Zum Buch
Wie muss eine Patientenverfügung aussehen? Wo liegen die Unterschiede zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe? Und was passiert in den letzten Stunden vor dem Lebensende? Michael de Ridder, Autor des SPIEGEL-Bestsellers Wie wollen wir sterben?, erklärt die wichtigsten Begriffe zum Sterben präzise und gleichsam differenziert. In ethischen, juristischen und pflegerischen Fragen verschafft er Klarheit, bei aller Sachlichkeit zeigt er aber ein hohes Maß an Empathie und Sensibilität gegenüber dem Patienten. Überdies macht er deutlich, wie wichtig es ist, frühzeitig den Dialog mit vertrauensvollen Personen zu suchen. Sein Buch ist ein Leitfaden für die schwierigsten Entscheidungen, ein Ratgeber im besten Sinne, der dem Leser die nötigen Kenntnisse an die Hand gibt, wenn der Abschied vom Leben unabwendbar geworden ist.
Zum Autor
Michael de Ridder ist seit mehr als dreißig Jahren im ärztlichen Beruf tätig, zuletzt als Chefarzt der Rettungsstelle eines Berliner Krankenhauses und als Geschäftsführer des von ihm mitbegründeten Vivantes Hospiz. Als Vorsitzender einer Stiftung für Palliativmedizin befasst er sich seit vielen Jahren kritisch mit dem Fortschritt in der Medizin und Fragen der Gesundheitspolitik und erörtert dies immer wieder in den Medien, unter anderem in DIE ZEIT, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Cicero. Für sein medizinisches Wirken wurde er vielfach ausgezeichnet. Bei Pantheon erschien zuletzt sein Buch Wie wollen wir sterben? (2011).
Michael de Ridder
Abschied vom Leben
Von der Patientenverfügung bis zur Palliativmedizin.
Ein Leitfaden
Pantheon
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Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH.
Erste Auflage
August 2017
Copyright © 2017 by Pantheon Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
ISBN 978-3-641-20989-6
V001
www.pantheon-verlag.de
Inhalt
Einleitung
Selbstbestimmung
Selbstbestimmung – Kern der Menschenwürde
Selbstbestimmung am Lebensende
Selbstbestimmung und ärztliche Fürsorgepflicht
Einschränkungen der Selbstbestimmung
Selbstbestimmung im Spannungsfeld von
vorausverfügtem und »natürlichem« Willen
Selbstbestimmung und ärztliche Indikation
Patientenverfügung
Vom Sinn einer Patientenverfügung
Voraussetzungen für eine verbindliche Patientenverfügung
Patientenverfügung und Organspende: kein Widerspruch!
Weitere Leitsätze zur Patientenverfügung
Bevollmächtigter und Vorsorgevollmacht
Weitere Hinweise zur Vorsorgevollmacht
Betreuer und Betreuungsverfügung
Abschließende Anmerkungen zur Abfassung einer Patientenverfügung
Gesundheitsvorausplanung
Passive und aktive Sterbehilfe
Passive Sterbehilfe
Aktive Sterbehilfe
Palliativmedizin
Heilung ‒ Linderung ‒ Zuwendung
Was ist »Heilung«?
Was ist Palliativmedizin und was leistet sie?
Hoher Versorgungsanspruch
Palliative Sedierung
Stationäres Hospiz und ambulanter Hospizdienst
Suizid und Beihilfe zum Suizid
Sterben wollen – Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen und Suizid
Ärztliche Suizidbeihilfe und Palliativmedizin: kein Widerspruch
Suizid und Suizidbeihilfe – die Verfassung schweigt aus triftigen Gründen
Ärztliche Suizidbeihilfe – Strafrecht und Berufsrecht
im Widerspruch
Der neue § 217 StGB – »Förderung« der Selbsttötung
Gibt es für unheilbar Kranke ein Recht auf den Erwerb tödlicher Medikamente?
