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Das Buch

01:20 Uhr, 8. März 2014.

Malaysia Airlines Flug 370 verschwindet mitsamt seiner 239 Passagiere spurlos vom Radar.

Der unerklärliche Fall erlangte weltweite mediale Aufmerksamkeit. Wie kann ein ganzes Flugzeug in einer technologisierten und global vernetzten Welt unauffindbar sein? Hat eine perfekte Entführung stattgefunden? Und, falls das Flugzeug abgestürzt ist, wo sind seine Trümmer?

Florence de Changy, die vor Ort für Le Monde berichtete, dokumentierte die chaotischen Ermittlungen genau und ist dabei auf mehr Fragen als Antworten gestoßen. Aus ihrer scharfsinnigen Analyse der oft widersprüchlichen offiziellen Untersuchungsergebnisse, vernachlässigten Augenzeugenberichte und verblüffenden Expertenmeinungen ergibt sich eine zutiefst beunruhigende Erzählung darüber, was mit dem 2014 verschwundenen Flug MH370 geschehen sein könnte.

Die Autorin

FLORENCE DE CHANGY ist eine französische Journalistin und Korrespondentin der Asien-Pazifik-Region für Le Monde. Sie schreibt außerdem u. a. für Le Figaro, Le Télégramme und die South China Morning Post. De Changy lebt seit 30 Jahren in Hongkong.

Florence de Changy

Verschwunden

Was geschah wirklich mit MH370?

Aus dem Englischen
von Rita Gravert und Caroline Weißbach

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2715-0


Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Februar 2022

© für die deutsche Ausgabe

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022

© 2021 Florence de Changy

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
The Disappearing Act – The Impossible Case of MH370 bei Mudlark,
einem Imprint von HarperCollins Publishers, London.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

nach einer Vorlage von Sim Greenaway

© HarperCollinsPublishers Ltd 2021

Titelabbildung: © Shutterstock.com

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für die Familien und Freunde der 239 Menschen an Bord des Flugs MH370 vom 8. März 2014.

Für all diejenigen, die mir, egal auf welchem Kontinent sie leben, mit ihren Zeugenaussagen und Erklärungen bei den Recherchen geholfen haben.

Für all diejenigen, die ihre Forschung unermüdlich und voller Zuversicht fortführen, damit wir eines Tages doch noch erfahren, was wirklich mit Flug MH370 geschah.

Für all diejenigen, die mehr wissen und sich dazu verpflichteten, ihren Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten und das furchtbare Leid der Angehörigen der Opfer zu beenden.

Für meine Familie und meine Freunde, deren Geduld und Unterstützung entscheidend für meine Arbeit waren.

»Es ist ein Rätsel in einem Geheimnis, umhüllt von einem Mysterium; doch vielleicht gibt es einen Schlüssel.«

Winston Churchill, 1939

»Wir leben in einer Welt, in der die Mächtigen uns täuschen. Wir wissen, dass sie lügen, und sie wissen, dass wir wissen, dass sie lügen, aber das ist ihnen egal. Wir sagen zwar, dass es uns nicht egal ist, aber wir tun nichts.«

Adam Curtis, HyperNormalisation,
BBC-Dokumentation, 2016

»Internationale Beziehungen funktionieren wie die Mafia.«

Noam Chomsky, 2020

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Vorwort

Als ich zum ersten Mal vom Verschwinden der Malaysia-Airlines-Maschine hörte, saß ich gerade in einem Fiat, den ich am Flughafen von Verona gemietet hatte. Es war der Morgen des 8. März 2014. Ein Sonntag. Ich war auf Kurzbesuch in der Heimat meiner Kindheit und fuhr sofort an den Straßenrand, damit mir keine Einzelheit des RAI-Radiobeitrages entginge.

Auch in den folgenden Tagen berichtete RAI weiterhin über den Großraumjet von Malaysia Airlines, der trotz einer groß angelegten Suchaktion mit Schiffen und Flugzeugen noch immer nicht gefunden worden war. Aus der Ferne kam mir die ganze Sache höchst eigenartig vor. Ich wollte unbedingt vor Ort sein. Zehn Jahre zuvor hatte ich für längere Zeit in Kuala Lumpur gelebt und hegte seither eine Schwäche für Malaysia, das wenig bekannte Land, das bis dahin kaum Erwähnung in den westlichen Medien gefunden hatte.

Als Malaysias Premierminister Najib Razak eine Woche später auf eine »vorsätzliche Handlung« verwies, nahm die ganze Sache noch rätselhaftere Dimensionen an. Nun war also nicht mehr die Rede von einem gewöhnlichen Flugzeugunglück. Worum ging es dann?

