarischen Milieu auf, wird meist von speziellen Verlagen (Suhrkamp, Hanser, Rowohlt, Fischer u. a.) publiziert, ohne sich jedoch in ihren Mitteln zwangsläufig von anspruchsvoller Unterhaltung zu unterscheiden.
Sie im Einzelnen zu charakterisieren, fällt wegen ihrer Vielfalt schwer. Auch sie kann Bestseller hervorbringen und wird von vielen als die eigentliche Literatur angesehen. Ihre Sprache ist kunstvoller und komplexer und tendiert häufig dazu, zum eigentlichen Zweck der Darstellung zu werden. Originalität ist noch immer das zentrale Gebot, und ohne Kunstsignale, spezielle »Kunstgriffe« (im Sinne von Viktor Šklovskij) und Mittel der Verfremdung kommt kaum ein Werk aus. Die szenische Darstellung tritt häufig hinter der deskriptiven zurück. Auch inhaltlich unterscheiden sich E und U. Um ein simples Beispiel zu nennen: Im Unterhaltungsroman wird ein klares Ende erwartet, häufig sogar ein Happy End, das im trivialen, wunschgesteuerten Roman vorausgesetzt wird. Im E-Bereich sucht man eher einen ›realistischen‹, also einen offenen, gar unklaren und häufig auch einen düsteren Schluss.
5. Auf der höchsten Stufe der Originalitäts-Ambition siedelt sich die experimentelle Literatur an, die Avantgarde, die Verneinung alles Populären und Eingängigen. Ihre Vertreter schreiben wenig populär, häufig sogar sperrig und selbstreferentiell, können aber durchaus auf ihre Fan-Gemeinde zählen, häufig hymnische Kritiken lesen und gelegentlich bedeutende Literaturpreise einsammeln. Die Verlage verleihen ihrer Prosa gern die Bezeichnung »sprachmächtig« oder nennen den Roman »ein virtuoses Kunstwerk – vielschichtig, geheimnisvoll und kühn« (um einen Klappentext zu zitieren).
Wie immer bei Versuchen, Klassifizierungen vorzunehmen, sind die Grenzen fließend, und entsprechend lassen sich zahlreiche Autoren bzw. ihre Werke nur mit Mühe einordnen. Vielleicht ist der Versuch einer Differenzierung müßig, weil eindeutige Kriterien fehlen, weil man häufig nach einem Bauchgefühl, zumindest nach subjektiven Kriterien wertet oder bloßen Signalen aufsitzt, einem Kritiker oder sonstigen Meinungsführern nachredet.
Ich befürchte, dass sich die kaum sinnvoll zu begründende Zweiteilung in ›eigentliche‹ Literatur und Genre-Unterhaltung nur schwer aus unserem Denken vertreiben lässt. Noch immer wandert der E-Roman bei großen Verlagen in eine eigene Redaktion, noch immer kann die ›bloße‹ Unterhaltung verächtliches Lippenschürzen auslösen, weil sie mit Trivialität gleichgesetzt wird, noch immer ist die Trennung zwischen ›kulturell wertvoll‹ = preiswürdig und ›bloßem Konsumfutter‹ (ein Lektor: »Durchlaufliteratur«) in unseren Köpfen präsent.
Was die Kategorisierung vollends problematisch macht, ist die Tatsache, dass das abwertende Kriterium ›bloße Unterhaltung‹ hierzulande weniger streng auf ausländische Romane angewendet wird: Man gesteht ihnen einen höheren Unterhaltungs- und Spannungswert zu, ist eher geneigt, ihnen ihren konventionellen Realismus und ihren emotionalen Appell nachzusehen. Dies lässt sich unschwer an den Programmen der besonders ›anspruchsvollen‹ Verlage ablesen und ebenso an den Kritiken des Feuilletons.