Ergänzende Empfehlungen für und Fragen an schwerstkranke Menschen, die erwägen, ihr Lebensende durch einen Suizid selbst herbeizuführen
Sterbefasten
Sterbefasten – ein friedliches Ende
Sterbefasten ‒ Akzeptanz in der Ärzteschaft
Vorgehen und Regeln für eine verantwortliche vorzeitige Herbeiführung des Todes durch Sterbefasten
Sterbefasten – die derzeitige Rechtslage
Wiederbelebung
Wiederbelebung – Erfolg und Misserfolg
Kreislaufstillstand: Voraussetzung einer Wiederbelebung
Ablauf einer Wiederbelebung
Ursachen eines akuten Herz-Kreislauf-Stillstandes (plötzlicher Herztod)
Aussichten nach einer Wiederbelebung
Verzicht auf Wiederbelebung
Wiederbelebung im Alter und bei schwerer chronischer Krankheit
Natürliche und künstliche Ernährung
Die PEG-Sonde – eine folgenreiche medizinische Erfindung
Verhungern und verdursten?
Künstliche Ernährung am Lebensende – was sagt die Wissenschaft?
Koma und »Wachkoma«
Formen des Komas
Vegetativer Status und Wachkoma ‒ Wachheit ohne Bewusstsein
Diagnostik des vegetativen Status
Ursachen des Wachkomas
Abgrenzung des Wachkomas vom Zustand minimalen Bewusstseins und anderen schweren Hirnschäden
Die Bedeutung bildgebender und anderer technischer Verfahren für die Diagnose des Wachkomas
Klinische Erscheinungsformen des Wachkomas
Das Wachkoma im zeitlichen Verlauf
Behandlung, Pflege und Fürsorge im Wachkoma
Fehlerquellen und Irrtümer in der Diagnostik schwerster Hirnschäden
Gewissenhafte Diagnostik
Behandlungsabbruch im Wachkoma – die Rechtslage in Deutschland
Entscheidend ist der erklärte oder mutmaßliche Wille des Patienten
Fortgeschrittene Demenz
Was ist unter Demez zu verstehen?
Demenz – eine Domäne palliativer Medizin und Versorgung
Häufigkeit und Lebenserwartung
Demenz – kein einheitliches Krankheitsbild
Risikofaktoren und Prävention
Behandlung
Formen der Demenz
Charakteristika und Symptome fortschreitender Demenz
Allgemeine chronische und begleitende Erkrankungen
Infektionen
Psychiatrische Symptome und Widerstand gegen Behandlung
Selbstbestimmung und fortgeschrittene Demenz
Die letzten Tage und Stunden
Schwierigkeit einer Definition der Sterbephase
Anzeichen des bevorstehenden Lebensendes
Grundsätze einer guten Versorgung Sterbender
Besondere Probleme und Ereignisse in der Sterbephase
Herztod und Hirntod
Herztod
Hirntod
Notwendigkeit eines einheitlichen medizinischen Todesbegriffs
Ist der Hirntod gleichbedeutend mit dem Tod des Menschen?
Organspende
Niedrige Organspendezahlen in Deutschland
Organspende – Wünschen und Wollen
Organspende ‒ Für und Wider
Organtransplantation ‒ heute ein Standardverfahren zur Rettung von Menschenleben
Gesetzliche Regelungen in Europa und Deutschland
Ablauf einer Organspende
Patientenverfügung und Organspende
Ausblick – Perspektiven auf die Zukunft des Sterbens
Anhang
Dank
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Statistische Angaben
Beratung und Hilfe für Patienten und Angehörige
Mustervorlagen
Register
Einleitung
Dieses Buch ist keines, das sich mit den weitläufigen anthropologischen, philosophischen, religiösen und spirituellen Fragen des Sterbens befasst. Es setzt vielmehr einen Schwerpunkt: Es hat medizinische, pflegerische, ethische und medizinrechtliche Fragen, die sich zum Lebensende eines Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Erkrankung stellen, zum Gegenstand. Es möchte nicht allein Kranken und ihren Angehörigen, sondern auch gesunden Menschen, die das eigene Lebensende und das anderer nicht ignorieren, Orientierung, Rat und Hilfe anbieten – in einer Zeit, in der das Sterben manipulierbar geworden ist und viele Menschen den Möglichkeiten und der Macht der Medizin mit Skepsis oder Misstrauen begegnen.
Dabei ist mir bewusst, dass manche Fragen offenbleiben und manche der auf den kommenden Seiten aufgeworfenen Themen strittig sind und bleiben werden. Insofern ist das vorliegende Buch weit davon entfernt, »Wahrheiten zu verkünden«. Es will indes während langer Jahre auf dem Feld der »Lebensendemedizin« gewonnene medizinische Kenntnis und Erfahrung dem Leser ‒ in komprimierter Form – nahebringen, nach bestem Wissen und Gewissen.
