Verzwickter Einzug
Alles begann an einem Spätsommerfreitag. Der Tag war warm und sonnig, die Vögel in der Reihenhaussiedlung am Rande der Großstadt zwitscherten, ein Mann im weißen Unterhemd wusch sein Auto, eine Frau sah aus dem Fenster und knabberte an ihren Fingernägeln, und ein gescheckter Hund hob sein Bein, um an ein Straßenschild zu pinkeln. Es war ein schöner, verschlafener, normaler Spätsommerfreitag. Bis …
… bis ein großer, grauer Lieferwagen in den Lindenweg einbog. Er schoss mit Karacho um die Ecke, die Reifen quietschten, und aus dem Auspuff kamen drei große schwarzgraue Wolken, als hätte der Wagen Raucherhusten. Der Mann im Unterhemd ließ den Lappen sinken. Die Frau am Fenster biss sich in den Finger, und der Hund pinkelte einen eindrucksvollen Bogen auf den Gehweg, als er sich nach dem Lieferwagen umdrehte. An der Seitenwand des Lieferwagens, kaum lesbar durch eine Schicht Straßendreck, stand Transport de mobilá.
Vor dem letzten Reihenhaus, dem Haus Nummer 23, hielt der Lieferwagen an, wobei er eine letzte schwarzgraue Wolke ausstieß. Es klang wie ein Seufzen. Die Beifahrertür flog auf, und ein großer, schlanker Mann stieg aus. Er war vollkommen in Schwarz gekleidet, und trotz der Sonne trug er einen schwarzen Umhang, dessen Kragen hochgestellt war. Seine rabenschwarzen, halblangen Haare waren schwungvoll nach hinten gekämmt, und er bewegte sich wie ein Dirigent auf der Bühne. Doch das Auffälligste war sein Schnauzbart. Er erinnerte an zwei riesengroße Lakritzkringel und war so dicht und lang, dass er die Mundwinkel verdeckte und fast bis zum Kinn reichte. Der Mann mit dem Lakritzschnauzer war Mihai Tepes.
Mihai Tepes war anders als andere Männer. Genau genommen war er gar kein Mann. Mihai Tepes war ein Vampir. Er wurde vor 2676 Jahren als zweiter Sohn einer ehrwürdigen Vampirfamilie in Bistrien, einem kleinen Dorf in Siebenbürgen, geboren. Siebenbürgen, auch Transsilvanien genannt, liegt so ziemlich in der Mitte von Rumänien. Es ist ein schönes Land mit gewaltigen Bergen, rauschenden Flüssen und dichten Wäldern. Mihai Tepes liebte seine Heimat sehr. Trotzdem hatte er sie verlassen. Wegen einer Frau. Wie das nun mal so ist.
Und das kam so: Vor sechzehn Jahren streifte Mihai durch die Wälder seiner Heimat. Es war ein warmer Tag, doch der Himmel war bedeckt. Mihai war auf der Suche nach einem Nachmittagssnack. Einer Raupe, einem Eichhörnchen oder einem Reh. Auf einem schummerigen Waldweg sah er eine hübsche, rotwangige Touristin. Sein Appetit wurde sofort riesengroß. Er schlich sich von hinten an, legte seine Hände um ihre schmalen Schultern und biss sie voller Leidenschaft in den Hals. Blind vor Appetit hatte Mihai eins übersehen: Die hübsche Touristin trug eine Halskrause. Ein paar Tage zuvor hatte sie beim Wandern in den Karpaten einen Unfall gehabt. Pech für Mihai, Glück für die Touristin. Sie schrie auf, aber nur vor Schreck. Mihais Zähne hatten sich bloß in die Halskrause gebohrt. Er riss sich los und sah die hübsche Touristin verwirrt an. Was war das für eine Frau, an der er sich beinahe die Zähne ausbiss? Er sah zwei große, nachtblaue Augen – und pardauz! – war es um ihn geschehen. Es war Liebe auf den ersten Biss. Elvira, so hieß die Touristin, ging es nicht anders. Es folgten Küsse, Liebesschwüre, Mondscheinspaziergänge und Streit ums Putzen. Um die Sache kurz zu machen: Drei Jahre später heirateten Mihai und Elvira. Vier Jahre später bekamen sie Zwillinge: Silvania und Dakaria.