Immerhin: Die Grenzen zwischen E und U verschwimmen, werden durchlässiger, die Ver- und Missachtung populärer Bestseller weicht sogar im Edelfeuilleton einer leicht hochnäsigen Neugier, wenn nicht gar einer ironisch gebrochenen Bewunderung. Jeder weiß mittlerweile, dass die schwierige, sperrige E-Literatur ein Nischenprodukt ist, das nur noch subventioniert überleben kann. Dies haben auch ihre Autoren längst begriffen und greifen nach Genre-Themen und -Mustern. Eins ist unübersehbar: In seiner Freizeit liest der ›gewöhnliche Leser‹ eher Dan Brown als Thomas Pynchon, und sogar der anspruchsvolle Kritiker greift auf einer langen Bahnfahrt (gelegentlich?) nach dem Bestseller, auch wenn er dann den »Schmöker« nach der Lektüre im Papierkorb des Bahnhofs entsorgt (wie ein Feuilletonkritiker einmal berichtet hat).
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt im Übrigen, wie wenig aussagekräftig die scharfe Trennung zwischen E und U ist, was die »Geschichtsresistenz« angeht. William Shakespeare zum Beispiel ist ein Unterhaltungsschriftsteller im besten Sinne des Wortes, seine Schauerstücke und Komödien ließen Kammerjungfern und Dockarbeiter kathartisch gruseln und sich grölend auf die Schenkel schlagen. Honoré de Balzac, ein epischer Demiurg, verfasste ein Werk, in dem Kolportage und Melodram einen breiten Raum einnehmen. Also ebenfalls Unterhaltung. Charles Dickens, nicht gerade ein vergessener Autor, schrieb Massenliteratur voller Sentimentalität und trivialer Effekte. Die avantgardistischen Formkünstler früherer Zeiten dagegen, zum Beispiel die Manieristen, sind nur noch Fachleuten ein Begriff. Oder denken Sie an die E-Literatur der französischen Klassik: Racine, Corneille – im Gegensatz zu Shakespeare gespreizt und steril, kaum noch lesbar und selten gespielt.
Die Literaturgeschichte, speziell die des 20. Jahrhunderts, zeigt noch mehr: Im Grunde sind alle Formen des Avantgardismus und des literarischen Experiments Tradition, also ›konventionell‹ geworden. Längst haben die Klassiker der Moderne die Grenzen des Romans abgeschritten und damit auch abgesteckt. In der Zeit nach der Postmoderne sind wir längst wieder frei geworden, alle wirkungsvollen Darstellungsmittel der letzten Jahrhunderte zu verwenden, ohne zwanghaft auf Originalität zu setzen, auf das literarische Qualitätskriterium, das allerdings erst seit ein paar Jahrhunderten Geltung hat. In der Antike und im Mittelalter schätzte man das Gegenteil: Vergil ahmte in seiner Aeneis die homerischen Epen nach, und die deutschen Epiker des Mittelalters sind ohne Chrétien de Troyes nicht denkbar. Dass, wie man an diesen Beispielen erkennen kann, sich auch in der Übernahme und Nachahmung von Stoffen und Formen Originalität entfalten kann, spricht für die Prinzipien des creative writing und die anspruchsvolle U-Literatur.
Ein Blick über den Zaun, zu anderen Kunstformen, bestätigt das Gesagte: Wer hört heute noch musica viva, die Gegenwartskompositionen der ›klassischen‹ E-Musik? Wer will abstreiten, dass zum Beispiel die Beatles oder Pink Floyd, obwohl unterhaltend und populär, den musikalischen Ausdruck erweitert haben und die Zeiten überdauern werden?
Und was die Malerei angeht: Eine klassische, ›akademische‹ Ausbildung erhält praktisch jeder Maler, gleichgültig, ob er später action painting macht, seine Figuren auf den Kopf stellt, Comics zeichnet oder knallbunte Kitschobjekte zu Kunst erklärt.
