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Titelseite

 

Für Primo Gallanosa – du bist mein Licht

 

LAS VEGAS, NEVADA

REPUBLIK AMERIKA

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EINWOHNER: 7 427 431

JUNE

4. JANUAR
19:32 UHR OZEANISCHE STANDARDZEIT
FÜNFUNDDREISSIG TAGE NACH METIAS’ TOD

Neben mir schreckt Day aus dem Schlaf hoch. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn und seine Wangen sind tränenüberströmt. Er atmet schwer.

Ich beuge mich über ihn und streiche eine feuchte Haarsträhne aus seinem Gesicht. Der Streifschuss an meiner Schulter ist inzwischen verkrustet, doch als ich mich bewege, fängt die Wunde wieder an zu pochen.

Day setzt sich auf, wischt sich erschöpft über die Augen und sieht sich in unserem schwankenden Eisenbahnwaggon um, als suche er etwas. Sein Blick bleibt an einem Stapel Holzkisten in einer der dunklen Ecken hängen und wandert dann weiter zu dem Sackleinen auf dem Boden und dem Beutel zwischen uns, in dem wir Wasser und Lebensmittel aufbewahren. Es dauert eine geschlagene Minute, bis er seine Orientierung wiedergefunden hat, bis er sich daran erinnert, dass wir als blinde Passagiere in einem Zug nach Vegas unterwegs sind. Nach ein paar Sekunden entspannt er sich und lässt sich gegen die Wand sinken.

Ich streichele sanft seine Hand. »Alles in Ordnung?« Diese Frage scheine ich in letzter Zeit andauernd zu stellen.

Day zuckt mit den Schultern. »Ja«, murmelt er. »Albtraum.«

Neun Tage sind vergangen, seit wir aus der Batalla-Zentrale geflohen sind und Los Angeles verlassen haben. Seitdem hat Day jedes Mal Albträume, wenn er nur die Augen schließt. Als wir uns kurz nach unserer Flucht für ein paar Stunden in einem alten Eisenbahndepot ausgeruht haben, ist Day schreiend aus dem Schlaf hochgefahren. Wir hatten Glück, dass ihn keine Soldaten oder Straßenpolizisten gehört haben. Danach habe ich mir angewöhnt, ihm übers Haar zu streichen, kurz nachdem er eingeschlafen ist, und seine Wangen, seine Stirn und seine Augenlider zu küssen. Trotzdem wacht er jedes Mal keuchend und tränenüberströmt auf und sein Blick huscht hektisch umher, auf der Suche nach allem, was er verloren hat. Aber wenigstens ist er dabei leise.

Manchmal, wenn Day so still ist, frage ich mich, wie es wohl um seine seelische Gesundheit steht. Der Gedanke macht mir Angst. Ich darf ihn nicht verlieren. Ich versuche mir einzureden, dass das rein praktische Gründe hat: Auf sich allein gestellt hätte keiner von uns im Moment eine große Überlebenschance und unsere Fähigkeiten ergänzen sich perfekt. Außerdem … habe ich sonst niemanden mehr, den ich beschützen könnte. Ich habe selbst eine Menge Tränen vergossen, auch wenn ich damit immer warte, bis Day eingeschlafen ist. Letzte Nacht habe ich um Ollie geweint. Ich komme mir ein bisschen albern vor, um meinen Hund zu trauern, nachdem die Republik unsere Familien getötet hat, aber ich kann einfach nicht anders. Schließlich war es Metias, der ihn damals mit nach Hause gebracht hat, ein weißes Knäuel mit riesigen Pfoten und Hängeohren und treuen braunen Augen, das gutmütigste, tollpatschigste Geschöpf, das ich jemals gesehen hatte. Ollie war mein Freund und ich habe ihn zurückgelassen.

»Was hast du geträumt?«, flüstere ich Day zu.

»Nichts Besonderes.« Day bewegt sich und zuckt zusammen, als er aus Versehen mit seinem verwundeten Bein den Boden streift. Sein Körper versteift sich vor Schmerz und ich kann sehen, wie angespannt seine Arme unter dem Hemd sind, die drahtigen Muskeln, die ihm das Leben auf der Straße beschert hat. Ein winziges Keuchen schlüpft ihm über die Lippen. Ich muss daran denken, wie er mich in der Gasse gegen die Wand gedrückt hat, an das Verlangen, mit dem er mich das erste Mal küsste. Verlegen wende ich den Blick von seinem Mund und schüttele die Erinnerung ab.

Er nickt in Richtung der Waggontür. »Wo sind wir jetzt? Wir müssten doch bald da sein, oder?«

Ich stehe auf, dankbar für die Ablenkung, und stütze mich an der schwankenden Wand ab, als ich aus dem winzigen Fenster luge. Die Landschaft hat sich kaum verändert – endlose Reihen von Hochhäusern und Fabriken, Schornsteine und alte Highway-Brücken, alles vom Nachmittagsregen zu bläulich fahlen Violetttönen verwaschen. Wir fahren noch immer durch Armensektoren. Sie unterscheiden sich kaum von denen in Los Angeles. In der Ferne erhebt sich ein gewaltiger Staudamm, der sich beinahe über die Hälfte meines Blickfelds erstreckt. Ich warte, bis ein JumboTron vorüberflitzt, und kneife die Augen zusammen, um die kleinen Buchstaben in der unteren Ecke des Bildschirms zu entziffern. »Boulder City, Nevada«, lese ich vor. »Es ist wirklich nicht mehr weit. Der Zug wird hier wahrscheinlich eine Weile haltmachen, aber danach sollten es nicht viel mehr als fünfunddreißig Minuten bis nach Vegas sein.«

Day nickt. Er beugt sich vor und knotet unseren Vorratsbeutel auf, um darin nach etwas zu essen zu suchen. »Gut. Je früher wir ankommen, desto eher können wir uns auf die Suche nach den Patrioten machen.«

Er wirkt abwesend. Hin und wieder erzählt Day mir, wovon seine Albträume handeln – davon, dass er den Großen Test nicht besteht oder irgendwo auf der Straße Tess verliert oder vor der Seuchenpolizei fliehen muss. Davon, der meistgesuchte Verbrecher der Republik zu sein. Manchmal aber, wenn er so ist wie jetzt und seine Träume für sich behält, weiß ich, dass sie von seiner Familie handeln – vom Tod seiner Mutter oder dem Johns. Vielleicht ist es besser, dass er mir nicht von ihnen erzählt. Ich habe selbst genug, was mich bis in meine Träume verfolgt, und ich bin nicht sicher, ob ich den Mut habe, mich auch noch seinen zu stellen.