„Elvira, Silvania, Daka! Die Möbel sind da! Rapedadi, kommt!“, rief Herr Tepes. Seine Stimme dröhnte durch die Vorstadtstille wie eine Tuba. Dann wandte er sich wieder dem Fahrer zu, der ausgestiegen war und sich eine Zigarette anzündete.
Im Lindenweg Nummer 23 flog die Haustür auf, und eine zierliche Frau mit rotem Wuschelkopf und einem nachtblauen Kleid, das perfekt zur Farbe ihrer Augen passte, lief mit kleinen schnellen Schritten auf den Lieferwagen zu. Das war Elvira Tepes. „Mihai! Potztausend, da seid ihr ja schon!“
Hinter ihr folgte ein Mädchen mit einer schwarzen kurzen Hose, schwarzen Netzstrümpfen und schwarzen Knöchelschuhen mit lila Schnürsenkeln. Auf ihrer blassen, kleinen Nase saß eine große schwarze Fliegersonnenbrille. Die pechschwarzen Haare standen in alle Richtungen ab und erinnerten an einen Seeigel. Das war Dakaria Tepes, die ihren Namen jedoch nicht sonderlich schön fand und deshalb darauf bestand, einfach nur Daka genannt zu werden.
„Schon ist gut“, murmelte sie und gähnte.
„Alles ist relativ und Mama immer positiv“, sagte ein ebenso blasses Mädchen, das hinter Daka zur Tür heraustrat. Das war Silvania, die ihren Namen liebte und es nicht ausstehen konnte, wenn ihn jemand abkürzte oder verniedlichte. Sie trug einen knielangen dunkelroten Rock, dessen Saum mit schwarzen Perlen bestickt war, und Ballerinas. Dazu hatte sie einen extravaganten Hut auf, als wäre sie eine englische Dame beim Pferderennen, und um ihre Schultern lag eine schwarz-rot gemusterte Stola. Sie war ein Stück kleiner und ein Stück breiter als ihre Schwester. Und sieben Minuten älter.
Elvira, Daka und Silvania Tepes hatten Bistrien am frühen Morgen verlassen, waren zum Flughafen in die Hauptstadt gefahren und mit dem Flugzeug nach Deutschland geflogen, direkt nach Bindburg. Mihai Tepes war in der Nacht selber nach Deutschland geflogen. Daka hätte ihn gerne begleitet, doch ihr fehlte einfach noch die Kondition für derartige Langstreckenflüge. Für Mihai waren die 1490 km zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat der reinste Spazierflug. (In seiner Jugend, also vor 1244 Jahren, hatte Mihai Tepes an mehreren Marathonflügen über 4200 km teilgenommen, und mit seinem Bruder Vlad hatte er eine Weltflugreise unternommen. Auch heute, mit seinen 2676 Jahren, war er noch ziemlich fit.)
Der Möbeltransporter, der Tage zuvor in Siebenbürgen losgefahren war, sollte eigentlich gleichzeitig mit den Tepes ankommen. Doch er hatte sich an einer besonders verzwickten Kreuzung verfahren. Zum Glück war diese Kreuzung nur noch wenige Kilometer vom Ziel entfernt, und Herr Tepes konnte den Lieferwagen aus der Luft aufspüren und in knapp zwei Stunden in den Lindenweg lotsen.
„Dann wollen wir mal!“ Herr Tepes rieb sich die Hände, während der Fahrer mit der Zigarette im Mund die Hintertür des Lieferwagens öffnete.
„Meine Pflanzen!“, rief Frau Tepes.
„Mein Aquarium!“, rief Daka.
„Mein Cello!“, rief Silvania.
Während der langen Fahrt durch Schlaglöcher, über Kopfsteinpflaster und durch so manche gewagte Kurvenlage war einiges im Lieferwagen durcheinandergeraten. Daka zog mit einem Ruck einen Korb voller Bücher von der Ladefläche. Es war, als hätte sie eine Lawine losgetreten. Im Wagen rumpelte und pumpelte es. „Schlotz zoppo!“, schrie sie, doch es war zu spät.
Eine riesengroße Blumenvase rollte weiter hinten von einer Kiste, legte enorm an Tempo zu, segelte durch die Luft und landete mitten auf Silvanias Hut. FLOPP!
Ein Kaktus rutschte direkt auf Elvira Tepes zu, die schnell ihren Rock raffte und die Stachelpflanze darin auffing. „Meine Aylostera blossfeldi!“, rief sie.
