Die erfolgreichen Corona-Impfstoffe zeigen: Eine neue Art der Medizin steht in die Startlöchern, die unser Leben schon morgen entscheidend verändern kann. Denn RNA-Therapien können der lang ersehnte Wendepunkt in der Therapie von Krebs, Influenza, HIV und Malaria sein und zukünftig viele Menschenleben retten. Können wir auf einen Durchbruch bei Therapien von Krebs oder HIV hoffen? Gibt es Auswege aus schwer verlaufenden Muskel- und Autoimmunkrankheiten, die bislang als hoffnungslos galten?
Die renommierten Wissenschaftsjournalisten Ulrich Bahnsen und Edda Grabar beschreiben so anschaulich wie faszinierend, wo die Forschung heute steht und welche durchschlagenden Erfolge die neue Ära der Medizin begründen.
Edda Grabar
Dr. Ulrich Bahnsen
DAS
ENDE
ALLER
LEIDEN
Wie RNA-Therapien die Behandlung
von Krebs, Herzkrankheiten und
Infektionen revolutionieren
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Matthias Auer, Bodmann-Ludwigshafen
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung
einer Illustration von © onot/shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1855-4
luebbe.de
lesejury.de
RNA – diese drei Buchstaben bedeuten heute nicht weniger als die Rettung der Welt. Das Kürzel ist zum Synonym für eine Art von Impfung geworden, die uns vor einer der schlimmsten Katastrophen der letzten Jahrzehnte bewahrt: der Corona-Pandemie. Mehr als fünf Millionen Menschen hat das Virus inzwischen getötet. Der Impfstoff eines deutschen und eines US-Unternehmen haben noch Schlimmeres verhindert.
Die Abkürzung steht für Ribonukleinsäure (engl. ribonucleic acid). Wir haben gelernt, dass sie die Bauanleitung für den Impfstoff enthält. Und dass unsere Zellen diese Bauanleitung verstehen. Dass sie sie nutzen, um unser Abwehrsystem gegen eine Infektion mit dem richtigen Virus zu wappnen. Das kommt uns so einfach über die Lippen. Aber ist es nicht unglaublich? Einem Gerüst aus Phosphor-, Zucker- und Nukleinbausteine gelingt es, unseren gesamten Körper vor einer Bedrohung zu warnen!
Denken Sie dann auch an Ihre Schulzeit zurück? In der Sie gelernt haben, dass mRNAs, die Boten des Erbguts sind. Die die Informationen der Gene in für die Zelle nützliche Proteine umsetzen. Und fragen Sie sich inzwischen, ob das wirklich alles war, wenn doch dieses kleine Molekül, so viel einzuleiten vermag? Dann liegen Sie richtig. Denken Sie größer! Viel größer! Und begeben Sie sich mit uns auf eine großartige Entdeckungsreise in die Welt der Ribonukleinsäuren.
Diese kleinen Moleküle sind viel mehr als nur die Boten. Sie sind – wenn man die Analogie wagen darf – die Apps unserer Hardware DNA. Ohne die wir mit der ganzen Information, die in unserem Erbgut gespeichert vorliegt, nichts anfangen könnten. Unser Genom enthält alle Daten, die wir benötigen, um geboren zu werden, aufzuwachsen, am Leben zu bleiben, Kinder zu zeugen und am Ende zu sterben. Aber ohne die RNA bliebe es stumm. So wie das Handy ohne Messengerdienste.
Die Moleküle sind die Grundlage des Lebens. Sie existierten bereits vor mehr als vier Milliarden Jahren. Und erst in jenem Augenblick, in dem sie sich zusammentaten, konnten Mikroorganismen und Bakterien entstehen, der Ursprung für die Vielfalt unseres Lebens.
Und auch Sie, liebe Leserin, würden ohne die kleinen Moleküle dies nicht lesen. Denn schon in den ersten Stunden nach der Zeugung, dann, wenn sich entscheidet, dass Sie ein Mädchen, kein Junge werden, retten RNAs Ihr Überleben. Unmittelbar nach der Befruchtung schalten eben jene RNA-Moleküle eines Ihrer zwei X-Chromosomen ab, die Sie bekanntlich besitzen und sorgen so dafür, dass Sie zu einem Menschen, einer Frau, werden. Das Phänomen der X-Inaktivierung hat die britische Wissenschaftlerin Mary Frances Lyon bereits 1962 postuliert. Dass dabei zwei RNAs die entscheidende Rolle spielen, haben Wissenschaftler erst ab den 1990er Jahren nach und nach erkannt.
Von dem Moment der Befruchtung sind sie also da, die RNAs. Steuern, das was wir für unser Leben brauchen. Sie überbringen, regulieren, schalten ab oder ein. Spätestens als zwei amerikanische Forscher namens Craig Mello und Andrew Fire durch Zufall entdeckten, dass RNA-Moleküle die Bildung von Proteinen unterbinden können, ist klar: RNAs sind nicht nur Boten. Sie sind eine geheime Sprache der Natur, derer sich der Körper bedient – und sogar Pflanzen, indem sie RNA-Moleküle ins Erdreich abgeben, die von Artgenossen wieder aufgenommen werden.
Was aber passiert, wenn die Botschaften fehlerhaft sind? Die falschen Anweisungen überbracht werden? Dann kann ein System leicht aus den Fugen geraten. Liegt der Fehler bereits in der Hardware, den Genen, können schwere Erbkrankheiten resultieren. Sind die Apps defekt, kann der Stoffwechsel entgleisen.
Die ganze Macht dieser kleinen Moleküle verstehen Wissenschaftler nun immer besser. Und sie finden Wege sie zu nutzen – für neue Impfstoffe: gegen HIV, gegen Malaria oder Hepatitis C. Bereits heute helfen RNA-Therapien gegen gefährlich hohe Cholesterinspiegel im Blut. Die Steuerung dieser kleinen Moleküle kann zur wichtigen Waffe gegen Herzkrankheiten wie die chronische Herzschwäche oder Krebs werden. Gerade erst haben Wissenschaftler festgestellt, dass bestimmte RNAs an so schrecklichen Erkrankungen wie AlS entscheidend beteiligt sind – das Leiden, dem auch der berühmte Physiker Stephen Hawking zum Opfer fiel.