Ein Leitfaden für das Sterben? Kann es für ein Ereignis, das so unvorhersehbar ist und sich so individuell vollzieht wie das Sterben, tatsächlich eine Art Anleitung geben? Und wenn dies so ist, könnte eine solche Anleitung angesichts der Unausweichlichkeit des Sterbens Zuversicht, ja Gelassenheit begünstigen, Angst und Leid des Sterbenden (und seiner Angehörigen) mindern? Mit anderen Worten: Kann ein Mensch lernen, zu sterben? Gibt es gar ein »richtiges«, ein »gutes« Sterben?
Nein ‒ erlernbar ist das Sterben nicht. Immer wieder werden wir von Verlegenheit und Scheu, wenn nicht gar von einem Fluchtreflex erfasst, sobald wir das drohende oder tatsächliche Lebensende eines Menschen erleben; um wie viel mehr erst, wenn wir selbst in aussichtsloser Krankheit das Nahen des Todes spüren: Niedergeschlagenheit, Deprimiertheit, Angst und Verzweiflung bemächtigen sich unserer Seele und Gedanken ‒ was hilft da ein Wissen um das Sterben, dem wir niemals werden entrinnen können?
Und doch – unser Sterben findet nicht in einem Vakuum statt. Nie war das Sterben seiner Natürlichkeit so sehr entkleidet wie heute, da es unter mehr oder weniger organisierten Bedingungen stattfindet, selbst im Hospiz. Nie war es enger umstellt von den Möglichkeiten der Medizin, es zu verhindern oder zu erleichtern; nie war es mehr eingebunden in ethische und rechtliche Rahmenbedingungen.
Und eben diese Gegebenheiten, von denen wir uns kaum mehr werden lossagen können, sind es, die, wenn sie auch schwerlich zu verändern sein mögen, doch einem tauglichen Wissen zugänglich sind. In der für Laien kaum durchschaubaren Welt des Lebensendes kann es Patienten und Angehörigen im Vorfeld des Sterbens wenigstens Orientierung bieten und gewisse Weichenstellungen ermöglichen, dem Willen eines Sterbenden zu entsprechen und endloses Siechtum zu verhindern.
Dieses Wissen in seinen Grundzügen zu vermitteln, präzise und doch differenziert, ist der ebenso klare wie bescheidene Anspruch des vorliegenden Buches. Es wendet sich an alle ‒ zumal an Patienten und den ihnen Nahestehenden ‒, die den Wunsch haben, sich im Labyrinth der Lebensendemedizin zurechtzufinden und in den mit ihr verbundenen medizinischen, ethischen und rechtlichen Fragen und Problemen ein Mindestmaß an Klarheit zu verschaffen. Es versteht sich als ein Begleiter, der dem Leser Kenntnisse an die Hand gibt und ihm helfen will, einen eigenen Weg zu finden, wenn der Abschied vom Leben unabwendbar geworden ist. Die Erläuterung von Begriffen wie »Selbstbestimmung«, »aktive und passive Sterbehilfe«, »Palliativmedizin«, »Koma«, »Wiederbelebung«, »Suizidbeihilfe« und manch anderen, die in diesem Buch thematisiert und erklärt werden, will ihm ein Rüstzeug an die Hand geben, um im Dialog mit sich selbst und anderen unumgängliche Entscheidungen verantwortlich zu treffen.
Nicht allein unter Laien, auch unter Politikern und Juristen, ja selbst unter Ärzten und Pflegekräften als den unmittelbaren Akteuren herrscht in weiten Teilen Unkenntnis über sinnvolles und unangemessenes, über erlaubtes und verbotenes Handeln und Entscheiden am Lebensende. Einem Drittel der deutschen Betreuungsrichter ist der Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nicht bekannt, so eine Umfrage im Jahr 2015. Ein hochrangiger CDU-Politiker wandte sich gegen »jede Form der Sterbehilfe« – also auch gegen die passive und indirekte Sterbehilfe, die selbst der Heilige Stuhl in Rom akzeptiert? 93 Prozent der Bundesbürger glauben irrtümlicherweise, dass Suizidhilfe strafbar sei, auch 73 Prozent der Medizinstudenten sind in diesem Irrtum befangen. Selbst Ärzte werten vielfach das Abschalten der Beatmung gemäß dem Willen des Patienten immer noch als verbotene aktive Sterbehilfe. Ein Neurologe droht einer neunzigjährigen schwerstpflegebedürftigen Patientin mit einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie, wenn sie noch einmal äußern sollte, ihr Sterben durch Fasten beschleunigen zu wollen. Die Liste an Beispielen ließe sich leicht fortführen.