Im gleichen Moment fing Herr Tepes ein Bügeleisen und einen Schrubber auf. Mit dem Bügeleisen konnte er einen Tennisball abwehren, der ihm sonst geradewegs ins Gesicht geschossen wäre.
Daka beobachtete die zerstörerische Kraft der Umzugslawine mit offenem Mund und großen Augen. Zum Glück hatte das Rumpeln im Lieferwagen aufgehört. Alle atmeten auf. In dem Moment löste sich ein Buch aus dem Korb. Es war ein Wörterbuch mit 2500 Seiten. WUMMS!, landete es auf Dakas Fuß. „Auuuu!“, jaulte Daka auf.
Silvania, Mihai und Elvira Tepes spuckten sofort dreimal hintereinander auf Dakas Fuß. Das war ein alter transsilvanischer Brauch gegen Schmerzen. Manchmal half er sogar. Nachdem sich die Tepes von diesem ersten Schreck erholt hatten, begannen sie mit dem Ausladen. Ganz vorsichtig.
Der Mann im weißen Unterhemd, die Frau mit den abgeknabberten Fingernägeln und der gescheckte Hund sahen mit großen Augen, wie klotzige Schränke, Kisten und eine blutrote Couch ins Reihenhaus Nummer 23 getragen wurden. Mit noch größeren Augen sahen sie, wie eine Kollektion aus schwarzen Umhängen, ein gigantischer Kronleuchter und eine hölzerne, altertümliche Orgel im Haus verschwanden. Als eine riesengroße Tiefkühltruhe, an die fünfzig weiße Klobrillen und ein schwarz glänzender Sarg ins Haus gebracht wurden, fielen ihnen die Augen beinahe aus dem Gesicht. Der Mann im weißen Unterhemd ließ den nassen Lappen fallen, die Frau vergaß, an den Fingernägeln zu knabbern, und der Hund pullerte sich mit den letzten Tropfen ans rechte Hinterbein.
Im Reihenhaus Nummer 21, direkt neben den Tepes, wackelte die Gardine, und eine lange, gebräunte Nase verriet einen neugierigen Zuschauer. Doch die Tepes waren zu beschäftigt, um ihn wahrzunehmen. Im Reihenhaus Nummer 24, direkt gegenüber von den Tepes, kam ein etwa vierjähriger Junge an den Zaun gelaufen. „Badewanne!“, rief er und zeigte mit dem Babyspeckfinger auf den Sarg.
Elvira Tepes lächelte und winkte dem Jungen mit einer Klobrille in der Hand zu.
Der kleine Junge runzelte die Stirn. Dann lief er wieder hinter das Haus.
„Nette Nachbarn“, fand Frau Tepes. Sie winkte auch dem Mann im weißen Unterhemd und der Frau mit den abgeknabberten Fingernägeln zu, die sich daraufhin abwendeten und beschäftigt taten. Der Hund legte den Kopf schräg und beobachtete die Einzugsgesellschaft weiter neugierig.
Eine gute Stunde später war der Lieferwagen leer und das Reihenhaus voller Möbel, Kisten und Umzugskartons. Der Transport de mobilá verabschiedete sich mit drei schwarzen Abgashustern aus dem Lindenweg. Der scheckige Hund bellte ihm nach.
„Ist das nicht toll? Ist das nicht herrlich? Ist das nicht wunderbar?“ Frau Tepes tänzelte vom Flur in die Küche und fuhr mit den Fingern über den glänzenden neuen Herd. „Seht euch das an“, forderte sie Daka und Silvania auf, die in den Umzugskartons im Flur nach ihren Sachen kramten. „Alles ist neu, alles funktioniert, und alles ist so schön sauber!“ Frau Tepes schwebte vom Flur ins Wohnzimmer und – „AAAHHH!“ – stieß einen Schrei aus.
Daka und Silvania stürmten ins Wohnzimmer. Herr Tepes stand mit einem großen braunen Plastiksack in der Mitte und verteilte auf dem cremeweißen Teppich tiefbraune Erde.
„Was machst du da?“ Frau Tepes’ Gesicht war teppichweiß.