Tausende schwere Erbkrankheiten sind bis heute ohne jede Therapie geblieben. Aber nun verspricht eine neue RNA-Technologie Heilung: Mit »Base-Editors« können Wissenschaftler die Fehler in den Botenmolekülen beheben. Sie können ganz präzise die Fehler der Natur reparieren. Für Millionen schwerkranker Menschen können sie – wenn sich die Aussichten bewahrheiten – endlich Hilfe bringen.
Die mRNA-Impfungen haben gezeigt, dass es funktionieren kann. Sie machen den Weg frei für RNA-Therapien. Die Aussichten sind so fantastisch, dass selbst das angesehene New England Journal of Medicine im Oktober 2021 schwärmte: »Die RNA-Revolution hat gerade erst begonnen«. Und sie hat in Deutschland begonnen. Lassen Sie sich also mitnehmen auf eine Reise in die Zukunft der Medizin.
Das Cavendish Laboratory der Universität befand sich 1953 noch in einem Gebäude an der Free School Lane im britischen Cambridge. Das bescherte »The Eagle«, einem nahegelegenen typisch britischen Pub, holzvertäfelt und kuschelig eng, zuverlässig gute Einnahmen. Viele Wissenschaftler des Instituts trafen sich dort zum Lunch – plauschten über ihre Forschung und noch viel lieber übereinander. Der 1667 zunächst als Kutschenstation gegründete Pub hatte dabei mit der Zeit eine Art zweites Leben als informeller wissenschaftlicher Debattierclub gewonnen. Man trank, aß und stritt sich genüsslich. Die wenigsten Gäste ahnten, dass die folgenden Jahre eine Flut aufregender Entdeckungen bringen und als die »goldene Ära der Molekularbiologie« in Erinnerung bleiben sollten.
Zu den Stammkunden im Eagle gehörten auch zwei bis dato gänzlich unbekannte und weitgehend erfolglose Forscher namens Francis Crick und James D. Watson. Der Amerikaner Watson war zu dieser Zeit ein noch junger Nachwuchswissenschaftler, der deutlich ältere Crick ein eher glückloser Physiker, der sich mit 36 Jahren noch immer mit seiner Doktorarbeit abmühte – und auch sonst nichts von Bedeutung verfasst hatte. »Seit 35 Jahren hat Francis nun schon ununterbrochen geredet, und bisher ist so gut wie nichts von entscheidendem Wert dabei herausgekommen«, soll sein Chef in Cambridge augenzwinkernd über ihn gesagt haben. Dennoch mangelte es den beiden keineswegs an Selbstbewusstsein. Wenn sie auch ihre eigene Forschungsarbeit nicht vorantrieben, so tüftelten und philosophierten sie doch übermütig und fühlten sich über andere erhaben. Nach dem 28. Februar 1953 spielten ihre wenig beeindruckenden bisherigen Leistungen allerdings keine Rolle mehr. Ab dem einen Moment nämlich, als Crick sich vom Mittagstisch erhob, eine Zeichnung hochhielt, die beide gerade auf ein Blatt Papier gekritzelt hatten, und in den Gastraum rief: »Gentlemen, ich und Jim haben das Geheimnis des Lebens entdeckt!«
Diese Unterbrechung ihres Mittagessens werden die anwesenden Gäste im Eagle wohl nie vergessen haben. Denn kurz darauf, am 25. April, veröffentlichte das renommierte Fachjournal Nature die Entdeckung der beiden Forscher auf nur einer Seite. Es waren gedruckt knapp 900 Wörter; der Titel: Die Struktur unseres Erbmoleküls, die DNA-Doppelhelix. Berühmt wurde der mit reichlich britischem Understatement formulierte Schlusssatz ihres Artikels: »Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die spezifische (Basen-)Paarung, die wir postulieren, unmittelbar einen kopierenden Mechanismus für das Erbmaterial nahelegt.«
Das war es, was in den vorhergehenden fünf Jahre Biologen, Chemiker und Physiker in ihren Bann gezogen hatte. Ein Erbmolekül ja, aber was sollte dies sein, und wie sollte es so auf sich teilende Zellen übertragen werden, dass alle Nachkommen die identische Information erhielten? Wie konnte das funktionieren?
Was Watson und Crick vorschlugen, war brillant: Das Erbgut gleicht einer verdrillten Strickleiter der DNA – mit Seilen aus Zucker- und Phosphatresten und Sprossen, die von je zwei »verliebten« Molekülen gebildet werden. Die berühmten Basen A (Adenin) und T (Thymin) sowie C (Cytosin) und G (Guanin) sind eng verbunden über elektrochemische Kräfte. Diese Spirale aus Molekülen bildet die Grundlage des Lebens. Es war der lang gesuchte perfekte Kopiermechanismus, mit dem Zellen ihr Erbmaterial verdoppeln, bevor sie sich teilen. Wenn beide Teile der Strickleiter sich trennen, bildet jeder Strang eine Vorlage für den anderen. Das erklärt das Wunder der Vermehrung und des Wachstums, bildet das Fundament der Molekularbiologie, wie wir sie heute kennen – und der Technologie, der wir heute die besten Impfungen gegen das Coronavirus verdanken.
Aber schauen wir noch ein wenig zurück: Der Coup, der Watson und Crick gelang, hatte einen kleinen, aber nicht unerheblichen Schönheitsfehler. Einen, der sich immer wieder durch die Wissenschaftsgeschichte zieht und selbst vor unserem kleinen Molekül, um das sich in diesem Buch alles drehen soll, der RNA, nicht haltmacht. Meist ganz bewusst, manchmal unabsichtlich verzerren die Protagonisten selbst oder die Historiker die Tatsachen. In diesem Fall ist es die Frage, wie viel Watson und Crick eigentlich selbst zu ihrer Entdeckung beigetragen haben. Experimente im Labor haben sie jedenfalls selbst nicht durchgeführt, um der DNA auf die Schliche zu kommen. Die beiden institutsbekannten Hallodris konnten aber bereits auf das recht umfangreiche Wissen anderer zurückgreifen. Keineswegs waren sie, wie manchmal fälschlicherweise kolportiert, die Entdecker der DNA.