»Du hast dir also wirklich in den Kopf gesetzt, die Patrioten zu finden?«, frage ich, während Day ein trockenes Stück Schmalzgebäck aus dem Vorratssack zieht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Zweifel an seinem Plan äußere, nach Vegas zu fahren, darum gehe ich äußerst behutsam dabei vor. Das Letzte, was ich will, ist, dass Day denkt, Tess wäre mir egal oder ich hätte Angst, mit der gefürchteten Rebellengruppe in Kontakt zu treten. »Ich meine, Tess ist immerhin freiwillig mit ihnen gegangen. Bringen wir sie nicht in Gefahr, wenn wir versuchen, sie zurückzuholen?«

Day antwortet nicht gleich. Er reißt das Gebäck in zwei Hälften und reicht mir eine davon. »Nimm auch was, ja? Du hast schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen.«

Ich hebe höflich die Hand. »Nein danke«, erwidere ich. »Ich mag kein Schmalzgebäck.«

Im nächsten Moment wünschte ich, ich könnte die Worte zurück in meinen Mund stopfen. Day senkt den Blick und steckt die zweite Hälfte wieder in den Beutel, bevor er schweigend zu essen beginnt. Wie konnte ich bloß so was abgrundtief Dummes sagen? Ich mag kein Schmalzgebäck. Ich kann praktisch hören, was ihm jetzt durch den Kopf geht: Armes kleines reiches Mädchen mit seinem ach so verwöhnten Gaumen. Muss ja toll sein, wenn man es sich leisten kann, Essen nicht zu mögen. Im Stillen herrsche ich mich an, das nächste Mal gefälligst besser nachzudenken, bevor ich den Mund aufmache.

Nach ein paar Bissen antwortet Day schließlich: »Ich kann Tess nicht einfach im Stich lassen, ohne zu wissen, dass es ihr gut geht.«

Natürlich kann er das nicht. Day würde nie jemanden im Stich lassen, der ihm etwas bedeutet, und schon gar nicht das Waisenmädchen, mit dem er auf der Straße aufgewachsen ist. Ich sehe ja ein, dass ein Treffen mit den Patrioten uns ein gutes Stück weiterbringen könnte – schließlich haben diese Rebellen Day und auch mir dabei geholfen, aus Los Angeles zu fliehen. Sie sind eine große, gut organisierte Gruppe. Vielleicht haben sie Informationen darüber, was die Republik mit Eden, Days kleinem Bruder, vorhat. Vielleicht können sie sogar irgendetwas tun, um Days schwärende Beinwunde zu heilen – seit jenem schicksalhaften Morgen, als Commander Jameson ihm eine Kugel ins Bein geschossen und ihn verhaften lassen hat, geht es mit der Wunde ständig auf und ab. Mittlerweile ist sein linkes Bein nur noch eine Masse aus offenem, blutendem Fleisch. Er bräuchte dringend medizinische Versorgung.

Doch die Sache hat einen Haken.

»Die Patrioten werden uns nicht helfen, wenn wir sie dafür nicht irgendwie bezahlen. Und was können wir denen schon geben?« Um meine Worte zu unterstreichen, greife ich in meine Hosentaschen und ziehe unsere jämmerlichen Ersparnisse hervor. Viertausend Noten. Alles, was ich bei mir hatte, als wir geflüchtet sind. Ich kann nicht glauben, wie sehr mir der Luxus meines alten Lebens fehlt. Auf meinen Familiennamen laufen Konten mit Millionen von Noten, Geld, auf das ich nie wieder Zugriff haben werde.

Day verspeist den Rest seines Gebäcks und denkt mit zusammengepressten Lippen über meine Worte nach. »Ja, ich weiß«, erwidert er schließlich und fährt sich mit der Hand durch seine verknoteten blonden Haare. »Aber hast du einen besseren Vorschlag? Wen sollten wir denn sonst fragen?«

Hilflos schüttele ich den Kopf. Day hat recht – so wenig verlockend mir die Vorstellung, wieder mit den Patrioten aufeinanderzutreffen, auch erscheint, unsere Möglichkeiten sind ziemlich begrenzt. Nach unserer Flucht aus der Batalla-Zentrale, als Day bewusstlos und ich an der Schulter verletzt war, hatte ich die Patrioten gebeten, uns mit nach Vegas zu nehmen, in der Hoffnung, dass sie uns auch weiterhin helfen würden.

Sie weigerten sich.

»Du hast uns dafür bezahlt, dass wir Day vor seiner Hinrichtung retten. Nicht dafür, dass wir euch anschließend nach Vegas kutschieren und auf eure Wehwehchen pusten«, hat Kaede zu mir gesagt. »Das gesamte Militär der Republik ist hinter euch her, verdammt noch mal. Wir sind schließlich kein Wohlfahrtsverein. Wenn ich noch mal meinen Hals für euch riskieren soll, dann nur, wenn auch was dabei rausspringt.«

Bis zu diesem Punkt hatte ich allen Ernstes geglaubt, dass den Patrioten etwas an uns läge. Aber Kaedes Worte holten mich gnadenlos auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie haben uns nur geholfen, weil ich Kaede 200 000 Republiknoten dafür bezahlt habe, das Geld, das ich mir mit Days Gefangennahme verdient hatte. Und trotzdem hatte ich all meine Überredungskünste aufbieten müssen, bevor Kaede ihre Patriotenkameraden losgeschickt hatte, um uns zu helfen.

Die Erlaubnis, Tess sehen zu dürfen. Ein Arzt für Days verletztes Bein. Informationen über Days Bruder. Das alles wird uns eine Menge Schmiergeld kosten. Wenn ich doch nur die Gelegenheit gehabt hätte, ein paar Noten mehr einzupacken, bevor wir Los Angeles verlassen mussten.

»Vegas ist so ziemlich das gefährlichste Pflaster, auf das wir uns jetzt wagen können«, sage ich zu Day und streiche mir vorsichtig über die heilende Schulterwunde. »Und es kann sein, dass die Patrioten uns noch nicht mal zuhören. Ich will nur, dass wir uns das alles auch gut überlegen.«

»June, ich weiß, du bist es nicht gewohnt, die Patrioten als Verbündete zu betrachten«, erwidert Day. »Dir ist von Anfang an beigebracht worden, sie zu hassen. Aber sie sind nun mal potenzielle Verbündete. Ihnen traue ich eher als der Republik. Du nicht auch?«

Ich weiß nicht, ob er mich mit seinen Worten verletzen will. Auf jeden Fall hat Day nicht verstanden, was ich meinte: dass die Patrioten uns wahrscheinlich nicht helfen werden und wir dann in einer Militärstadt festsitzen. Day glaubt, dass ich zögere, weil ich den Patrioten nicht traue. Dass ich tief in meinem Inneren noch immer June Iparis bin, das gefeierte Wunderkind der Republik … dass ich der Regierung dieses Landes noch immer treu ergeben bin. Und, stimmt das denn? Ich bin jetzt eine Verbrecherin und werde niemals in mein altes, bequemes Leben zurückkehren können. Der Gedanke hinterlässt ein unangenehm hohles Gefühl in meinem Bauch, so als bedauerte ich es, nicht mehr der Liebling der Republik zu sein. Und vielleicht ist das sogar die Wahrheit.

Wenn ich nicht mehr der Liebling der Republik bin, wer bin ich dann?

»Okay. Wir versuchen, die Patrioten zu finden«, willige ich schließlich ein. Es ist offensichtlich, dass ich ihn nicht dazu werde bewegen können, nach einem anderen Weg zu suchen.

Day nickt. »Danke«, flüstert er. Auf seinem schönen Gesicht zeigt sich der Anflug eines Lächelns, dessen Wärme eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübt, doch er macht keine Anstalten, mich zu umarmen. Er greift nicht nach meiner Hand. Er rückt nicht näher an mich heran, bis unsere Schultern sich berühren, streicht mir nicht übers Haar, flüstert mir keine beruhigenden Worte ins Ohr oder lehnt seinen Kopf an meinen. Mir war gar nicht bewusst, wie wichtig diese kleinen Gesten für mich geworden sind. Aus irgendeinem Grund habe ich in diesem Moment das Gefühl, dass wir uns fern sind.