Um auf die Literatur zurückzukommen: Es gibt sehr gute, raffiniert erzählte, sprachlich variationsreiche und bildstarke Genre- und Unterhaltungsliteratur, aber auch viel trivialen Schrott, voller Klischees, geschrieben mit billigen, abgenutzten Effekten und in einer Stilbruchsprache, die über Haupt- und einen Nebensatz nicht hinauskommt. Es gibt hervorragende, emotional berührende und sogar spannende Mainstream-E-Literatur und daneben künstliches Zeug, geschraubt, langweilig und voller Manierismen.
Und natürlich gibt es Literatur für den kulturkritischen, ältlichen Professor, so er noch seine Fahne hochhält, und Literatur für die Sachbearbeiterin im Finanzamt, die sich in ihrem Urlaub auf Mallorca am Pool sonnt. Es gibt spannende Lektüre für nachtmüde Bettstunden und Romane voller Sprachwitz und Humor, die sich auch nicht vor einem Klischee scheuen, das ihre Leser ohnehin wenig stört.
Wer sich also, um auf meinen Ausgangspunkt zurückzukommen, auf dem deutschen Markt erfolgreich durchsetzen will, sollte sich eine Reihe von Fragen stellen und diese Fragen ehrlich beantworten, er sollte die eigenen Möglichkeiten realistisch einschätzen und sich Gedanken machen zum Anspruchsniveau, das er anstrebt.
→ Welche Art von Literatur habe ich bisher mit größtem Interesse gelesen? In welchen literarischen Genres kenne ich mich aus?
→ In welchen Wirklichkeits- und Wissensbereichen fühle ich mich heimisch? Wie weit bin ich bereit, intensive Feldforschung und Recherche zu betreiben?
→ Welche Darstellungsformen kenne ich, welche glaube ich selbst beherrschen zu können?
→ Interessiert mich mehr die realistische Schilderung von Menschen und ihren Schicksalen, oder faszinieren mich stilistische Experimente und ungewöhnliche Ausdrucksweisen?
→ Möchte ich der Gesellschaft ein grotesk oder satirisch verzerrtes Bild entgegenhalten oder sie mehr durch leicht verdaulichen Humor zum Lächeln bringen? Fallen mir immer wieder witzige Formulierungen und Pointen ein, über die meine Umwelt auch lacht?
→ Möchte ich mich – in welcher Verkleidung und Verfremdung auch immer – mit meinen eigenen Erfahrungen auseinandersetzen, oder interessiere ich mich mehr für die Schaffung vergangener, unbekannter oder geheimnisvoller Welten? Möchte ich Grenzbereiche menschlicher Handlungsweisen ausloten, oder reizt mich die Aufklärung und Verfolgung kriminellen Verhaltens?
→ Welche Leser bzw. Lesergruppen will ich ansprechen? Den Feuilletonredakteur, den Literaturprofessor oder ihre Sekretärinnen, die junge Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität steht, oder die ältere Dame mit gehobenem, kulinarischem Geschmack? Geht es mir mehr um Männer, die harte Fakten und harte Fäuste, Schwerter und Revolver lieben, oder um Frauen, die vom abenteuerlichen Seitensprung oder von der romantischen Liebe träumen, deren wahre Erfüllung ihnen bisher noch verwehrt blieb?
→ Dahinter taucht immer wieder die Frage auf: Zähle ich mich zur E-Literatur, oder will ich ›nur‹ unterhalten – und auf welchem Niveau will ich unterhalten?
→ Nicht zuletzt sollte ich mich fragen, ob es mir, schlicht gesprochen, mehr um hohe Verkaufszahlen und entsprechende Honorare geht oder ob die Aufmerksamkeit durch das Edelfeuilleton und die literarische lob- und preiseverteilende Öffentlichkeit (der ›Ruhm‹) das entscheidende Ziel ist.