Das fädige Erbmolekül hatte der Schweizer Biochemiker Friedrich Miescher bereits 1869 bei der Untersuchung von Wundeiter in weißen Blutzellen gefunden – ausgerechnet in Tübingen, nur ein paar hundert Meter von dem Ort entfernt, wo ein gewisser Ingmar Hörr, der die – inzwischen gebräuchliche – Schreibung seines Nachnamens später in »Hoerr« abänderte, »weil die Engländer und Amerikaner einfach mit dem ›ö‹ nicht klarkommen«, ziemlich genau 130 Jahre später »aus Versehen« die mRNA-Impfung neu erfinden wird. Miescher allerdings stand nicht in einem hochtechnisierten Labor, wo ihm Doktoranden assistierten – er musste sich weitaus schlichter mit der umgebauten Küche des einstigen Schlosses Hohentübingen zufriedengeben. Zwischen Waschzubern untersuchte er dort die Bestandteile des gerade erst entdeckten Zellkerns (Nucleus) und nennt die glibberige weiße Substanz, die er daraus isoliert hatte, schlicht Nuclein. Kurz darauf gelang es deutschen Wissenschaftlern, die vier Basen zu identifizieren, 1929 stieß der russische Biochemiker Phoebus Levene auf die Zucker- (Desoxyribose) und die Phosphorsäure, an denen die Basen kleben. Aus dem Nuclein wurde endgültig die Nukleinsäure. Nur drei Jahre vor Watson und Cricks Postulat entdeckte der Chemiker Erwin Chargaff die »verliebten Moleküle«, sprich die Regel der Basenpaarung – er stellte fest, dass sich immer T mit A und G mit C über elektrochemische Anziehungskräfte paaren; sie sind komplementär zueinander wie die Farben: Rot und Grün oder Blau und Gelb.
Watson und Crick spielten aber nicht nur mit fairen Mitteln, bevor sie schließlich das internationale Wettrennen um die Struktur der Doppelhelix für sich entschieden. Jeder wusste: Wer das Rätsel lösen würde, dem wäre der Nobelpreis gewiss. Und so freundeten sie sich mit Peter Pauling an, dem Sohn des berühmten Proteinchemikers und Friedensaktivisten Linus Pauling, der in den späten 1930er Jahren erklären konnte, wie das Hämoglobin in unseren roten Blutkörperchen den Sauerstoff aufnimmt und durch den Körper transportiert. Seinen Sohn hatte Pauling Anfang der 1950er Jahre auf Europareise geschickt, die ihn auch ans Cavendish Laboratory führte, und bei ihm erhaschten sie einen Blick auf ein noch unveröffentlichtes Manuskript seines Vaters. Dort erkannten sie eine schraubenförmige zweikettige Spirale, die allerdings einen ziemlich offensichtlichen Fehler aufwies: Pauling hatte die Ketten falsch verknüpft.
Noch zweifelhafter aber gingen sie mit der damals wohl größten Koryphäe der Röntgenstrukturanalyse um. Watson und Crick hatten Rosalind Franklin zu sich eingeladen, um ihr DNA-Modell zu präsentieren. Nach einem kurzen Blick darauf soll sie, übereinstimmenden Berichten zufolge, wortlos das Labor verlassen haben. Dieser Stachel der Niederlage brannte im Fleisch der beiden Aspiranten, insbesondere Watson kam auch Jahrzehnte später nicht darüber hinweg. Selbst in seinen Memoiren lästerte er über die Ausnahme-Wissenschaftlerin – und nannte sie abfällig Rosy.
Rosalind Franklin selbst arbeitete am nur 80 Kilometer entfernten King’s College in London. Sie und ihr Kollege Maurice Wilkins hatten den silbrigen Faden, der als DNA in jeder Zelle schwimmt, wieder und wieder mithilfe von Röntgenstrahlen vermessen. Ihre Bilder, die entstanden, wenn Röntgenstrahlen durch DNA-Kristalle geschossen und dabei charakteristisch abgelenkt wurden, galten als die besten der damaligen Zeit. Franklin hatte bereits festgestellt, dass die Zuckeranteile der DNA auf der Außenseite des Moleküls liegen mussten. Sie hatte etliche Modelle entwickelt und rasch erkannt, dass sich dieses universelle Molekül wie eine Schraube windet. Die Spezialistin für Röntgenstrukturanalyse aber hatte in der Wissenschaft einen schweren Stand. Frauen spielten in diesen Zeiten eine untergeordnete Rolle. Insbesondere an den britischen Universitäten galten sie schon während ihrer Ausbildung nicht als vollwertige Studentinnen, sondern lediglich als »Schülerinnen der Colleges von Girton und Newnham«. Anspruch auf einen akademischen Grad hatten sie nur pro forma, und wenn es einer Studentin tatsächlich gelang, sich durchzusetzen, war ihr der Spott der Jünglinge aus der britischen Upperclass über den »Tits Title«, den »Titten-Titel«, gewiss.
So erging es auch Franklin. Ihr Kollege Maurice Wilkins konnte es kaum verkraften, dass sie ihm nicht etwa assistieren sollte, sondern gleichgestellt war. Rosalind Franklin wiederum war charakterlich nicht so gestrickt, dass sie sich von einem Kollegen sagen lassen wollte, wie sie ihre Arbeit zu gestalten habe. So knallte es wohl häufiger zwischen den beiden. Als Watson auf einen Besuch am King’s College vorbeischaute, um ihr das fehlerhafte Modell von Pauling zu präsentieren – und ein weiteres Mal auf vollständiges Desinteresse stieß –, zeigte ihm stattdessen Wilkins einfach die neuesten Röntgenaufnahmen, die er und Franklin von dem Erbmolekül gemacht hatten: Ihm sei sofort klar gewesen, sagte Watson später, dass die DNA eine Doppelhelix aus zwei spiraligen Einzelsträngen sein müsse.