Vielleicht ging es in seinem Albtraum ja um mich.

Es passiert, kurz nachdem wir die Hauptstraße von Las Vegas erreicht haben. Eine Bekanntmachung.

Wenn es in ganz Vegas einen Ort gibt, an dem wir uns nicht blicken lassen sollten, dann ist es dieser. JumboTrons (sechs Stück an jedem Häuserblock) säumen die Hauptstraße zu beiden Seiten und senden einen endlosen Fluss von Nachrichten. Grelle Suchscheinwerfer tasten ununterbrochen über die Mauern. Die Gebäude hier müssen doppelt so hoch sein wie die in Los Angeles. Das Stadtbild wird von riesigen Wolkenkratzern und gigantischen pyramidenförmigen Landungsdocks dominiert (acht Stück mit quadratischen Grundflächen und schrägen Seitenwänden in der Form gleichseitiger Dreiecke), auf deren Spitzen helle Lichter strahlen. Die Wüstenluft stinkt nach Abgasen und ist quälend trocken; hier gibt es keine Hurrikans, die das Land mit Wassermassen tränken, keine Meeresküste, keine Seen. Truppen marschieren die Straßen auf und ab (in für Vegas typischen quadratischen Formationen), die Soldaten tragen schwarze Uniformen mit marineblauen Ärmelstreifen, die ein Zeichen dafür sind, dass sie entweder gerade an die Front geschickt werden oder von dort zurückkommen. Ein Stück weiter, jenseits der von Hochhäusern eingefassten Hauptstraße, rollen auf einem weitläufigen Flugfeld Reihen von Kampfjets in Position. Über unseren Köpfen gleiten Luftschiffe dahin.

Das hier ist eine Militärstadt, eine von Soldaten beherrschte Welt.

Die Sonne ist gerade untergegangen, als Day und ich das Stadtzentrum erreichen und uns auf den Weg zum anderen Ende der Hauptstraße machen. Day stützt sich schwer auf meine Schulter, während wir versuchen, uns unauffällig unters Volk zu mischen, sein Atem geht flach und sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Ich helfe ihm, so gut ich kann, ohne dabei zu viel Aufmerksamkeit zu erregen, doch sein Gewicht lässt mich unkontrolliert torkeln, so als hätte ich zu viel getrunken.

»Na, wie machen wir zwei uns?«, murmelt Day mir ins Ohr, seine Lippen heiß an meiner Haut. Ich bin mir nicht sicher, ob es der Schmerz ist, der ihm die Sinne vernebelt, oder mein Aufzug, aber ich kann nicht sagen, dass mich seine unverfrorenen Flirtversuche stören. Nach all der Anspannung während unserer Zugfahrt sind sie eine willkommene Abwechslung.

Day achtet darauf, den Kopf gesenkt zu halten, die Augen unter seinen langen Wimpern verborgen, und die Blicke der Soldaten zu meiden, die geschäftig die Bürgersteige entlangeilen. Er wirkt, als fühlte er sich unwohl in seiner Armeejacke und der dazugehörigen Hose. Sein hellblondes Haar ist unter eine schwarze Soldatenkappe gestopft, die auch einen Großteil seines Gesichts verdeckt.

»Ganz okay«, antworte ich. »Denk dran, du bist betrunken. Und fröhlich. Und außerdem total hin und weg von deiner Begleitung, also versuch, ein bisschen mehr zu lächeln.«

Day zaubert ein breites künstliches Lächeln auf sein Gesicht. So charmant wie immer. »Ach, komm schon, Süße. Ich würde sagen, ich schlage mich ganz gut. Immerhin habe ich das hübscheste Mädchen der ganzen Straße im Arm – wie sollte ich denn da nicht hin und weg sein? Sehe ich etwa nicht so aus? Warte – besser so?« Er klimpert übertrieben mit den Wimpern.

Es sieht so albern aus, dass ich einfach lachen muss. Ein Passant wirft mir einen Blick zu. »Schon viel besser.« Ich erschaudere, als Day sein Gesicht an meine Halsbeuge schmiegt. Spiel deine Rolle. Konzentrier dich. Die goldenen Kettchen um meine Taille und Fußknöchel klimpern beim Gehen. »Wie geht’s deinem Bein?«

Day löst sich ein Stückchen von mir. »Ganz gut, bevor du es erwähnt hast«, flüstert er und zuckt zusammen, als er über einen Riss im Gehweg stolpert. Ich umfasse ihn fester. »Bis zur nächsten Verschnaufpause halte ich durch.«

»Denk dran, zwei Finger an der Augenbraue heißen Stopp, wenn du willst.«

»Jaja. Wenn’s Probleme gibt, mache ich mich bemerkbar.«

Zwei Soldaten drängeln sich an uns vorbei. Sie haben ihre eigenen Begleiterinnen im Arm, zwei grinsende Mädchen mit glitzerndem Lidschatten und eleganten aufgemalten Gesichtstätowierungen, die Körper in knappe Tänzerinnenkostüme mit roten Kunstfedern gehüllt. Einer der Soldaten sieht mich an, er lacht und seine glasigen Augen weiten sich.

»Aus welchem Club bist du denn, meine Hübsche?«, lallt er. »An dein Gesicht erinnere ich mich gar nicht.« Seine Hand nähert sich meiner entblößten Taille, gierig nach nackter Haut. Doch bevor er mich berühren kann, schießt Days Arm vor und schubst den Soldaten grob zur Seite.

»Fass sie nicht an.« Day grinst und zwinkert dem Soldaten zu. Er bemüht sich, unbekümmert zu wirken, doch die Warnung in seinem Blick lässt den anderen Mann zurückweichen. Er stiert uns noch einmal an, dann murmelt er etwas vor sich hin und torkelt mit seinen Freunden davon.

Ich versuche, das Kichern der beiden Mädchen zu imitieren, und werfe mein Haar zurück. »Nächstes Mal spiel einfach mit«, zische ich Day ins Ohr, während ich ihm einen Kuss auf die Wange gebe, als wäre er der beste Kunde, den ich je hatte. »Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können, ist eine Prügelei.«

»Was denn? Ich habe doch gar nichts gemacht.« Day zuckt bloß mit den Schultern und setzt seinen qualvollen Weg fort. »Außerdem wäre das ja wohl eine ziemlich erbärmliche Prügelei geworden. Der konnte ja kaum noch stehen.«

Ich schüttele den Kopf und beschließe, ihn nicht auf die Ironie hinzuweisen.

Eine weitere Gruppe betrunkener Soldaten stolpert lärmend an uns vorbei. (Sieben Kadetten, zwei Lieutenants, alle tragen goldene Armbinden mit Dakota-Abzeichen, was bedeutet, dass sie erst vor Kurzem aus dem Norden angekommen sind und ihre Binden noch nicht gegen die ihres neuen Bataillons eingetauscht haben.) Sie haben die Arme um ihre Begleiterinnen aus dem Bellagio-Club geschlungen – paradiesvogelbunt zurechtgemachte Mädchen mit scharlachroten Seidenbändern um den Hals und einem tätowierten B auf dem Arm. Wahrscheinlich sind die Soldaten in den Barracken direkt über dem Club untergebracht.