Grundsätzlich ist hervorzuheben, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), angestoßen durch mutige anwaltliche Initiativen, entscheidenden Anteil daran hat, dass sich ein Wandel in der Medizin am Lebensende vollzogen hat. Ohne dessen richtungsweisende Urteile ist die heutige Palliativmedizin und Hospizbewegung nicht denkbar. Nicht die Ärzteschaft hat diesen Paradigmenwechsel initiiert und vollzogen, sondern Richter des BGH waren es, die bestehendes, im Grundgesetz niedergelegtes Recht erkannt und diesem zur Geltung verholfen haben. Dessen Kern ist, dass der Patientenwille oberste Richtschnur allen ärztlichen Handelns und Entscheidens zu sein hat. Wenn es der Wille des Patienten ist, darf der Arzt sein Sterben nicht verhindern.
Mag sich auch das in diesem Buch vermittelte Wissen für manchen Leser als nützlich und hilfreich erweisen: Jenseits allen Wissens um das Lebensende und den Möglichkeiten der Medizin, das Sterben zu erleichtern, jenseits auch des Glaubens vieler Menschen an Aufgehobenheit in einem religiösen Bekenntnis bleiben Einsamkeit und Verlassenheitsgefühl des auf sich selbst zurückgeworfenen Sterbenden. In der Begegnung mit diesem womöglich größten aller Übel im Abschied vom Leben hat ein Leitfaden, der wichtige Ereignisse, Umstände und Konstellationen erläutert, zwar einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert; doch gerade heute, da die Grenzen zwischen sinnvoller Lebensverlängerung und leidvoller Sterbeverzögerung mittels einer technisch und pharmakologisch hochgerüsteten Medizin allzu oft kaum mehr unterscheidbar sind, bleiben allein von Herzen kommende menschliche Zuwendung, Zuspruch, Berührung und Trost von Angehörigen und Behandlern und, nicht zuletzt, professionelle Pflege die tragenden Säulen der Hilfe im Sterben.
Selbstbestimmung
Selbstbestimmung ist ein dem Menschen eigenes unverlierbares Wesensmerkmal, das ausnahmslos jedem Menschen zuerkannt wird. Sie ist zentraler Bestandteil der durch das Grundgesetz geschützten menschlichen Würde und Freiheit und reicht weit in die Medizin hinein. Dies kann im Einzelfall zu Konfliktsituationen führen, weil die ärztliche Verpflichtung zur Patientenfürsorge und zum Lebensschutz einerseits und das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten andererseits miteinander in Widerspruch geraten können. Letztlich aber ist der Lebensschutz – so hoch dieser auch anzusiedeln ist – der Selbstbestimmung des Patienten untergeordnet: Die ärztliche Verpflichtung zum Lebensschutz besteht allein innerhalb der Selbstbestimmung des Patienten. Denn sie umfasst auch das Recht, das eigene Leben zu beschließen und auf sein Ende gestaltend Einfluss zu nehmen: Jeder einwilligungsfähige Mensch darf, unabhängig von Stadium und Schwere seiner Erkrankung, zu jedem Zeitpunkt seines Lebens eine ärztliche Behandlung untersagen, auch eine lebensrettende. Andererseits steht ihm auch das Recht auf eine angemessene palliative Versorgung am Lebensende zu. Richtig verstandene Selbstbestimmung verzichtet nicht auf den Dialog, auf Gespräch und Austausch mit nahestehenden und vertrauten Personen (Angehörigen und Ärzten), bevor der Kranke oder Sterbende eine Entscheidung trifft, die möglicherweise unumkehrbar ist. Ist die Selbstbestimmung einer Person eingeschränkt, haben Nahestehende und Ärzte die Verpflichtung, so zu entscheiden und zu handeln, wie es deren zuvor geäußertem oder mutmaßlichem Willen entspricht.