Nur neun Jahre später, im Jahr 1962, erhielten James Watson, Francis Crick und Maurice Wilkins den Nobelpreis. Nicht ausgezeichnet wurde Rosalind Franklin, die unfreiwillig die entscheidenden Ergebnisse geliefert hatte. Sie starb vier Jahre vor der Entscheidung des Nobel-Komitees an Eierstockkrebs und konnte nach den Statuten nicht posthum berücksichtigt werden. Crick und Watson hatten zwar kein einziges Experiment zur DNA-Struktur durchgeführt, aber letztlich die richtige Idee geboren. Dabei spielte auch gleichsam ästhetische Intuition eine große Rolle: »Wir haben sie bewusst genutzt«, sagte Watson viele Jahre später. »Eine einfache und elegante Lösung ist ästhetisch. Plötzlich war es ganz klar, wie die Natur ein Gen kopiert. Ich glaube, nur wenige Entdeckungen waren von solch perfekter Schönheit.«
Tatsächlich hatten Crick und Watson das große Geheimnis gelüftet. Die DNA ist eine Doppelhelix, deren beide Stränge von den gepaarten Basen zusammengehalten werden. Und infolge der Basenpaarungsregel kann jeder Strang als Matrize für den anderen dienen. Für jede rote Base eine grüne, für jede blaue eine gelbe – und umgekehrt. Wenn sich DNA verdoppelt, enthält das neue Molekül je einen alten DNA-Strang, während der zweite Strang aus einzelnen »DNA-Bausteinen«, den Nukleotiden, die sich immer ihren entsprechenden Basenpartner suchen, neu gebildet wird. Das Rätsel der Vererbung war gelöst.
Mit der Entschlüsselung der DNA-Struktur beginnt, zunächst zögerlich und dann kometenhaft, der Aufstieg der molekularen Biologie und Genetik, der Biotechnologie und der molekularen Medizin – und damit letztlich auch der Aufstieg ihrer »kleinen« Schwester, der RNA. Immer wieder war in den vergangenen beiden Jahren zu lesen, dass die mRNA-Impfungen von CureVac, BioNTech und Moderna einen Teil der genetischen Information des neuen Coronavirus tragen würden. Dass der Körper diesen Bauplan übersetze und so den eigentlichen Impfstoff selbst produziere. Aber was ist eigentlich diese genetische Information, und wie wird sie übersetzt? Was Watson und Crick vorgestellt hatten, war ja nichts weiter als die Struktur eines Moleküls. Sie verstanden weder den Code, mit dem die genetische Information verschlüsselt ist, noch, wie diese überhaupt aus dem Zellkern herausgelangen und in das umgesetzt werden kann, was die Natur benötigt: die Proteine des Organismus.
Das, was uns heute so selbstverständlich erscheint, womit schon Schüler umgehen, als hätte es niemals Fragen dazu gegeben, war vor nicht einmal einem Menschenleben noch ein großes Rätsel. Schauen wir also noch einmal zurück in die 1950er und 1960er Jahre. Es waren Jahrzehnte, in denen die ganz großen Entdeckungen gelangen, die uns zeigten, wie aus der DNA echtes Leben werden kann. Es war eine Zeit, in der auch die wahren Akteure des Lebens aufgespürt wurden: die RNAs. Was damals entdeckt wurde, ist heute die Blaupause für die Medizin der Zukunft.
Der Weg zu den Genen führt über die Bohnen und die Ackerschmalwand, die Laborratten der Botaniker. Mit ihnen werden Biologiestudenten noch heute durch die Molekularphysiologie der Pflanze gescheucht. Die Autoren dieses Buches wissen ein Lied davon zu singen. Auch der dänische Biologe Wilhelm Johannsen experimentierte mit Bohnen. Er beobachtete ihre unterschiedliche Größe und ihr unterschiedliches Gewicht. Immer und immer wieder wiederholte er seine Experimente und kam letztlich zu dem Schluss, dass es zwei Gründe für die Veränderung von Lebewesen gebe: entweder äußere Einflüsse oder zufällig hervorgerufene Variation. Im Jahr 1909 gab er den für die Veränderungen verantwortlichen Komponenten im Inneren der Zellen den Namen Gene. Nur ein Jahr später entdeckte der Amerikaner Thomas Hunt, dass Chromosomen die Träger der Gene sein müssen. Und dass sie hintereinander auf den Chromosomen angeordnet sind.
Gut fünfzig Jahre also bevor sich Crick und Watson auf ihre Jagd nach der Struktur der DNA machten, waren die Grundlagen der Molekularbiologie schon gelegt. Aber was sind Gene eigentlich? Die wohl einfachste Erklärung ist, dass sie die Bauanleitung für Eiweiße, also Proteine, bereitstellen, die wichtigsten Bausteine unseres Körpers. Tatsächlich aber ist es, wie so vieles in der Natur, weitaus komplizierter. Doch bleiben wir erst mal dabei.
Proteine spielen bei jedem Vorgang in Zellen und Geweben eine Rolle. Eiweiße sind Baustoffe für unsere Muskulatur und Sehnen, sie arbeiten als Schalter und Pumpen in unseren Zellen, transportieren den lebensnotwendigen Sauerstoff durch unsere Adern. Als Enzyme ermöglichen sie fast sämtliche chemischen Prozesse im Körper: Sie zerkleinern die Nahrung und helfen, sie in Zellen aufzunehmen. Das alles wussten auch Watson und Crick, die nach ihrer spektakulären Veröffentlichung nun doch zu ernsthaften Wissenschaftlern wurden.