Ich überprüfe noch einmal mein eigenes Kostüm. Gestohlen aus der Garderobe des Sun Palace. Oberflächlich betrachtet sehe ich aus wie jedes andere Eskortmädchen. Goldene Ketten mit vielen kleinen Anhängern um Taille und Fußknöchel. In mein (dank Sprühfarbe) dunkelrotes Haar sind Federn und Goldbänder eingeflochten. Meine Augen sind dick mit schimmerndem Lidschatten umrahmt und ein verwegenes Phönixtattoo ziert meinen Wangenknochen und das Augenlid. Mein rotes Seidenkostüm lässt Arme und Taille frei und meine Stiefel sind mit dunklen Bändern geschnürt.

Doch in einem Detail unterscheidet sich mein Kostüm von denen der anderen Mädchen.

Es ist eine Kette mit dreizehn kleinen, funkelnden Spiegeln. Sie ist teilweise unter den anderen Ketten versteckt, die meinen Fußknöchel umschlingen, und aus der Ferne könnte man sie für ein ganz gewöhnliches Schmuckstück halten. Vollkommen unauffällig. Doch hin und wieder, wenn das Licht der Straßenlampen sie erfasst, verwandelt sie sich in eine Reihe strahlender Sterne. Dreizehn, die inoffizielle Zahl der Patrioten. Dies ist unser Signal für sie. Ich bin mir sicher, dass sie die Hauptstraße von Vegas ununterbrochen beobachten, darum werden ihnen zumindest die blitzenden Lichter an mir auffallen. Und wenn es so weit ist, werden sie uns ziemlich bald auch als das Pärchen wiedererkennen, dem sie in Los Angeles zur Flucht verholfen haben.

Die JumboTrons am Straßenrand geben ein kurzes Rauschen von sich. Jeden Moment müsste das Nationalgelöbnis beginnen. Anders als in Los Angeles spielen sie das Nationalgelöbnis in Vegas fünf Mal am Tag – alle JumboTrons unterbrechen ihre Werbespots oder Nachrichten oder was auch immer sie gerade zeigen und ersetzen sie durch riesige Bilder unseres Elektors, bevor kurz darauf über das Lautsprechersystem der Stadt die folgenden Zeilen ertönen: Ich gelobe meine Treue zur Flagge der großen Republik von Amerika, zu unserem ehrwürdigen Elektor, unserem ruhmreichen Vaterland, dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Kolonien und meinen Glauben an einen baldigen Sieg!

Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich dieses Gelöbnis jeden Morgen und Nachmittag mit derselben Begeisterung wie alle anderen mitgesprochen, fest entschlossen, die Kolonien im Osten daran zu hindern, unsere kostbare Westküste zu erobern. Das war, bevor ich wusste, welche Rolle die Republik beim Tod meiner Familie gespielt hat. Ich bin nicht sicher, was ich heute will. Den Sieg der Kolonien?

Auf den JumboTrons startet eine Nachrichtensendung. Ein Wochenrückblick. Day und ich lesen die Schlagzeilen, die über die Bildschirme zucken:

 

TRIUMPHALER SIEG IN SCHLACHT UM AMARILLO: REPUBLIK NIMMT MEILENWEISE KOLONIENGEBIET IN OST-TEXAS EIN

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FLUT-ENTWARNUNG FÜR SACRAMENTO, KALIFORNIEN

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STÄRKUNG DER TRUPPENMORAL: ELEKTOR BESUCHT NÖRDLICHE FRONT

Die meisten davon sind eher uninteressant, nur die üblichen Front-Nachrichten, Wetterberichte, Gesetzesänderungen und Quarantäneinformationen für Vegas.

Plötzlich tippt Day mir auf die Schulter und deutet auf einen der Bildschirme.

 

LOS ANGELES: QUARANTÄNE AUF SEKTOREN EMERALD UND OPAL AUSGEWEITET

»Edelsteinsektoren?«, flüstert Day. Meine Augen sind noch immer auf den Bildschirm gerichtet, obwohl die Schlagzeile längst verschwunden ist. »Da wohnen aber doch die Reichen, oder?«

Ich weiß nicht, was ich antworten soll, weil ich noch damit beschäftigt bin, die Neuigkeit zu verdauen. Emerald und Opal … Ob das ein Irrtum ist? Oder haben sich die Seuchen in L. A. dermaßen ausgebreitet, dass die Nachricht selbst auf den JumboTrons in Vegas erscheint? Noch nie habe ich erlebt, dass die Quarantänezone bis auf die Wohngebiete der Oberschicht ausgeweitet wurde. Der Emerald-Sektor grenzt an Ruby – bedeutet das, dass bald auch das Viertel, in dem ich gelebt habe, unter Quarantäne steht? Was ist denn mit den Impfungen? Sollten die nicht genau so etwas vermeiden? Ich denke an Metias’ Tagebucheinträge. Früher oder später, hatte er geschrieben, wird so ein Virus außer Kontrolle geraten und dann wird keine Impfung und kein Gegenmittel es aufhalten können. Ich denke an die Dinge, die mein Bruder herausgefunden hat, an die unterirdischen Mastbetriebe, die aggressiven Viren … die systematisch verbreiteten Seuchen. Ein Schauder überläuft mich. Los Angeles wird die Seuche schon bezwingen, sage ich mir. Sie wird aussterben, so wie bisher jedes Mal.

Weitere Schlagzeilen huschen über den Bildschirm. Die altbekannte über Days Hinrichtung. Sie zeigen die Szene aus der Batalla-Zentrale, wie Days Bruder John vor das Erschießungskommando geführt wird und unter den Kugeln zusammenbricht, die für Day bestimmt waren, bevor er mit dem Gesicht voran auf dem Boden landet. Day senkt den Blick auf den Bürgersteig vor ihm.

Eine andere Schlagzeile ist neuer. Sie lautet:

 

VERMISST

KENNZIFFER: 2001963034

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JUNE IPARIS

SOLDATIN, STADTSTREIFE LOS
ANGELES

ALTER/GESCHLECHT: 15, WEIBLICH,

GRÖSSE: 1,60 M

HAARFARBE: BRAUN,

AUGENFARBE: BRAUN

ZULETZT GESEHEN: NÄHE BATALLA-ZENTRALE,
LOS ANGELES, KALIFORNIEN

350 000 REPUBLIKNOTEN BELOHNUNG

HINWEISE UNVERZÜGLICH AN DIE
ÖRTLICHEN BEHÖRDEN

Das will die Republik den Leuten also weismachen. Dass ich vermisst werde, dass sie hoffen, mich heil und unversehrt wiederzufinden. Was sie ihnen verschweigen, ist die Tatsache, dass sie mich am liebsten tot sehen würden. Ich habe dem gefährlichsten Verbrecher des Landes geholfen, seiner Hinrichtung zu entgehen, die rebellischen Patrioten zu einem Aufstand an einem Militärstützpunkt angestiftet und der Republik den Rücken gekehrt.

Aber diese Informationen machen sie natürlich nicht öffentlich, damit sie mich in aller Ruhe aufspüren können. Die Vermisstenanzeige zeigt das Foto von meinem Militärausweis – eine Porträtaufnahme von mir, auf der ich nicht lächele, das Gesicht bis auf einen Hauch Lipgloss ungeschminkt, meine dunklen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden. Auf dem Schwarz meines Mantels glänzt ein goldenes Republikemblem. Ich bin froh, dass in diesem Moment mein halbes Gesicht unter dem Phönixtattoo verborgen ist.