Selbstbestimmung – Kern der Menschenwürde
Selbstbestimmung – oftmals gleichgesetzt mit Autonomie (griechisch autos = selbst; nomos = Gesetz) – bedeutet Selbstgesetzgebung, auch Selbstherrschaft. Als das zentrale Element menschlicher Würde beinhaltet Selbstbestimmung Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit. Als Charakteristikum des Menschseins wird sie jedem Menschen als ein unverlierbares Merkmal zuerkannt ‒ Philosophen sprechen von der ontologischen Bedeutung menschlicher Selbstbestimmung ‒, gänzlich unabhängig davon, ob der betreffende Mensch auch tatsächlich fähig ist, sich als selbstbestimmte Person zu verwirklichen. »Menschenwürde«, so der Staatsrechtler Friedhelm Hufen, »schützt den Menschen eben auch davor, zum Objekt der Menschenwürdedefinitionen anderer zu werden.«1
Letzteres ist von herausragender Bedeutung deswegen, weil auch Embryonen, Kindern, schwersthirnverletzten, psychiatrisch kranken oder dementen Menschen, die keinen vernünftigen Gebrauch von ihrer Freiheit zur Selbstbestimmung machen können, Autonomie und Würde zuerkannt werden. Dies wiederum bedeutet, dass andere nicht über Unmündige verfügen dürfen, dass jenen vielmehr das Recht zusteht, wie ein selbstbestimmungsfähiges Wesen respektiert und behandelt zu werden. Als Menschen, die eines besonderen Schutzes bedürfen, sind sie darauf angewiesen, dass andere ihre Selbstbestimmung und ihre berechtigten Interessen wahrnehmen und gegebenenfalls durchsetzen.
Im Unterschied dazu sind Menschen, die selbstbestimmt entscheiden und handeln können, verpflichtet, die Selbstbestimmung und Freiheit anderer zu achten, das heißt, in welcher Gemeinschaft auch immer, ihrem Handeln selbstverantwortlich Grenzen zu setzen: Die Selbstbestimmung des Individuums findet ihre Grenze dort, wo sie die Selbstbestimmung anderer Individuen beschneidet.
Schon hier wird deutlich, dass Selbstbestimmung niemals absolut verstanden werden kann und darf. Niemand kann behaupten, dass sie ohne eine soziale Dimension denkbar ist. Selbstbestimmung unterliegt immer auch der Formung durch andere Personen und der Einwirkung einer Fülle gesellschaftlicher und politischer Kräfte.
Selbstbestimmung am Lebensende
In diesen ethischen Rahmen eingebunden ist auch das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, einschließlich des Rechts der Verfügung über das eigene Lebensende. Es gehört zum Kernbereich der durch die ersten beiden Artikel unseres Grundgesetzes garantierten und geschützten Würde jedes einzelnen Menschen. Ihm allein gesteht es die Freiheit zu, »über den eigenen Lebensentwurf und seinen Vollzug« zu bestimmen.2
Hieraus ist zu folgern, dass ausnahmslos jede ärztliche Behandlung der Zustimmung des Patienten bedarf, von Notfällen einmal abgesehen, andernfalls handelte es sich um Körperverletzung. Dabei hat der Arzt die Verpflichtung, dem Patienten Information und Aufklärung anzubieten, die der Patient vernünftigerweise annehmen sollte; er kann und darf sie allerdings auch ausschlagen. Dies gilt auch für unmittelbar lebenserhaltende Behandlungen und Eingriffe. Das Selbstbestimmungsrecht umfasst eben auch das Recht, sich selbst vorbehaltlos aufzugeben, ja sogar sich selbst zu gefährden oder zu schaden, auch wenn dies »unvernünftig« ist oder erscheint und jedem ärztlich sinnvollen Handeln zuwiderläuft.
Eingeschlossen in das Selbstbestimmungsrecht ist auch das Recht, zu Lebzeiten verbindliche Vorausverfügungen darüber zu treffen, welche ärztlichen Behandlungen und Eingriffe im Falle eingetretener Einwilligungsunfähigkeit untersagt oder gewünscht sind (siehe Kapitel Patientenverfügung). Hier gilt ebenso, dass der Patient auch unaufgeklärt oder von falschen Voraussetzungen ausgehend wirksam eine Patientenverfügung abfassen kann.