Herr Tepes sah auf und zuckte die Schultern. „Heimaterde verteilen, was denn sonst?“
Daka unterdrückte ein Kichern, Silvania verdrehte die Augen, Frau Tepes seufzte. „Mihai, bitte“, begann Frau Tepes. „Wir hatten das doch alles besprochen – keine Heimaterde, keinen Sarg, keine Rennzecken und keine Blutkonserven in der neuen Wohnung.“ Sie deutete mit spitzem Finger auf die kleine Treppe, die zum Keller führte.
„Du meinst es also ernst? Ich soll in den Keller?“
„Wir sind nicht mehr in Bistrien, wo sich jeder einen Schuss Blut in den Kaffee kippt und alle mit den letzten Sonnenstrahlen aufstehen. Du kannst hier nicht einfach so in der Gegend herumfliegen. Und ihr auch nicht“, sagte Frau Tepes an Daka und Silvania gewandt.
„Das hatte ich auch nicht vor“, erwiderte Silvania und zupfte an ihrem Ohrläppchen.
Herr Tepes drückte den Rücken durch. „Ich stamme aus dem ältesten Vampirgeschlecht der Welt, und ein Vampir braucht nun mal Heimaterde und einen Sarg.“
„Ich weiß. Aber wenn hier jemand einen Sarg und Erde in unserem Wohnzimmer sieht, landen wir entweder bei der Polizei oder in der Irrenanstalt.“
„Und wenn schon. Da kommen wir wieder raus.“
„Mihai, bitte! Du bringst nicht nur dich, sondern auch deine Kinder in Gefahr. Du weißt doch selbst, dass früher nicht nur Vampire Menschen gejagt haben, sondern auch Menschen Vampire.“
„Einige Vampire jagen heute noch Menschen.“ Mihai Tepes schnalzte mit der Zunge.
„Na, siehst du. Und einige Menschen jagen heute noch Vampire. Es ist besser, wenn hier niemand erst erfährt, dass Vampire eingezogen sind. Wir wollen doch niemanden verschrecken, oder?“
„Ja, aber …“
„Der Keller ist schön geräumig“, bemerkte Frau Tepes.
Daka und Silvania wechselten schnell einen Blick, während ihre Eltern sich die Argumente wie Pingpongbälle zuwarfen. Daka deutete nach oben. Zeit, die Fliege zu machen.
In der oberen Etage gab es vier Zimmer: ein Schlafzimmer, ein kleines Badezimmer, Silvanias Zimmer und Dakas Zimmer. Silvania hatte sich das kleinere Zimmer ausgesucht, dafür konnte man von dort aus die Reihenhaussiedlung überblicken. Von Dakas Fenster aus blickte man auf ein Feld und einen kleinen Wald.
Als Silvania die Tür zu ihrem Zimmer aufstieß, ließ sie vor Entsetzen beinahe ihr Cello fallen. „MAMAAA!!!“
Daka steckte den Kopf ins Zimmer. „Schlotz zoppo!“
Das Zimmer war voller Klobrillen.
„Was ist passiert?“ Frau Tepes hastete mit Herrn Tepes im Schlepptau die Treppe hoch.
„DAS!“ Silvania deutete mit zitterndem Zeigefinger auf die Klobrillen.
Frau Tepes kratzte sich hinter dem Ohr. „Ach ja, das habe ich ganz vergessen zu erwähnen. Stellt euch vor: Ich habe in Bistrien beim Werksverkauf noch ein paar Klobrillen günstig erstanden.“
„Du hattest doch schon fünfzig“, sagte Daka.
„Wie viele? Wie viele hast du noch gekauft?“ Silvanias Stimme war tief und ihr Blick dunkel.
Frau Tepes zuckte die Schultern. „Ab hundert Stück bekommt man Mengenrabatt.“
„Das heißt, wir haben hundertfünfzig Klobrillen in der Wohnung?“ Silvania sah ihre Mutter verzweifelt an.
„Genau genommen zweihundertfünfzig.“ Sie lächelte kurz.