Wir sind gerade in der Mitte der Hauptstraße angelangt, als abermals ein Knistern aus den Lautsprechern dringt und das Gelöbnis von Neuem beginnt. Day und ich bleiben stehen. Day strauchelt und wäre beinahe gestürzt, aber ich kann ihn gerade noch festhalten. Die Leute auf der Straße blicken zu den JumboTrons hoch (bis auf ein paar Soldaten, die am Straßenrand Aufstellung genommen haben, um zu kontrollieren, ob auch jeder das Gelöbnis mitspricht). Die Bildschirme flackern und werden schwarz. Dann leuchtet das gestochen scharfe Porträt des Elektors auf.

Ich gelobe meine Treue …

Es ist fast ein beruhigendes Gefühl, die Worte zusammen mit allen anderen auf der Straße mitzusprechen, zumindest so lange, bis mir wieder einfällt, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Ich denke an den Abend nach Days Festnahme, als der Elektor und sein Sohn persönlich gekommen sind, um mir ihre Glückwünsche dafür auszusprechen, dass ich einen gefährlichen Straftäter hinter Gitter gebracht hatte. Die Bilder auf den JumboTrons zeigen dieselben grünen Augen, das markante Kinn und die dunklen Locken … Was jedoch nicht darauf zu sehen ist, sind die Kälte in seinem Blick und das kränkliche Grau seiner Haut. Auf den Porträts wirkt er beinahe väterlich, mit gesunden rosigen Wangen. Ganz anders, als ich ihn in Erinnerung habe.

zur Flagge der großen Republik von Amerika –

Plötzlich stoppt die Übertragung. Stille breitet sich auf der Straße aus und kurz darauf erhebt sich ein Chor aus verwirrtem Geflüster. Ich runzele die Stirn. Sehr ungewöhnlich. Dass das Nationalgelöbnis unterbrochen wird, habe ich noch nie erlebt, nicht ein einziges Mal. Und das System der JumboTrons ist so konzipiert, dass der Ausfall eines einzelnen die anderen nicht beeinträchtigen dürfte.

Day blickt zu den eingefrorenen Bildschirmen hinauf, während ich zu den Soldaten am Straßenrand hinübersehe. »Technische Panne?«, fragt er. Sein keuchender Atem macht mir Sorgen. Ein kleines bisschen musst du noch durchhalten. Hier können wir nicht bleiben.

Ich schüttele den Kopf. »Nein. Sieh mal, die Soldaten.« Ich nicke unauffällig in ihre Richtung. »Sie haben ihre Position verändert. Jetzt tragen sie ihre Gewehre nicht mehr über der Schulter – sie halten sie in der Hand. Sie bereiten sich auf irgendeine Reaktion der Leute vor.«

Day schüttelt langsam den Kopf. Er ist beunruhigend blass. »Irgendetwas ist passiert.«

Das Porträt des Elektors verschwindet von den JumboTrons und im nächsten Moment folgt eine neue Serie von Bildern. Sie zeigen einen Mann, der dem Elektor zum Verwechseln ähnlich sieht, nur dass er viel jünger ist, vielleicht Anfang zwanzig, doch er hat die gleichen grünen Augen und dunklen Locken. Plötzlich erinnere ich mich an die Aufregung, die mich durchzuckt hat, als ich ihn bei der Ehrenfeier anlässlich von Days Gefangennahme getroffen habe. Das hier ist Anden Stavropoulos, der Sohn des Elektors.

Day hat recht. Irgendetwas muss passiert sein.

Der Elektor der Republik ist tot.

Eine fröhliche Stimme ertönt aus den Lautsprechern: »Bevor wir das Nationalgelöbnis fortsetzen, bitten wir alle Soldaten und Zivilisten, die Elektor-Porträts in ihren Behausungen auszutauschen. Die neuen Porträts liegen in den örtlichen Polizeidienststellen zur Abholung bereit. Inspektionen zur Überprüfung Ihrer Kooperationswilligkeit beginnen in zwei Wochen.«

Als Nächstes verkündet die Stimme das angebliche Resultat einer landesweiten Wahl. Auf die Todesumstände des Elektors aber wird mit keinem Wort eingegangen. Genauso wenig wie auf die Amtsergreifung seines Sohns.

Die Republik hat den alten Elektor durch einen neuen ersetzt, ohne auch nur einen einzigen Moment innezuhalten, so als wäre Anden derselbe Mensch wie sein Vater. Mir schwirrt der Kopf, ich versuche, mich daran zu erinnern, was ich in der Schule über die Elektor-Wahl gelernt habe. Ein Elektor bestimmt immer selbst seinen Nachfolger, der dann durch eine landesweite Wahl bestätigt wird. Es ist kaum überraschend, dass er sich für Anden entschieden hat – aber unser Elektor ist jahrzehntelang im Amt gewesen, schon lange bevor ich geboren wurde. Und jetzt ist er plötzlich nicht mehr da. Innerhalb von Sekunden hat sich unsere ganze Welt verändert.

Genau wie Day und ich begreifen langsam auch alle anderen auf der Straße, was die angemessene Reaktion auf diese Nachricht ist: Wie auf ein Zeichen hin verneigen wir uns vor dem Porträt auf den JumboTrons und sprechen den Rest des Gelöbnisses, das nun wieder auf den Bildschirmen erschienen ist.

zu unserem ehrwürdigen Elektor, unserem ruhmreichen Vaterland, dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Kolonien und meinen Glauben an einen baldigen Sieg!

Immer wieder sprechen wir die Worte, denn niemand wagt es aufzuhören, solange sie auf den Bildschirmen aufleuchten.

Ich sehe zu den Soldaten am Straßenrand hinüber. Ihre Hände liegen fest auf ihren Gewehren. Schließlich, nach einer Zeit, die mir wie Stunden vorkommt, verschwinden die Worte und die JumboTrons senden wieder die üblichen Nachrichten. Alle setzen sich in Bewegung, so als wäre nichts geschehen.

Dann stolpert Day. Diesmal fühle ich, wie er zittert, und mein Herz krampft sich zusammen. »Bleib bei mir«, flüstere ich. Überrascht stelle ich fest, dass ich beinahe Bleib bei mir, Metias gesagt hätte. Ich versuche, ihn aufrecht zu halten, doch er gleitet unaufhaltsam Richtung Boden.

»Tut mir leid«, murmelt er. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß, seine Augen sind vor Schmerz zugekniffen. Er hebt zwei Finger an die Augenbraue. Stopp. Er kann nicht mehr.

Gehetzt blicke ich mich um. Zu viele Soldaten – wir haben noch einen langen Weg vor uns. »Nein, du musst«, widerspreche ich fest. »Bleib bei mir. Du schaffst das.«

Doch es hat keinen Zweck. Bevor ich ihn halten kann, stürzt er auf seine Hände und bricht auf der Straße zusammen.

DAY

Unser ehrwürdiger Elektor ist tot.