Der hohe Rang, den das Grundgesetz der Bundesrepublik dem Recht auf Selbstbestimmung einräumt, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass grundsätzlich weder der Suizidversuch noch die Beihilfe zum Suizid strafrechtlich sanktioniert sind. Der Lebensschutz – so hoch auch er anzusiedeln ist – ist dem Selbstbestimmungsrecht prinzipiell untergeordnet! Die ethisch hoch umstrittene Beihilfe zum Suizid (durch Nahestehende und Ärzte) unterliegt in der Bundesrepublik rechtlich bestimmten Voraussetzungen. Sie werden im Kapitel Suizid und Beihilfe zum Suizid erörtert.
Selbstbestimmung und ärztliche Fürsorgepflicht
Ein nicht geringer Teil der Ärzteschaft steht einer die Patientenselbstbestimmung quasi verabsolutierenden Auffassung skeptisch oder gar ablehnend gegenüber mit dem Argument, dass aufgrund des die Ärzte bindenden Fürsorgeprinzips die Abwendung von Schaden absolute Priorität habe und eine asymmetrische Beziehung zwischen Arzt und Patient rechtfertige. Ein Kranker sei, so die Vertreter des ärztlichen »Paternalismus«, qua Krankheit in seiner rationalen Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt und nicht imstande, sich ein tragfähiges Urteil darüber zu bilden, was seiner Gesundheit dient und was nicht. Schließlich sei ja die Wiedergewinnung der Patientenautonomie gerade das Ziel ärztlicher Behandlung: Ärztlicher Paternalismus verstehe sich, in den Worten des amerikanischen Ethikers D. N. Husak, als ein Freiheit und Selbstbestimmung maximierender Paternalismus (»freedom maximising paternalism«).3
In der Tat liegt hier ein verbreitetes Dilemma vor, das in der Wirklichkeit der Behandlung und Versorgung schwerstkranker, jedoch keineswegs mental inkompetenter Patienten nicht zu unterschätzen ist: Das gravierendste Hindernis dafür, dass der Patient seine Selbstbestimmung wahrnimmt, liegt in der Krankheit selbst. Die mit ihr einhergehenden Ängste und Hoffnungen sowie eine Vielzahl von Symptomen, Leidenszuständen und Gebrechen, die der Krankheit innewohnen, erschweren oder verhindern patientenseitig allzu oft authentisches und nachhaltiges Handeln und lassen Behandler und Nahestehende zweifelnd und ratlos zurück. Sie sind dann gehalten, den mutmaßlichen Willen des Kranken zu ermitteln und zur Grundlage seiner Behandlung und Versorgung zu machen (siehe hierzu auch den Abschnitt Selbstbestimmung im Spannungsfeld von vorausverfügtem und »natürlichem« Willen).
Ein gewisser Konsens in der strittigen Frage, ob der Patientenautonomie oder der ärztlichen Fürsorgepflicht Vorrang einzuräumen sei, wurde in der Bundesrepublik – nicht zuletzt auf dem Wege höchstrichterlicher Entscheidungen – dahingehend gefunden, dass der Arzt gegenüber dem Kranken eine Informations- und Aufklärungspflicht bezüglich der Chancen und Risiken jedweder medizinischer Behandlung und Eingriffe hat, dass aber der Wille des Patienten letztendlich ausschlaggebend ist und den Arzt bindet.
Dies beinhaltet auch die moralische Aufforderung an den Patienten ‒ zumal am Lebensende ‒, den Dialog und Austausch mit vertrauten und kompetenten Mitmenschen, mit Angehörigen und anderen Nahestehenden, insbesondere aber mit Ärzten seines Vertrauens aktiv zu suchen, bevor er oder sie dann eine Entscheidung trifft, die möglicherweise unumkehrbar ist. Fazit: Richtig verstandene Selbstbestimmung bleibt ohne Selbstverantwortung ein Fragment.
Einschränkungen der Selbstbestimmung
Autonomie ist ein fragiles menschliches Charakteristikum. Die Illusion, dass Autonomie jemals vollkommen sein könnte, wurde bereits angedeutet. Diesseits dessen aber kann die Autonomie des Individuums durch mehrere sehr konkrete »Mängel« untergraben oder eingeschränkt werden.