Vermutlich geht nur eine Minderheit der Schriftsteller derart bewusst planend vor. Die Mehrheit wird automatisch ihren Weg gehen, nach den eigenen Lektürepräferenzen und literarischen Vorbildern, nach Interessenausrichtung, nach den Ratschlägen von Agenten, Lektoren oder auch Freunden und Erstlesern und nach Marktmöglichkeiten, die sich häufig mehr oder weniger zufällig ergeben.
Mir scheint jedoch – und ich spreche da auch aus intensiver eigener Erfahrung – die selbstkritische Auseinandersetzung mit den Fragen nach U oder E, nach Anspruchsniveau und thematischer Ausrichtung, nach Mainstream oder Genre auch deswegen so wichtig zu sein, weil sie hilft, den eigenen Weg bewusster und erfolgreicher zu beschreiten.
→ Überlegen Sie sich also gut, in welche Richtung Sie gehen, in welchem Marktsegment Sie reüssieren wollen.
→ Schreiben Sie das, was Ihnen am ehesten liegt, aber versuchen Sie immer, das Beste aus Ihren Möglichkeiten zu machen.
→ Negieren Sie alle ideologischen Positionen und schreiben Sie möglichst gut: fesselnd, lustvoll und wahr. Kombinieren Sie Ihre Suche nach Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit damit, neugierig zu machen, Interesse zu wecken und zu faszinieren. Langeweile zu vermeiden ist nie falsch.
→ Finden Sie einen Ausgleich zwischen Ihren eigenen Qualitätsvorstellungen und den Anforderungen des Marktes (bzw. den Vorstellungen der Verlagsleute), falls sie auseinanderklaffen. Jeder möchte gerne Erfolg haben, aber niemand will sich verbiegen. Einen Mittelweg zu finden ist oft schwer, ohne Kompromisse geht es nur selten. Verteidigen Sie Ihre Position, aber haben Sie kein schlechtes Gewissen, wenn Sie sich zu etwas überreden lassen, was Sie eigentlich nicht tun wollen.
Es ist nicht ehrenrührig, etwas zu schreiben, von dem man glaubt, es könnte erfolgreich sein. Dies muss nicht bedeuten, dass man nur nach Verkaufszahlen schielt und möglichst seicht, verlogen und klischeehaft schreibt. Wer so denkt, hält die Leser für dümmer, als sie sind.
→ Meditieren Sie immer mal über G. C. Lichtenbergs Bemerkung: »Was eigentlich den Schriftsteller für den Menschen ausmacht, ist, beständig zu sagen, was […] der größte Teil denkt oder fühlt, ohne es zu wissen. Der mittelmäßige Schriftsteller sagt nur, was jeder würde gesagt haben.«
Genre
Da Leser und Buchhändler in der Vielfalt der Romanangebote Orientierung brauchen, werden die Romane in Genres eingeteilt. Diese Genres haben sich als Hilfsmittel bewährt, die Vielzahl der Geschichten in Schubladen einzuteilen bzw. auf (Buchhandels-)Tischen und Regalen zu ordnen. Dabei sollen Interessenausrichtung, Geschmack und Anspruch der Leser möglichst treffend kanalisiert und gebündelt werden.
Diese Entwicklung hat sich während der letzten Jahrzehnte verstärkt, so dass Agenten und Lektoren meist vom Autor eine Genre-Einordnung seines Werks fordern. Wer sich mit seinem Roman nicht oder nur mühsam zuordnen lässt, hat es schwer; wer sich dagegen klar an Genre-Konventionen hält und »in der Art von« Erfolgsautoren schreibt, hat es wesentlich leichter, insbesondere dann, wenn sein Roman in ein gerade besonders gut gehendes Genre bzw. Subgenre passt. Denken Sie an die Welle der Vampirromane, die nach Stephenie Meyers Welterfolg über die Bücherlandschaft schwappte, oder an die L&L-Welle (Love & Landscape), die vorbereitet und angeführt wurde von Rosamunde Pilcher und den zahllosen Fernsehfilmen, die unter ihrem Namen laufen.