Und nachdem sie so fabulös die Struktur des Erbmoleküls entworfen hatten, sinnierten sie nun über die Frage, wie und in welcher Form die Information, die in ihr verborgen ist, denn wohl in die Proteine umgesetzt werden könnte. Die Struktur der DNA, die Doppelhelix, hatte den Wissenschaftlern zwar erklärt, wie das Erbgut vermehrt und weitergegeben werden kann. Sie wussten, dass DNA der Träger der Erbinformation ist. Auch die Proteinfabriken unserer Zellen, die Ribosomen, waren längst entdeckt. Doch wie schaffte es die Natur, die genetische Information für den Aufbau der Eiweiße an den Ribosomen zu nutzen?
Lange glaubte man, die Ribosomen würden sich direkt an die DNA heften und dort auf irgendeine Weise den Code für die Eiweiße auslesen. Doch das war andererseits schwer vorzustellen – Ribosomen sind vergleichsweise groß und liegen im Zellplasma. Bis zu der im Zellkern liegenden, dick in Proteine verpackten DNA können sie gar nicht vordringen. Musste es also nicht einen Übermittler geben? Eine Substanz X vielleicht, die die Gen-Information übernimmt und zu den Ribosomen transportiert, damit dort das vom Gen kodierte Protein aufgebaut wird? Nur – was war Substanz X?
Die besten Köpfe der noch jungen Molekularbiologie – viele von ihnen sollten später für ihre Leistungen Nobelpreise erhalten – ringen um die Lösung dieser Frage. Der innere Zirkel der Szene, der »RNA Tie Club«, trifft sich regelmäßig; die Wissenschaftler streiten, diskutieren, entwerfen Modelle und verwerfen sie wieder. Unter ihnen ist auch unser inzwischen in Harvard forschender Francis Crick. Zu der illustren Gesellschaft gehören zudem der britische Entwicklungsbiologe Sydney Brenner, der französische Mikro- und Molekularbiologe Jacques Monod, sein Landsmann, der Genetiker und Mediziner François Jacob, und andere hot shots ihrer Zeit. Dabei ist natürlich auch Jim Watson, dessen Manieren sich zwischenzeitlich nicht gebessert haben.
Monod lädt im Jahr 1959 alle zu einem Symposium nach Kopenhagen. Man trifft sich in einem Hotel, erneut diskutieren die Wissenschaftler über Substanz X. Man trinkt Kaffee, die Debatte ist lautstark. Schließlich präsentiert jeder Teilnehmer seine Ideen. Alle lauschen gebannt. Nur Watson liest während der Vorträge der Kollegen ostentativ die Zeitung. Als er selbst an der Reihe ist, kontern alle anderen; wie ein Mann verschanzen sie sich ihrerseits hinter Zeitungen. Schließlich äußert sich Crick und formuliert seine Hypothese, die als »das zentrale Dogma der Molekularbiologie« bekannt werden sollte: Die Information fließt von DNA über Substanz X zum Protein. Vom Protein kann sie nicht wieder zurückübertragen werden.
Die Substanz X, so lautete die Vorstellung der Forscher, sei RNA. Die Abkürzung steht für Ribonukleinsäure, die über ein Sauerstoffatom mehr in ihrem Zuckeranteil (Ribose) verfügt als die Desoxyribonukleinsäure, die »entsauerstoffte« Ribonukleinsäure. Das ist damals eine mutige Hypothese. Zu dieser Zeit sind noch viele Wissenschaftler davon überzeugt, dass Proteine die Träger der Erbinformation seien. Drei Jahre später wurden sie eines Besseren belehrt. Im Mai 1961 feiern die Pioniere der Molekularbiologie ihren Triumph mit zwei Artikeln im Fachmagazin Nature.
Die messenger-RNA (mRNA) ist damit entdeckt – rund 60 Jahre bevor sie einen ganz großen Auftritt als Retter in der Pandemie hat. Es mutet aus heutiger Perspektive fast ein wenig symbolisch an, dass es für die Entdeckung der mRNA nie einen Nobelpreis gab – zu sehr war diese Leistung das Ergebnis eines Teams, und mehr als drei Wissenschaftler eines Fachgebiets zeichnet das Komitee nicht aus. Dabei ist mRNA viel mehr als nur ein Bote – doch das werden Wissenschaftler erst Jahrzehnte später entdecken.
Nun hatte man zwar die DNA, ihre Struktur und einen Mittelsmann für deren genetische Information gefunden. Offen hingegen blieb die Frage: Wie verschlüsselt die Natur ihre Informationen?
Heinrich Matthaei ist 91 Jahre alt, als wir dieses Buch schreiben. Der ehemalige Leiter der Abteilung Molekulare Genetik des Max-Planck-Instituts für Toxikologie und experimentelle Medizin hat noch immer ein kleines Labor unten im Keller. Bis vor wenigen Jahren kam er täglich, um seiner Forschung nachzugehen. »Des Ganzen Wirklichkeit« wolle er noch entdecken, sagte er in einem seiner letzten Interviews im Spiegel, im Austausch mit Gott. Er weiß wohl, dass ihn die meisten der jungen Leute, die gewöhnlich die Flure des Instituts bevölkern, für etwas verschroben halten.
Ähnlich befremdet dürfte Matthaeis Doktorvater in den späten 1950er Jahren gewesen sein. Wobei verschroben vermutlich nicht das geeignete Wort gewesen wäre – Matthaei war verbissen ehrgeizig. Grundlagen, Kausalitäten zu entdecken, das war es, was den jungen Biochemiker aus Bonn antrieb. Deshalb musste er raus aus der piefigen Bundeshauptstadt des Wirtschaftswunderlandes Deutschland. Ein Stipendium bringt ihn 1960 an die National Institutes of Health in Bethesda, Maryland – nur dreißig Autominuten von Washington D.C. entfernt. Matthaei findet sich inmitten der Crème de la Crème der US-amerikanischen Naturwissenschaften wieder: Seit 1953 verstrich kein Jahr, in dem nicht wenigstens ein Wissenschaftler aus einem der nationalen Institute mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Auch unser DNA-Struktur-Entdecker James Watson lehrte inzwischen dort. Watson und Crick sollten zwei Jahre später, nachdem Matthaei in Bethesda eintraf, die höchste wissenschaftliche Würdigung erhalten. Nichts Geringeres schwebt Heinrich Matthaei vor.