Wie eingangs schon angedeutet, erfährt die Selbstbestimmung eines Menschen eine wesentliche Einschränkung durch den Verlust oder die Minderung der Fähigkeit, ihre Wünsche und/oder Handlungen unter Kontrolle zu haben. Zwar ist eine Person oftmals in der Lage, Wünsche zu äußern und selbstständig zu handeln, aber ob diese Wünsche und Handlungen als ihre authentischen Präferenzen zu betrachten sind, ist zumindest fraglich. Dies trifft ganz offensichtlich auf viele psychiatrische Patienten sowie Suchtkranke zu.
Eine weitere Einschränkung der Selbstbestimmung betrifft den Prozess menschlicher Urteilsbildung. Sie kann untergraben sein, wenn beispielsweise jemand glaubt, er könne alkoholisiert ein Fahrzeug sicher führen, oder die Auffassung vertritt, dass Rauchen nicht wirklich schaden kann. Lassen Menschen es also zu, dass ihre gefühlsmäßigen Reaktionen oder offensichtlich unglaubwürdige Tatsachen zur Basis ihres Handelns werden, so ist ihre Entscheidungsfähigkeit und Autonomie zumindest zweifelhaft.
Fußen Meinungen und Entscheidungen auf falschen oder unvollständigen Informationen, verharrt jemand in Halbwahrheiten oder gar in völliger Unwissenheit, so untergräbt das seine Autonomie, denn gute und angemessene Entscheidungen zu treffen ist ihm dann verwehrt. Deswegen ist das Angebot umfassender Information und Aufklärung vor jeder Behandlung durch einen Arzt unerlässlich.
Es ist natürlich und nur allzu verständlich, dass Wünsche und Präferenzen von Menschen sich aufgrund von Erfahrung und Lernen im Lauf ihres Lebens ändern. Diese mangelnde Wunschstabilität wird von manchen Ärzten als Argument zur Rechtfertigung des ärztlichen Paternalismus und gegen die Selbstbestimmung des Patienten ins Feld geführt: »Ich tue es nur zu Ihrem Besten und eines Tages werden Sie mir dafür dankbar sein«, ist ein Statement manchen Arztes im Gespräch vor einer Behandlung seines Patienten, eine Aussage, die jedoch eher einer Überredung des Kranken als seiner Überzeugung gleichkommt. Ein solches Argument beruht auf einem Fehlschluss: Selbstbestimmung verwirklicht sich darin, das eigene Leben so zu führen und zu gestalten, wie es den eigenen Einsichten entspricht. Dass sich die Art, Ausgestaltung und Intensität dieser Einsichten im Lauf der Zeit verändern, ist aber mitnichten ein Beweis dafür, dass später geänderte Einsichten besser, schlechter oder authentischer wären als die früheren; vielmehr sind sie schlicht anders, was der betreffende Mensch in der Regel auch erklären und begründen kann.
Selbstbestimmung im Spannungsfeld von
vorausverfügtem und »natürlichem« Willen
Zahlreiche Patienten, insbesondere solche mit fortgeschrittenen neurologischen, das Gehirn miteinbeziehenden Erkrankungen wie beispielsweise Demenz, Hirntumore, Multiple Sklerose, Schlaganfall und Parkinson’sche Erkrankung leiden regelhaft an mehr oder weniger schweren kognitiven, sprachlichen und neuropsychologischen Einschränkungen, die Kommunikation erschweren, oftmals gar unmöglich machen. In solchen Fällen kann ‒ wenn kein verbindlich erklärter mündlicher Wille oder eine Patientenverfügung vorliegen ‒ die Pflicht von Angehörigen und Behandlern, dem (mutmaßlichen) Willen des Kranken gerecht zu werden, seine Leidenssituation zu erfassen und seine Symptome richtig zu deuten, zu einer vielschichtigen Herausforderung werden. Ihr zu genügen bedarf es einfühlsamer Beobachtung und einer anhaltend achtsamen und suchenden Haltung derjenigen, die sich in der Verantwortung für den Patienten sehen, um letztlich seinem Willen und Wohlergehen weitestgehend nachzukommen.