Silvania hingegen seufzte. In den zwölf Jahren ihres halbvampirischen Lebens hatte sie keinen Menschen (geschweige denn einen Vampir) kennengelernt, der so an einem Traum festhielt wie ihre Mutter. Frau Tepes war Künstlerin. Seit Jahren träumte sie von ihrem eigenen Klobrillenladen. Sie hatte die Geschäftsidee, Klobrillen für ästhetisch anspruchsvolle Kunden individuell zu gestalten. Im Dorf in Siebenbürgen, wo die meisten Einwohner wie ihre Vampirvorfahren am liebsten in der Natur ihr Geschäft verrichteten, floppte die Idee. Hier in Bindburg wollte es ihre Mutter noch einmal versuchen – aber musste sie ihre Klobrillensammlung deshalb in Silvanias Zimmer lagern? Silvania wusste, was das bedeutete: ein gemeinsames Zimmer für die Zwillinge.
„Gleich morgen fahre ich ins Stadtzentrum und sehe mich nach einem Laden um“, versprach Elvira Tepes beim Abendessen. „Kommt doch mit, das wird bestimmt spannend“, versuchte sie ihre Töchter aufzumuntern.
Doch die Stimmung war im Keller. Dort, wo Mihai Tepes nach langer Diskussion samt Sarg, Heimaterde und Orgel eingezogen war. Im Wohnzimmer blieb als Kompromiss ein katzenkloähnlicher Behälter mit transsilvanischer Erde zurück.
Eine schlaflose Nacht
Fumpfs!“, stöhnte Daka. „Ich kann nicht schlafen.“ Sie drehte sich zum x-ten Mal in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. Dabei wackelte und quietschte das Bett, das wie eine Schiffsschaukel aussah. Oder wie ein bunter Sarg, der mit vier Ketten an den Ecken in einem Metallgestell hing. Auf Dakas schwarze Bettwäsche waren lauter kleine weiße, fette Larven gedruckt. Daka stopfte sich ihr Kissen unter den Kopf, das die Form einer riesengroßen Spinne hatte.
Die Schwestern hatten am Nachmittag jeweils eine Zimmerhälfte bezogen. Ihre Eltern hatten ihnen mit den Möbeln geholfen, dann hatten sie die Zwillinge lieber allein gelassen. Wie ein explosives, unsichtbares Gas lag Ärger in der Luft. Schweigend hatten die Schwestern ihre Schränke eingeräumt. Als Daka quer durch den Raum an der Decke eine Metallkette aufhängen wollte – zum Abhängen –, hatte Silvania protestiert. Schließlich verletzte Daka damit Silvanias Hoheitsgebiet und drang in ihre Zimmerhälfte ein. Erst bestand Daka darauf, dass es trotz allem ihr Zimmer war. Obwohl beiden Schwestern klar war, dass es Monate dauern könnte, bis die Klobrillen aus Silvanias Zimmer verschwunden waren. Dann bot Daka ihrer Schwester einen Deal an: Silvania durfte ihren alten, vertrockneten Baum, den sie als Hutständer benutzte und für den sie wegen all der Bücherregale, Schmuckkommoden und Klamottenschränke keinen Platz mehr auf ihrer Hälfte hatte, in Dakas Zimmerhälfte abstellen, wenn sie dafür die Kette aufhängen durfte. So einigten sich die Schwestern. Daka hängte die Kette auf und Silvania stellte den Hutständerbaum in Dakas Zimmerhälfte ab.
Dann hatten sie ihr Gebiet markiert. Daka hatte über ihrem Bett ein Poster von Krypton Krax, ihrer transsilvanischen Lieblingsband, aufgehängt. Silvania hatte einen Strauß getrockneter Rosen aufgehängt. Oma Zezci hatte ihn ihr mit Transflyrop zum Geburtstag geschickt. Doch manchmal, vor dem Schlafengehen, redete Silvania sich ein, den Strauß von einem heimlichen, wahnsinnig gut aussehenden Verehrer geschenkt bekommen zu haben.