Und das Glück scheint ihm hold. Am NIH lernt er in Marshall Nirenberg einen Seelenverwandten kennen – wie er selbst ein Denker und Tüftler, der sich zu Höherem berufen fühlt. Sie beschließen, das nächste große Rätsel zu lösen: den Code des Lebens zu knacken.
Dabei befanden sie sich in bester Gesellschaft: In England hatte Francis Crick inzwischen entdeckt, dass jeweils drei Basen eine Aminosäure kodieren mussten. Da die Natur zwanzig Aminosäuren nutzt, wäre ein Baustein viel zu wenig gewesen. Auch mit einem Zwei-Buchstaben-Code wären nur sechzehn Verschlüsselungen möglich gewesen – zu wenig für den Anspruch des Lebens. Zuvor hatten Forscher bereits alle erdenklichen Möglichkeiten diskutiert: einen Vier-Basen-Schlüssel, überlappende Basenfolgen oder auch, dass – grammatikalisch korrekt – »jede vierte Base ein Komma« sei.
Letztendlich half 1958 ein Versuch mit den höchst primitiven Bakterienviren: Die Forscher manipulierten so lange an den Bausteinen eines bestimmten Proteins herum, bis rein rechnerisch klar war, dass nur die Abfolgen von immer drei Basen zu einem funktionierenden Eiweiß führen konnten. Fehlten ein oder zwei Basen, scheiterte der Versuch. Nicht aber, wenn drei Basen fehlten – das Protein besaß dann zwar eine Aminosäure weniger, aber das Leseraster der Dreierregel blieb ja erhalten. Die Truppe erkannte sogar, dass es ein Startsignal geben musste. Denn ohne Startpunkt kann der Dreiercode schließlich in drei verschiedenen Rastern gelesen werden, und nur eines davon ergibt Sinn.
Vier Jahre später aber rätselte Cricks Gruppe noch immer an der entscheidenden Frage herum: Wie sieht der Code aus? Dies, so spekulierte sie, werde der Schlüssel zum Leben sein, der Universalcode der Natur. Er bestimmt, was Pflanzen, Tiere und Menschen physisch ausmacht. Wer die Folge der Basen zu lesen vermöge, der könne Krankheiten heilen, Fähigkeiten oder auch Unzulänglichkeiten erklären, glaubte die Wissenschaft damals – noch ohne zu ahnen, wie viel komplexer das Leben reguliert wird. Aber noch fehlte die universelle Verschlüsselungstechnik der Natur.
Crick und sein Team fieberten danach, auch diesen Coup zu landen. Doch ganz ähnlich wie Watson und Crick zehn Jahre zuvor forderten nun der Juniorprofessor Marshall Nirenberg und sein Postdoc Heinrich Matthaei ihrerseits die Elite der Fachwelt heraus – zu der unsere DNA-Pioniere längst zählten. Nirenberg und Matthaei diskutierten, grübelten und planten wochenlang, bis ihnen im Frühjahr 1961 die entscheidende und sehr amerikanische Idee kam: Keep it simple – halte es einfach. Statt wie die Spezialisten ihres Fachs das gesamte System zu entschlüsseln, wollten sie erst einmal nur ein einziges Wort verstehen, den Code für eine einzige Aminosäure.
Ausgerechnet als es dann so weit war, verschwand Nirenberg zu einem Forschungsaufenthalt nach Berkeley. Matthaei arbeitete allein im Labor: Er mischte eine künstlich erzeugte mRNA aus den Basen UUU (dreimal grün) mit radioaktiv markierten Aminosäuren und versetzte sie mit einer Mischung aus Zellinhalten, die auch die Proteinfabriken enthielten. Dann ließ er die Flüssigkeit durch ein Filterpapier sickern. Die mit mRNA markierte Aminosäure blieb im Filter hängen, freie Aminosäuren hingegen ließ er durch. Am 27. Mai 1961 um drei Uhr morgens versandte Heinrich Matthaei das schicksalhafte Fax seines Versuchsprotokolls an Nirenberg, das als Poly-U-Experiment in die Geschichte eingehen sollte: Die mRNA mit der Basenabfolge Uracil, Uracil, Uracil kodiert die Aminosäure Phenylalanin. Übersetzt auf die DNA heißt dies: Dreimal die Base Thymidin sind das Zeichen für Phenylalanin. Es war ihm gelungen, einen ersten Zugang zum Rätsel des genetischen Codes zu finden.
»The Nobel is Heinrich’s«, soll Laborleiter George Tomkins laut Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu Matthaei gesagt haben. Doch die Technik, mit deren Hilfe in den nächsten fünf Jahren alle weiteren zwanzig Aminosäuren entschlüsselt wurden, endet für den Deutschen tragisch. Am Ende erhalten Nirenberg und zwei US-Wissenschaftler, die die Voraussetzung für seinen Versuch geschaffen hatten, den Nobelpreis. Der Postdoc Heinrich Matthaei ging leer aus. Es gehört zu den umstrittenen Entscheidungen des Nobelpreiskomitees. Aus Sicht der Wissenschaft aber bleibt er der »Vater des genetischen Codes«, der die Versuche konzipiert und durchgeführt hat.
Ohne jeden Zweifel aber hatten auch die beiden Wissenschaftler, die gemeinsam mit Nirenberg ausgezeichnet wurden, den Nobelpreis verdient. Im Jahr 1970 gelang es dem indisch-amerikanischen Biochemiker Har Gobind Khorana zudem, das erste Gen – ein bakterielles Enzym, das Licht in Energie verwandelt – vollständig künstlich herzustellen. Und mehr noch: Khorana legte die Grundlagen für einen Test, dessen Name früher nur Molekularbiologen geläufig war, den inzwischen jedoch jedes Grundschulkind kennt: die PCR, die Polymerasekettenreaktion (engl. Polymerase Chain Reaction), mit deren Hilfe Erbmoleküle zu großen Mengen vervielfältigt und – wie bei den Corona-Tests – nachgewiesen werden können.