Betrachtet man das Genre aus der Sicht des Autors, könnte man es nach einer Definition von Claudio Guillén als Einladung definieren, Inhalt und Form einer Geschichte in einer bereits zuvor erreichten und bewährten Weise zu kombinieren. Es ist, mit anderen Worten, für den Autor, der eine adäquate Form für seinen Stoff sucht, ein Problemlösungsmodell, das seine Nützlichkeit schon bewiesen hat. In ihm werden typische Strukturen wie Inhalte aufgegriffen und zugleich abgewandelt. Die verschiedenen Genretypen erzählen, wenn man so will, uralte Geschichten im neuen Gewand: den Mord und seine Aufklärung, das weit zurückliegende Leben eines großen Helden, die Saga einer Familie, das Abenteuer einer Reise, die schmerzhafte Entdeckung einer Wahrheit, den Kampf um eine große Liebe. Pointiert ausgedrückt, verbindet das Genre die Prinzipien von Mythos und Mode, zieht die Wurzel aus Zeitlosigkeit und Zeitgeist.
Zu den bekanntesten Genres gehören (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
→ der historische Roman,
→ der Krimi bzw. der Detektivroman,
→ der (Psycho-)Thriller bzw. der Spannungsroman,
→ das Liebesmelodram (romance),
→ die Familiensaga,
→ der Gesellschaftsroman,
→ der Abenteuerroman,
→ Science-Fiction,
→ der Schauerroman mit Horror und Mystery,
→ Fantasy,
→ der (meist humorvolle) Frauenroman (Chick-Lit), neuerdings ergänzt durch den Männerroman (Lad-Lit),
→ Humor (häufig im Gewand der gerade genannten Genres) und Satire,
→ die Weisheits- und Erbauungsliteratur (Paulo Coelho, Éric-Emmanuel Schmitt & Co.),
→ »Kult«, »Popliteratur«
→ und das Feld der Jugendliteratur, die mittlerweile auch als all age funktioniert.
→ Selten geworden sind Western, Heimatroman und Landserliteratur.
Je nach Differenzierungswilligkeit und auch Modeströmungen kann man Unterabteilungen, Vermischungen oder weitere (Sub-)Genres bilden:
→ den historischen Kriminalroman,
→ die historische Zeitreise,
→ den Regionalkrimi,
→ den Katzen-, Schafs-, also den Tierkrimi,
→ den Politthriller,
→ die Vampirsaga,
→ den biographischen Roman einer berühmten Persönlichkeit und andere.
Insbesondere das Genre, in dem es im weiten Sinn um Verbrechen geht (Krimi, Thriller), produziert immer neue Unterformen.
Genre-Literatur wird im deutschsprachigen Raum zur Populärkultur gerechnet, wobei zu sagen ist, dass der Krimi seit geraumer Zeit feuilletonfähig geworden ist, wie man unschwer an der Wahrnehmung und Bewertung durch die gehobene Literaturkritik beobachten kann. Intellektuelle bekennen sich zu seiner Lektüre (bereits Gottfried Benn ließ immer mal einfließen, er lese gerne »gute« Kriminalromane als »Radiergummi für die Seele«) oder versuchen sich selbst in diesem Genre. Der Kriminalroman gilt in seinen Ausdifferenzierungen mittlerweile als Gesellschaftsroman und verbindet sich so mit dem Mainstream.
Die gestiegene Wertschätzung gilt nicht für den historischen Roman, der in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum die klassische Form eines faktengesättigten Epochenporträts oder einer Romanbiographie verloren und sich auf Grund der Verkaufsquoten zum Kostümroman und zur Liebesschmonzette entwickelt hat. Es gibt einige wenige Ausnahmen, und dieser Trend gilt auch nicht überall, wie man an den Booker-Preisen für die historischen Romane von Hilary Mantel sehen kann. In England zum Beispiel gehört(e) es zum guten Ton für Autoren der Hochkultur, auch einen historischen Roman oder eine Biographie geschrieben zu haben.