Ganz schön ernüchternd, das Ganze, was? Beim Tod des Elektors würde man einen gepflegten Trauermarsch erwarten, Panik auf den Straßen, Fahnen auf Halbmast, Soldaten, die ein Ehrensalut in den Himmel feuern. Ein riesiges Bankett, tagelange Staatstrauer mit weißen Flaggen an jedem Gebäude. Eben irgendeinen Hokuspokus dieser Art. Aber ich bin noch nicht lange genug auf der Welt, um den Tod eines Elektors miterlebt zu haben. Abgesehen von der Tatsache, dass der Wunschnachfolger des verstorbenen Elektors nach einer landesweiten Scheinwahl sein Amt antritt, habe ich keine Ahnung, wie so was abläuft.

Offenbar tut die gesamte Republik so, als wäre nichts passiert, und wechselt völlig übergangslos zum nächsten Elektor. Jetzt fällt mir wieder ein, dass wir in der Grundschule einmal etwas darüber gelesen haben. Wenn die Zeit für einen neuen Elektor gekommen ist, muss die Regierung dem Volk Zuversicht vermitteln. Trauer sät Unsicherheit und Chaos. Der Blick nach vorn ist die einzige Lösung. Von wegen. Das alles zeigt nur, wie viel Angst die Regierung davor hat, den Bürgern gegenüber Schwäche zu zeigen.

Aber mir bleibt nur eine Sekunde Zeit, darüber nachzudenken.

Das neue Gelöbnis ist kaum vorbei, als ein rasender Schmerz durch mein Bein fährt. Bevor ich es verhindern kann, krümme ich mich vornüber und sinke auf mein heiles Knie. Ein paar Soldaten sehen zu uns herüber. Ich lache, so laut ich kann, und versuche, die Tränen in meinen Augen wie Lachtränen aussehen zu lassen. June spielt mit, aber ich sehe die Angst in ihrem Gesicht.

»Komm schon«, zischt sie mir panisch zu. Sie schlingt ihren Arm um meine Taille und ich versuche, nach der Hand zu greifen, die sie mir hinstreckt. Auf dem Bürgersteig ringsum werden langsam die Leute auf uns aufmerksam. »Du musst aufstehen.«

Es kostet mich all meine Kraft, das Lächeln auf meinem Gesicht zu halten. Konzentrier dich auf June. Ich versuche mich zu erheben – und falle wieder hin. Verdammt. Die Schmerzen sind zu schlimm. Grelle Lichtblitze zucken vor meinen Augen. Atmen, befehle ich mir. Du kannst nicht mitten auf der Hauptstraße von Vegas zusammenklappen.

»Was ist hier los, Soldat?«

Ein junger Unteroffizier mit haselnussbraunen Augen steht plötzlich vor uns und verschränkt die Arme. Er wirkt etwas gehetzt, scheint aber nicht so sehr in Eile zu sein, dass er bei uns nicht nach dem Rechten sehen könnte. Eine Augenbraue skeptisch hochgezogen, mustert er mich. »Alles in Ordnung? Sie sind kalkweiß im Gesicht, Kamerad.«

Lauf!, hätte ich June am liebsten zugeschrien. Mach, dass du hier wegkommst, noch ist es nicht zu spät! Aber sie erspart mir die Antwort.

»Sie müssen ihn entschuldigen, Sir«, wendet sie sich an den Soldaten. »Ich habe noch nie einen Kunden im Bellagio auf einen Schlag so viel trinken sehen.« Sie schüttelt bedauernd den Kopf und macht eine abwehrende Geste. »Sie sollten lieber nicht so nah an ihn rankommen«, fährt sie fort. »Kann sein, dass er sich jeden Moment übergeben muss.«

Ich bin überrascht – wieder einmal –, wie leicht es ihr fällt, nahtlos zu einem völlig anderen Menschen zu werden. Genauso wie sie mich in den Straßen von Lake an der Nase herumgeführt hat.

Der Unteroffizier runzelt argwöhnisch die Stirn, bevor er sich wieder mir zuwendet. Sein Blick fällt auf mein verletztes Bein. Obwohl es unter dem dicken Stoff meiner Hose verborgen ist, studiert er es genau. »Ich bin nicht sicher, ob Ihre Begleiterin weiß, wovon sie da redet. Scheint mir eher, als gehörten Sie ins Krankenhaus.« Er hebt die Hand, um einen vorbeifahrenden Krankenwagen herbeizuwinken.

Ich schüttele den Kopf. »Nein danke, Sir«, bringe ich mit einem kläglichen Lachen heraus. »Die Süße hier erzählt mir bloß zu viele Witze. Mir ist nur mal kurz die Luft weggeblieben – und jetzt brauche ich einfach ’ne ordentliche Mütze Schlaf. Wir –«

Aber er hört mir überhaupt nicht zu.

Im Stillen stoße ich einen Fluch aus. Wenn sie uns ins Krankenhaus bringen, werden sie unsere Fingerabdrücke nehmen und dann wissen sie sofort, wer wir sind – die beiden meistgesuchten Verbrecher der Republik. Ich wage es nicht, June anzusehen, aber ich weiß, dass auch sie versucht, einen Weg zu finden, wie sie uns hier rausbringen kann.

Plötzlich erscheint ein Kopf über der Schulter des Unteroffiziers.

June und ich erkennen das Mädchen auf den ersten Blick, auch wenn ich es noch nie in einer frisch gebügelten Republikuniform gesehen habe. Um ihren Hals hängt eine Pilotenbrille. Sie geht um den Soldaten herum und bleibt mit einem nachsichtigen Lächeln vor mir stehen. »Hallo!«, sagt sie. »Dachte ich’s mir doch, dass du das bist – ich habe dich wie einen Verrückten die Straße runterstolpern sehen.«

Der Unteroffizier sieht zu, wie sie mich auf die Füße zieht und mir einen kräftigen Klaps auf den Rücken gibt. Ich zucke zusammen, gleichzeitig aber schenke ich ihr ein breites Grinsen, als würde ich sie schon mein Leben lang kennen.

»Hab dich vermisst«, antworte ich schließlich.

Der Soldat blickt das Mädchen an und gestikuliert ungeduldig von mir zu ihr. »Sie kennen ihn?«

Das Mädchen streicht sich das schwarze Haar aus dem Gesicht und wirft ihm den kokettesten Blick zu, den ich je gesehen habe. »Ob ich ihn kenne, Sir? Wir waren das erste Jahr in derselben Staffel.« Sie zwinkert mir zu. »Sieht aus, als hätte er sich mal wieder in den Bars rumgetrieben.«

Der Unteroffizier schnaubt abfällig und verdreht die Augen. »Air Force, was? Tja, dann achten Sie wenigstens darauf, dass er nicht noch einmal so ein Aufsehen erregt. Ich war schon kurz davor, seinen Commander zu informieren.« Im nächsten Moment scheint ihm wieder einzufallen, warum er es vorher so eilig hatte, und er marschiert von dannen.

Ich atme auf. Knapper hätten wir wohl kaum davonkommen können.

Als er weg ist, lächelt mich das Mädchen breit an. Selbst durch ihren Ärmel kann ich sehen, dass sie einen Gips trägt. »Meine Kaserne ist hier ganz in der Nähe«, sagt sie. In ihrer Stimme liegt eine leichte Schärfe, die mich ahnen lässt, dass sie nicht sonderlich glücklich ist, uns hier zu sehen. »Wie wär’s, wenn du dich da ein bisschen ausruhst? Du darfst auch dein neues Spielzeug mitnehmen.« Das Mädchen deutet mit dem Kinn auf June.