Für unsere Reise in die Welt der RNA aber ist der andere der drei Nobelpreisträger von unerlässlicher Bedeutung: Robert William Holley. Der Chemiker aus dem ländlichen Illinois war wohl tatsächlich der erste Wissenschaftler, der ein Faible für die kleine Schwester der DNA entwickelte. Bereits Mitte der 1950er Jahre – während der Rest der Forscherwelt darum rangelte, den genetischen Code zu entziffern – wandte er sich der RNA zu. Die kleinen Moleküle sind in Zellen nicht zu übersehen. Überall findet man RNA-»Bruchstücke«. Als einer der wenigen jedoch sah Holley in ihnen nicht nur Müll oder recycelbare Einzelteile der mRNA. Er vermutete, es müsse mehr dahinterstecken. Während Matthaei gerade den genetischen Code geknackt hatte, kam Holley mit der nächsten durchschlagenden Erkenntnis: Es gibt ein weiteres RNA-Molekül, das wie ein Abschleppunternehmen die Aminosäuren der Zelle aufnimmt und zu den Ribosomen transportiert – er nannte sie daher t(transfer)-RNA. Der Lieferdienst musste über zwei Andockstellen verfügen: eine für die Aminosäure und eine andere, mit der sie den Code, die richtige Farbzusammensetzung der mRNA in den Ribosomen, erkennt. Nach zwei Jahren Arbeit verstand er das Prinzip: tRNAs bestehen aus einer Kette von 76 RNA-Bausteinen, angeordnet wie ein dreiblättriges Kleeblatt mit Stiel. Am mittleren Kleeblatt liegen drei Basen, die das sogenannte Anticodon, also das Gegenstück zum jeweiligen Codon auf der mRNA, bilden. An ihrem Stiel hängt die dazu passende Aminosäure.
Und noch eine RNA identifizierten Wissenschaftler im Jahr 1962. Sie heißt ribosomale RNA und ist ein Bestandteil der Proteinfabriken. Wobei »Bestandteil« nicht ganz das richtige Wort ist. Denn die Eiweißmanufakturen der Zellen bestehen zu zwei Dritteln aus RNA, nur der Rest sind Proteine, und die dienen als Positionshalter für die verschiedenen RNAs, die in Ribosomen wirken.
Halten wir also fest: Innerhalb von zehn Jahren entdeckte die Wissenschaft die Struktur der DNA, entschlüsselte den genetischen Code und konnte erklären, wie die Information auf dem Erbgut in die Zelle transportiert und umgesetzt wird: Die DNA im Zellkern wird als mRNA abgelesen, die in den Zellen zu den Ribosomen wandert und dort ihrerseits von tRNA abgelesen wird. Die tRNA trägt als Schwänzchen die jeweils passende Aminosäure. Je nach Länge der mRNA werden genauso viele Aminosäuren angehängt und von tRNA miteinander verknüpft, bis das Protein fertiggestellt ist.
Die Natur hat sich mit diesem Prinzip einen nahezu unendlichen Pool an Kombinationsmöglichkeiten geschaffen. Denn die zwanzig natürlichen Aminosäuren des Menschen können beliebig kombiniert werden. Angenommen, ein Protein hätte 150 Aminosäuren, dann trüge mRNA mindestens 450 Basen. Daraus ergeben sich schier unendliche Kombinationsmöglichkeiten von Proteinen. Das Römpp-Lexikon Chemie liefert dafür ein beeindruckendes Rechenbeispiel: Für unser Protein aus 150 Aminosäuren gäbe es danach 20 hoch 150 verschiedene Varianten. Könnte man all diese Proteine herstellen, würde das Eiweißknäuel, das daraus entstünde, unser Universum 10 hoch 90-mal ausfüllen.
Noch viele Jahre nach dieser Entdeckung kannte man nur diese drei Formen der RNA. Die Wissenschaft lernte, dass viele Viren die mRNA auch direkt als Erbmolekül nutzen: so etwa die nunmehr allgegenwärtigen Coronaviren. Sie bestehen lediglich aus der von einer charakteristischen Hülle umgebenen mRNA; und ein Teil dieser viralen mRNA mit der Information für ein Virusprotein steckt nun auch in den neuartigen mRNA-Impfstoffen, mit denen die Welt die Pandemie zu bewältigen versucht.
Wir wissen heute, dass es viele Typen von Ribonukleinsäuren gibt. Sie sind die zentralen Akteure in allen lebenden Zellen. Erste RNA-Moleküle entstanden schon vor mehr als vier Milliarden Jahren, lange bevor sich das erste Leben formte – auf einer Erde, die sehr anders aussah als heute. Ohne diesen erstaunlichen Zusammenschluss aus dem Zucker Ribose, Phosphorsäure und den stickstoffhaltigen Basen könnte es die lebendige Natur nicht geben. Und auch Viren wie Sars-CoV-2 nicht, die als solche eigentlich nicht lebendig sind. Ribonukleinsäuren waren nicht weniger als die ersten Informationsträger, die ersten Enzyme, die ersten Strukturelemente des werdenden Lebens. Sie entwickelten sich in einer Zeit, in der Evolution noch nichts weiter war als die zufällige Kombination neuer chemischer Strukturen. Doch sie wurde zum frühesten Erbmolekül auf dem Planeten.
Erst danach entstand die zweite, etwas veränderte Form einer Nukleinsäure: Desoxyribonukleinsäure oder kurz DNA. Sie unterscheidet sich chemisch nur geringfügig – den Platz der Ribose hat in der DNA die Desoxyribose eingenommen. Das allerdings hatte für das im Entstehen begriffene Leben einen großen Vorteil – DNA ist chemisch viel stabiler. DNA wurde daher vor vier Milliarden Jahren zum Back-up der noch kleinen genetischen Information, zum Speichermedium der ersten lebendigen Existenzformen auf unserem Planeten. Deshalb besteht unser Erbgut auch heute noch aus DNA, der Akteur in unseren Zellen aber ist die RNA.