Silvania hob den Blick von ihrer Mädchenzeitschrift. Sie lag in einem alten Metallbett mit verschnörkeltem Kopfaufsatz und Bettpfosten, die wie schlafende Fledermäuse aussahen. Auf ihre Bettwäsche war ein Vollmond mit einem heulenden Wolf davor gedruckt. „Kein Wunder, dass wir nicht einschlafen können. Es ist ja auch noch total dunkel draußen. Wie soll man da ein Auge zukriegen?“
Daka seufzte und wickelte sich einen Arm ihres Spinnenkopfkissens um den Hals. „Um die Zeit wären wir in Bistrien in die Schule geflogen.“ Voller Sehnsucht sah sie aus dem Fenster in den Sternenhimmel. „Fehlt dir Transsilvanien auch schon so sehr wie mir?“
Silvania verdrehte die Augen. „Wir sind gerade mal einen Tag weg. Und du hast schon Heimweh. Du bist schlimmer als Papa.“
„Na und? Was ist so schlimm an Heimweh?“
„Nichts. Ich finde nur, wir sollten es hier zumindest versuchen. Papa zuliebe haben wir zwölf Jahre in Transsilvanien gelebt. Und Mama zuliebe sind wir jetzt hier. Es ist nicht fair, alles mieszumachen.“
„Mies? Wer macht etwas mies? Hier ist es einfach mies!“ Mit einem Satz war Daka aus dem Bett gehüpft und mit zwei Armschlägen an die Decke geflogen. Sie hängte sich kopfüber mit den Beinen an die Metallkette.
„Dakaria! Komm da sofort runter!“, rief Silvania.
„Nicht, solange du mich Dakaria nennst.“ Daka verschränkte die Arme.
„Daka, bitte komm runter. Wenn dich jemand sieht!“
„Wer soll mich denn hier sehen?“, fragte sie und winkte zum Fenster.
„Na, irgendwelche Nachbarn.“
„Dann müssen die aber im zweiten Stock an unserem Fenster vorbeifliegen“, erwiderte Daka.
Silvania seufzte.
„Komm schon, wir werden ja wohl noch zu Hause abhängen dürfen. Das machen Menschen doch auch.“ Daka schaukelte an der Metallkette vor und zurück. Die Kette quietschte.
„Ja, es sieht nur etwas anders aus“, sagte Silvania.
„Na und? Ich ändere mich doch nicht von oben bis unten, nur weil wir ein paar Tausend Kilometer weggezogen sind. Wenn Menschen keine Ahnung haben, wie man so richtig abhängt, ist das nicht mein Problem. Schlimm genug, dass wir hier nicht mehr fliegen dürfen, nachts schlafen und den ganzen Tag durchmachen müssen, in eine normale Schule mit normalen Menschen gehen und uns ständig mit Sonnencreme zukleistern müssen.“
„So etwas nennt man In-te-gra-tion.“
„Hä? Steht das in deiner Mädchenmenschenzeitschrift?“
Silvania machte „tze“ und blätterte um. Sie hatte beschlossen, die Tatsache zu ignorieren, dass ihre Schwester über ihr an der Decke baumelte. „Also ICH freue mich, endlich unter Menschen zu kommen.“
Daka runzelte die Stirn. „Und wieso?“
„Menschen sind einfach so … so kultiviert.“
„Und was soll das bedeuten?“
In dem Moment ging ein Stockwerk tiefer die Terrassentür auf, und kurz darauf flog Herr Tepes mit einer Rolle Klopapier in der Hand am Fenster vorbei Richtung Wald.
„So etwas machen sie zum Beispiel nicht“, erklärte Silvania. „Und sie essen kein blutendes Fleisch oder spielen mit Rennzecken und Blutegeln.“
„Dafür essen sie Knoblauch, gehen freiwillig ins Wasser und sind ganz verrückt nach Sonnenstrahlen. Wäh!“ Daka schüttelte sich. Die Kette quietschte. Dann warf Daka einen Blick auf ihr Aquarium, in dem sich ihre geliebten Blutegel schlängelten. „Und was hast du gegen Blutegel?“
„Nichts. Aber kein Mensch hat Blutegel als Haustiere. Menschen haben süße Puschelhunde, schnurrende Schmusekatzen oder zwitschernde Vöglein.“
„Ich bin aber kein Mensch.“
„Immerhin ein halber.“
„Ich wäre lieber ein ganzer Vampir“, seufzte Daka.
„Und ich lieber ein ganzer Mensch.“
Eine Weile war es still in dem Mädchenzimmer, bis auf das leise Quietschen der Kette.
„Mensch sein ist total langweilig“, meinte Daka dann.
„Ist es nicht.“
„Doch, wetten?“
„Du hast keine Ahnung.“
„Aber du.“
„Ja.“
„Na dann.“
Ein paar Sekunden sagte wieder keiner ein Wort. Silvania schielte zu ihrer Schwester nach oben. Sie hatte die Arme verschränkt und die Augen geschlossen. „Komm lieber runter, Daka. Du weißt doch, dass du manchmal im Schlaf abstürzt.“