Kaede. Sie hat sich kein bisschen verändert seit dem Nachmittag, an dem ich sie kennengelernt habe und sie für eine ganz normale Barkeeperin mit einem Rankentattoo hielt. Bevor ich herausfand, dass sie eine Patriotin ist.

»Nach dir«, erwidere ich.

Kaede hilft June, mich einen Häuserblock weiter zu bugsieren. Vor dem aufwendig verzierten Eingang der Venezia-Kaserne, eines weitläufigen Hochhauskomplexes, bleibt sie stehen, dann führt sie uns an einem gelangweilten Wachposten vorbei und durch die Haupthalle des Gebäudes. Die Decke ist so hoch, dass mir schwindelig wird, und ich erspähe reihenweise Republikflaggen und Elektor-Porträts zwischen den Steinsäulen an der Wand. Ein paar Soldaten haben bereits damit angefangen, die Bilder durch neue zu ersetzen. Kaede winkt uns weiter und plappert dabei unermüdlich vor sich hin. Ihre schwarzen Haare sind kinnlang, kürzer, als ich sie in Erinnerung habe, und sie trägt marineblauen Lidschatten über ihren sanft geschwungenen Augen. Mir ist noch nie aufgefallen, dass wir beinahe gleich groß sind. Soldaten eilen hin und her und ich warte nur darauf, dass mich einer von ihnen von den Fahndungsfotos wiedererkennt und Alarm schlägt. Spätestens in dem Moment werden sie auch June unter ihrer Verkleidung erkennen. Oder bemerken, dass Kaede gar keine echte Soldatin ist. Dann werden sie sich allesamt auf uns stürzen und wir haben keine Chance.

Aber niemand beachtet uns und durch mein Humpeln fallen wir sogar noch weniger auf; ich sehe mehrere andere Soldaten mit eingegipsten Armen oder Beinen. Kaede führt uns zu den Aufzügen – ich bin noch nie mit einem gefahren, weil ich noch nie in einem Gebäude gewesen bin, in dem die Elektrik einwandfrei funktionierte. Im achten Stock steigen wir aus. Hier oben sind weniger Soldaten. Ein Flurabschnitt, durch den wir gehen, ist sogar vollkommen verlassen.

Hier oben bröckelt Kaedes gut gelaunte Fassade. »Ihr zwei seht aus wie zwei Ratten aus der Gosse«, murmelt sie, als sie leise an eine Tür klopft. »Das Bein macht dir immer noch Probleme, wie’s aussieht? Ihr seid ja echt hartnäckig, wenn ihr den ganzen Weg hierhergekommen seid, um uns zu finden.« Dann wirft sie June einen verächtlichen Blick zu. »Mann, diese dämlichen Spiegel an deinem Kostüm haben mich total geblendet.«

June sieht zu mir herüber. Ich weiß genau, was sie denkt. Wie um alles in der Welt kann sich eine Gruppe von Kriminellen in einer der größten Militärkasernen von Vegas einnisten?

Auf der anderen Seite der Tür ertönt ein Klicken. Kaede öffnet sie, geht hinein und breitet die Arme aus. »Willkommen in unserer bescheidenen Hütte«, verkündet sie mit großer Geste. »Zumindest für die nächsten paar Tage. Gar nicht mal so übel, was?«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Eine Gruppe von Teenagern vielleicht oder eine Horde schlecht organisierter Dilettanten.

Stattdessen erwarten uns in dem Raum nur zwei Leute.

Überrascht sehe ich mich um. Ich bin noch nie zuvor in einer echten Republikkaserne gewesen, aber das hier muss eine Offiziersunterkunft sein – nie im Leben würden normale Soldaten in einem solchen Palast residieren. Zunächst mal handelt es sich nicht um den üblichen länglichen Raum mit Reihen von Etagenbetten. Es könnte ein Apartment gehobener Klasse für einen oder zwei Offiziere sein. An der Decke und in den Stehlampen brennt elektrisches Licht. Silberne und cremefarbene Marmorfliesen bedecken den Boden, die Wände sind abwechselnd in Cremeweiß und Weinrot gestrichen und die Sofas und Tische stehen auf dicken roten Teppichen. An einer Wand hängt ein kleiner Flachbildschirm mit ausgeschaltetem Ton, der dieselbe Nachrichtensendung zeigt wie die JumboTrons auf der Straße.

Ich stoße einen leisen Pfiff aus. »Kann man so sagen.« Ich lächele, höre aber damit auf, als ich June ansehe. Ihr Gesicht unter dem Phönixtattoo ist angespannt. Obwohl ihr Blick neutral bleibt, fühlt sie sich offensichtlich unwohl und ist längst nicht so beeindruckt wie ich. Na ja, warum sollte sie auch? Ich wette, ihre eigene Wohnung war mindestens so schick wie diese hier. Routiniert lässt sie ihren Blick durch den Raum schweifen und registriert Dinge, die mir wahrscheinlich nie auffallen würden. Aufmerksam und kritisch wie jeder gute Republiksoldat. Eine ihrer Hände verharrt in der Nähe ihrer Taille, wo sie zwei Messer versteckt hat.

Einen Augenblick später sehe ich das Mädchen, das hinter dem Sofa in der Mitte des Raums steht, zum ersten Mal richtig an. Sie fängt meinen Blick auf und kneift die Augen zusammen, als müsse sie sich vergewissern, dass ich auch wirklich da bin. Ihr Mund klappt erschrocken auf und ihre schmalen rosa Lippen formen ein O.

Moment mal. Mein Herzschlag scheint kurz auszusetzen. Ihr Haar ist jetzt zu kurz, um es zu flechten, es reicht ihr in einem unordentlichen Wust bis zur Mitte des Halses. Deswegen habe ich sie nicht gleich erkannt.

Tess.

»Du bist hier!«, stößt sie hervor. Bevor ich eine Antwort herausbringe, kommt Tess schon auf mich zugestürmt und schlingt die Arme um meinen Hals. Ich stolpere einen Schritt zurück und kann nur mit Mühe mein Gleichgewicht halten. »Du bist es wirklich – ich glaub’s nicht, dass du hier bist! Du lebst!«

Ich bin kaum in der Lage, geradeaus zu denken. Eine Sekunde lang spüre ich nicht mal mehr den Schmerz in meinem Bein. Ich kann nichts tun, außer meine Arme fest um Tess’ Taille zu schlingen, den Kopf an ihrer Schulter zu vergraben und die Augen zu schließen. Das Gewicht, das auf mir gelastet hat, hebt sich und lässt mich schwach vor Erleichterung zurück. Ich hole tief Luft, lasse mich von ihrer Wärme und dem süßen Duft ihres Haars trösten. Seit meinem zwölften Lebensjahr habe ich jeden einzelnen Tag mit ihr verbracht – doch erst jetzt, nachdem wir ein paar Wochen voneinander getrennt waren, wird mir bewusst, dass sie nicht mehr das zehnjährige Mädchen ist, das ich in irgendeiner Gasse aufgegabelt habe. Sie wirkt verändert. Älter. Ich spüre, wie sich in meiner Brust etwas regt.

»Schön, dich wiederzusehen, Cousine«, flüstere ich. »Gut siehst du aus.«

Tess drückt mich noch ein wenig fester. Mir fällt auf, dass sie den Atem anhält; sie versucht mit aller Kraft, die Tränen zurückzuhalten.