Die vielen anderen RNA-Typen blieben lange Jahre unerkannt – obwohl sie in den Laboren eine Quelle ständigen Ärgers waren. Trotz größter Sauberkeit im Labor schien der »Schlunz«, der abgebaute RNA-Müll, stets unvermeidbar. Denn der Müll, die kurzen RNAs, waren nicht zwingend von Enzymen angefressene ursprünglich lange mRNA-Moleküle gewesen. Sie gehören, so wie sie sind, in jede unserer Zellen. Bei weitem nicht alle RNA-Moleküle enthalten einen Code für Proteine, die Abfolge ihrer Bausteine kann auch eine Vielzahl von steuernden Funktionen in der Zelle vorgeben. Sie hören auf kryptische Namen wie lncRNA, crc-RNA oder miRNA. Auf ihnen ruht die große Hoffnung, die Aussicht auf die RNA-Revolution. Sie werden uns bislang undenkbare Therapien für die Medizin der Zukunft bescheren.
Als der genetische Code endlich entschlüsselt war, wussten die Wissenschaftler eigentlich genug, um die Anweisungen der Gene zu lesen. Doch bis es wirklich so weit war, hatten sie noch einen langen Weg zu bewältigen. Irgendwann einmal ein ganzes Gen zu entziffern, die Information für ein einziges Eiweiß, das hielten die Pioniere damals für den größten denkbaren Erfolg. Sie bestimmten Base für Base für Base – was langwierig, umständlich und nur mithilfe hochgiftiger Chemikalien zu bewerkstelligen war. Nur um dann innerhalb von mehreren Tagen bis Wochen höchstens ein paar wenige Bausteine zu identifizieren. Später wurden neue Leseverfahren entwickelt, die viel schneller und automatisierbar waren. Die Macht dieser Maschinen erlaubte die Dekodierung der DNA in zuvor unvorstellbarem Tempo.
So gelang, was zunächst nur wenige für möglich gehalten hatten: Am 26. Juni 2000 präsentierten der damalige US-Präsident Bill Clinton und sein zugeschalteter britischer Amtskollege Tony Blair zusammen mit den leitenden Wissenschaftlern bei einer berühmt gewordenen Pressekonferenz im Weißen Haus den Rohtext des Humangenoms mit den Worten: »Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben schuf.« Das war, auch schon aus damaliger Sicht, reine Hybris. In Wahrheit hatte man nur eine gewaltige Datenbank geschaffen, verstanden hingegen hatte die Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt fast gar nichts. Die Sprache des Genoms beherrschen wir bis heute nur unvollständig.
Erst 2003 wurde das Humangenomprojekt für beendet erklärt – pünktlich zum fünfzigsten Jubiläum der Entdeckung der DNA-Doppelhelix. Das dürfte auch der wesentliche Grund für die Abschlussfeier gewesen sein, denn wirklich fertig ist man mit der Entschlüsselung noch immer nicht.
Was die Molekulargenetiker schließlich geliefert hatten, war zunächst sogar eine Enttäuschung. Je länger Bioinformatiker mit ihren Algorithmen den Datenwust durchsuchten, desto mehr verringerte sich die Zahl der Eiweiße kodierenden Gene. Von den 100.000, die man ursprünglich zu finden gedacht hatte, waren schnell nur noch 60.000 übrig, dann 35.000, am Ende blieb eine Ausbeute von 21.000 menschlichen Genen. Diese Zahl ist bis heute nicht abschließend geklärt. Es könnten auch bis zu 25.000 Gene sein – doch es ist nur wenig mehr, als eine kleine Fruchtfliege besitzt. Wie konnte das sein? Wie kann aus der Information so weniger Gene eine Million Proteine entstehen? Die Lösung dieses Rätsels liegt in den fantastischen Fähigkeiten der RNA verborgen.
Einer der Erben von Watson, Crick und Co. ist Ewan Birney, einer der beiden Direktoren des European Bioinformatics Institute im britischen Hinxton. Einige Jahre nach dem Ende des Humangenomprojekts starteten er und 442 Kollegen in aller Welt das nächste gigantische Unternehmen: Encode (Encyclopedia of DNA Elements) sollte die vermeintliche Junk-DNA untersuchen, die Birney lieber als die »dunkle Materie des Genoms« bezeichnet. Inzwischen hatten die Genetiker erkannt, dass die kodierenden Gene allein nicht genügen, um unsere Zellen am Leben zu halten. Sie müssen auch genau gesteuert werden: Welches Gen soll in welcher Zelle abgelesen und in mRNA kopiert werden? Wann und wie häufig? Und woher kommen all die kleinen RNAs, die uns später dann beschäftigen werden, weil sie die große Hoffnung der zukünftigen Medizin sind?
Fünf lange Jahre haben die Wissenschaftler an diesen Fragen gearbeitet, und als die Ergebnisse vorlagen, war von der vermeintlichen Junk-DNA fast nichts mehr übrig. »Welch unerforschter Wildnis wir da begegnet sind!«, sagt Birney. »Das Genom ist ein Dschungel voll seltsamer Kreaturen. Es ist kaum zu fassen, wie dicht das Erbgut mit Information gepackt ist.«
Schließlich hatte Birneys Forscherarmee für 80 Prozent des Genoms eine biologische Funktion gefunden. Ihre Entdeckungen füllten über vierzig Artikel, die sie 2012 auf einen Schlag veröffentlichten. Was sie erkundet hatten, ist der Maschinenraum unseres Erbguts – und das ist offenbar kein ordentlicher Ort. Wer sich im Erbgut zurechtfinden wolle, resümiert Birney, sei in der Situation eines Handwerkers, der in einem alten Haus die Elektrik kontrolliere. »Und er stellt fest: Alle Wände, Decken und Böden sind mit Lichtschaltern gepflastert. Wir müssen herausfinden, wie all diese Schalter mit Licht, Heizung und den Geräten in den Zimmern verbunden sind.«
Diese Aufgabe, muss man einräumen, ist noch lange nicht beendet. Doch in all dem Wust unseres Erbguts haben Wissenschaftler inzwischen auch den Ursprung der kleinen – und so wichtigen – RNAs entdeckt.