Die Vorgabe, dem Patientenwillen zu entsprechen, verschärft sich noch einmal, wenn ein zwar gültiger vorausverfügter Wille (Patientenverfügung) vorliegt, dieser aber in Widerspruch zum aktuellen »natürlichen« Willen des Patienten gerät. Etwa dann, wenn ein Demenzpatient Lebensfreude zeigt, sich aber an die in seiner Patientenverfügung niedergelegte Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen nicht mehr erinnern kann; oder, umgekehrt, er zwar früher in bestimmte medizinische Behandlungen eingewilligt hat, sie aber später in einwilligungsunfähigem Zustand abzulehnen scheint, indem er körperlichen Widerstand gegen sie leistet. Welcher Wille soll dann Gültigkeit haben?
ist aus Sicht des Autors ethisch fragwürdig und rechtlich kaum haltbar. Zwar ist der vorausverfügte Wille Ausdruck des Lebensentwurfs und der Werthaltungen des Verfügenden, doch auch erlebnisbezogene oder situative Willensäußerungen können letztendlich gültige Willensäußerungen des Patienten sein. Sie sind im Zweifelsfall durch ein psychiatrisches Gutachten als solche zu qualifizieren oder eben nicht: Wird der »natürliche Wille« als gültige Willensäußerung auf diesem Weg festgestellt, muss er ‒ gegebenenfalls als Widerruf einer anderslautenden vorausschauenden Regelung (Patientenverfügung) ‒ akzeptiert und vom Bevollmächtigten oder gesetzlichen Betreuer umgesetzt werden. Entscheidend ist: Es gibt rechtlich gesehen keine Selbstbindung des Patienten an frühere Festlegungen!(Anhang).
Selbstbestimmung und ärztliche Indikation
Wenig bekannt ist, dass ärztliche Indikation und Patientenwille vor jeder Behandlung gleichsinnig zusammentreffen müssen, damit sie überhaupt stattfinden darf. Das bedeutet: Erst dann, wenn der Arzt eine Indikation für eine bestimmte Behandlung gestellt hat und der Patient in einem zweiten Schritt ihr zugestimmt hat, ist eine Behandlung rechtlich zugelassen.
Unerheblich also ist der Wille des Patienten grundsätzlich dann ‒ und dies wird allzu oft übersehen ‒, wenn er eine Behandlung wünscht oder fordert, die nach ärztlichem Urteil nicht angezeigt (indiziert) ist. Jeder Arzt ist dem Patientenwohl verpflichtet; er muss den Nutzen einer jeden Behandlung, auch einer lebensrettenden, gegen ihren möglichen Schaden abwägen. Obwohl es eine objektive medizinische Indikation nicht gibt, stellte der Bundesgerichtshof schon 2003 fest, dass die »medizinische Indikation als das fachliche Urteil über den Wert oder Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall« zu verstehen ist. Mit dieser Ausrichtung auf den einzelnen Patienten und seine Erkrankung wird der Inhalt des ärztlichen Behandlungsauftrags begrenzt. In diesem Sinne darf ein einwilligungsfähiger Patient zwar ausnahmslos jede Behandlung zurückweisen, aber nicht jede denkbare Behandlung fordern. Konkret heißt dies, dass der Arzt der Forderung eines Patienten nach einer indizierten Behandlung folgen muss; seiner Forderung nach einer nicht indizierten (etwa noch experimentellen) Behandlung) folgen darf; einer kontraindizierten Behandlung hingegen nicht folgen darf.
Der Wert oder Unwert einer bestimmten medizinischen Behandlung oder Vorgehensweise ergibt sich demnach nicht allein aus den objektiven Befunden des Patienten, die ihrerseits bestimmten Behandlungsleitlinien zu folgen haben; vielmehr muss eine gute Indikationsstellung die spezifische Situation des Kranken miteinbeziehen, etwa die Zumutbarkeit einer Behandlung im hohen Alter oder bei gleichzeitig bestehenden Begleiterkrankungen. Insbesondere umfasst sie die psychische und soziale Situation des Patienten, seine Lebens- und Leidensgeschichte sowie seine Vorstellungen von der Zukunft. Dies erfordert eine erfahrene und empathische Arztpersönlichkeit, die bereit ist, zuzuhören, das Für und Wider einer Behandlung abzuwägen und dies dem Kranken auf angemessene Weise mitzuteilen und zu erläutern.