Schließlich unterbricht Kaede den Moment. »Jetzt ist aber mal gut. Wir sind hier doch nicht in der Oper.«

Tess und ich lösen uns voneinander, mustern uns verlegen, und Tess wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie wirft June ein unsicheres Lächeln zu. Dann dreht sie sich um und eilt zurück zu der anderen Person im Raum, einem Mann, der sich nicht vom Fleck gerührt hat.

Kaede öffnet den Mund, um weiterzureden, doch der Mann hebt seine behandschuhte Rechte. Das überrascht mich. Aus Kaedes herrischem Getue habe ich geschlossen, dass sie die Anführerin dieser Truppe ist. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses Mädchen von irgendjemandem Befehle entgegennimmt. Jetzt aber presst sie bloß die Lippen aufeinander und lässt sich auf die Couch fallen, als der Mann aufsteht und sich uns zuwendet. Er ist groß, schätzungsweise Anfang vierzig und hat kräftige Schultern. Seine Haut ist hellbraun und sein krauses Haar zu einem kurzen, buschigen Zopf gebunden. Auf der Nase trägt er eine Brille mit schmalem schwarzem Rahmen.

»Soso. Du musst der Junge sein, über den wir alle schon so viel gehört haben. Freut mich, dich kennenzulernen, Day.«

Ich wünschte, ich müsste nicht vor Schmerz vornübergekrümmt stehen. »Ganz meinerseits. Danke, dass ihr uns empfangt.«

»Entschuldigt, dass wir euch nicht selbst mit nach Vegas genommen haben«, sagt er bedauernd und schiebt seine Brille zurecht. »Das muss ziemlich rücksichtslos auf euch gewirkt haben, aber ich konnte die Sicherheit meiner Rebellen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.« Sein Blick richtet sich auf June. »Und du bist das Wunderkind der Republik, nehme ich an.«

June neigt ihren Kopf auf eine Art, die unverkennbar ihre hohe Abstammung zeigt.

»Aber deine Verkleidung ist wirklich überzeugend. Ich würde gern kurz deine Identität überprüfen. Schließ die Augen.«

June zögert eine Sekunde, dann gehorcht sie.

Der Mann deutet mit der Hand auf den vorderen Teil des Raums. »Und jetzt wirf eins deiner Messer auf die Zielscheibe an der Wand.«

Ich blinzele und suche die Wände ab. Zielscheibe? Das runde Brett mit den drei Ringen gleich neben der Tür, durch die wir gekommen sind, war mir noch nicht mal aufgefallen. Aber June reagiert sofort. Sie zieht eines ihrer Messer aus dem Versteck an ihrer Taille, dreht sich um und schleudert es auf die Zielscheibe, ohne dabei ein einziges Mal die Augen zu öffnen.

Das Messer bohrt sich nur ein kleines Stückchen vom Mittelpunkt entfernt in das Holz.

Der Mann klatscht in die Hände. Selbst Kaede gibt ein anerkennendes Brummen von sich, verdreht jedoch gleich darauf die Augen. »Ach, und wenn schon«, höre ich sie murmeln.

June dreht sich wieder zu uns um und wartet darauf, dass der Mann etwas sagt.

Ich bin stumm vor Verblüffung. Noch nie in meinem Leben habe ich jemanden gesehen, der so gut mit einem Messer umgehen kann. Und obwohl June mich schon so einige Male überrascht hat mit dem, was sie alles kann, habe ich sie soeben zum ersten Mal wirklich eine Waffe benutzen sehen. Der Anblick der Klinge in der Zielscheibe jagt mir einen Schauer über den Rücken, vor Sorge und Begeisterung zugleich, und ruft Erinnerungen in mir wach, die ich vor langer Zeit in eine tiefe Truhe, ganz hinten in meinem Gedächtnis, verbannt habe – Gedanken, die ich verdrängen muss, wenn ich hier weitermachen, mich konzentrieren will.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagt der Mann nun auch zu June und verschränkt die Hände hinter dem Rücken. »Und jetzt erzählt, was führt euch denn zu uns?«

June nickt mir zu, also antworte ich. »Wir brauchen eure Hilfe. Bitte. Ich bin wegen Tess hergekommen, aber ich muss auch meinen Bruder Eden finden. Ich weiß nicht, was die Republik mit ihm anstellt und wo sie ihn festhalten. Wir dachten, ihr seid wahrscheinlich die Einzigen außerhalb des Militärs, die an Informationen kommen können. Und außerdem sieht es aus, als müsste ich noch mal am Bein operiert werden.« Ich ziehe scharf die Luft ein, als der Schmerz in meiner Wunde erneut aufflammt.

Der Mann wirft einen Blick auf mein Bein; seine Stirn ist sorgenvoll gerunzelt. »Das ist ja eine ganz schöne Liste«, erwidert er. »Aber setz dich erst mal hin. Du wirkst ein bisschen unsicher auf den Beinen.« Er wartet geduldig darauf, dass ich mich in Bewegung setze, doch als ich mich nicht rühre, räuspert er sich. »Tja, ihr habt euch vorgestellt, also sollte ich es der Höflichkeit halber wohl auch tun. Mein Name ist Razor und ich bin derzeitig der Anführer der Patrioten. Ich leite die Gruppe schon seit ein paar Jahren, länger, als du Unruhe in den Straßen von Lake stiftest. Du willst also, dass wir dir helfen, Day, aber ich meine mich zu erinnern, dass du unsere Einladungen, dich uns anzuschließen, ausgeschlagen hast. Mehrmals.« Er dreht sich zu den getönten Fenstern um, von denen aus man einen Blick auf die pyramidenförmigen Landungsdocks an der Hauptstraße hat.

Die Aussicht von hier oben ist fantastisch. Hell erleuchtete Luftschiffe gleiten am Nachthimmel dahin und einige von ihnen setzen sich auf die Spitzen der Pyramiden wie perfekt passende Puzzleteile. Hin und wieder sind Formationen von Kampfjets zu sehen, schwarze, adlergleiche Silhouetten, die von den Luftschiffplattformen starten oder darauf landen. Es ist ein endloser Strom von Geschäftigkeit. Meine Augen wandern von Gebäude zu Gebäude; besonders die Pyramidendocks, mit ihren Rillen in den Seiten und den treppenartigen Vorsprüngen, wären ziemlich leicht zu erklimmen.

Dann wird mir bewusst, dass Razor eine Reaktion von mir erwartet. »Mir waren die Todesraten in eurer Organisation nicht ganz geheuer«, sage ich.

»Die scheinen dich jetzt ja nicht mehr zu stören«, entgegnet Razor und dreht sich wieder zu uns um. Seine Worte sind vorwurfsvoll, seine Stimme aber klingt freundlich, als er die Handflächen zusammenlegt und sich die Fingerspitzen an die Lippen presst. »Weil du unsere Hilfe brauchst. Korrekt?«

Tja, dem kann ich wohl kaum widersprechen. »Tut mir leid. Uns gehen langsam die Möglichkeiten aus. Aber glaub mir, ich könnte es verstehen, wenn ihr uns eine Abfuhr gebt. Nur bitte nicht direkt in den nächsten Republikknast.« Ich ringe mir ein Lächeln ab.