Kaum war ich nach Hongkong zurückgekehrt, meinem Wohnort der vergangenen sieben Jahre, da bat mich die französische Tageszeitung Le Monde, für die ich seit Mitte der Neunziger schrieb, nach Kuala Lumpur zu reisen. Dort war das Verschwinden der Maschine bereits zum »größten Mysterium in der Geschichte der zivilen Luftfahrt« avanciert.

Was aus der Ferne schon seltsam erschien, wirkte aus der Nähe betrachtet geradezu kafkaesk. Im Jahr 2014 konnte eine Boeing 777 mit 239 Menschen an Bord nicht einfach so verschwinden. In dieser Nacht war nichts »Mysteriöses« geschehen. Für den Verlust des Großraumjets musste es eine logische Erklärung geben, sei sie menschlicher, technischer oder politischer Natur. Was wirklich geschehen war, hatte schlicht und einfach noch nicht die breite Öffentlichkeit erreicht, sagte ich mir.

Zu behaupten, Flug MH370 habe sich einfach so in Luft aufgelöst, war für mich eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz. Menschen und Computer mussten zwangsläufig etwas wissen, Radarsysteme und Satelliten etwas aufgezeichnet haben. Was auch immer geschehen war, es musste Spuren hinterlassen haben, und seien sie auch noch so undeutlich. Ich empfand es geradezu als meine berufliche Pflicht, diese Spuren zu finden, ihren Kontext zu analysieren, Unstimmigkeiten festzuhalten, falsche Fährten als solche zu identifizieren und jeden Zeugen dazu zu bringen, mit seinem Wissen herauszurücken. Und vor allem jedwede Vorstellung eines »Mysteriums« für diesen Fall kategorisch abzulehnen.

1

Flug MH370

Freitag, 7. März 2014. Kurz vor Mitternacht ist auf dem Kuala Lumpur International Airport (KLIA) Nachtruhe eingekehrt. Beinahe alle Cafés und Geschäfte, auch jene, die malaysische Zinnsouvenirs verkaufen, haben ihre Rollläden heruntergelassen und die Lichter ausgeschaltet. Den letzten Passagieren des Tages bleiben nur noch einige Metallbänke in langen, leeren Gängen, die zu den Aufenthaltsbereichen der Gates führen.

Vor den Gates C1-C3 haben sich etwa 30 Passagiere vor der Anzeige versammelt. Sie warten auf den Flug MH3701 und blicken von Zeit zu Zeit hoch. Am KLIA wird die Sicherheitskontrolle von Passagieren und Handgepäck erst kurz vor dem Boarding durchgeführt. Erfahrene Fluggäste sind mit dem Prozedere vertraut. Das Gepäck auf das Förderband stellen, den Laptop herausnehmen, den Gürtel entfernen und sämtliche Inhalte der Hosentaschen – Münzen, Schlüssel, Brille und Mobiltelefon – in eine Gepäckwanne leeren. Manchmal muss man sogar Schuhe und Strümpfe ausziehen. Doch mit den Sicherheitskontrollen nimmt man es am KLIA nicht so genau. Auf dem Überwachungsvideo, das die Passagiere kurz vor dem Boarding von Flug MH370 zeigt, fällt eine gewisse Laxheit ins Auge.

Während sich die Passagiere vor drei Torsonden zur Personenkontrolle versammeln, unterhalten sich die Sicherheitsbeamten – ein halbes Dutzend Männer und Frauen in schwarz-weißen Uniformen – miteinander. Ruhig und gelassen warten sie auf die Anweisung, mit den Sicherheitskontrollen zu beginnen. Die Besatzung hat diese bereits hinter sich und befindet sich an Bord, um die Maschine startklar zu machen. Zunächst haben sechs Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter die Kontrollen passiert und zehn Minuten später der Flugkapitän und sein Co-Pilot. Die beiden Männer legen die Pilotenmützen und ihr Gepäck auf das Förderband mit dem Scanner. Keiner von beiden holt irgendetwas aus den Gepäckstücken, noch nicht einmal das Navigationstablet. Auch die Jacken ziehen sie nicht aus. Beide werden einer raschen Durchsuchung mit der Handsonde unterzogen. Sie sprechen nicht miteinander. Erst zwei Wochen zuvor, am 22. Februar, ist Flugkapitän Zaharie Ahmad Shad den MH370 und seinen Rückflug, den MH371, geflogen. Ein paar Flugbegleiterinnen treffen verspätet ein. Eine um 23:33 Uhr und zwei weitere um 23:38. Mit dem Boarding der Passagiere wird um 23:46 begonnen, nur etwa eine Stunde vor Abflug.

Als eine der Ersten geht eine sehr modisch gekleidete Chinesin durch die Torsonde. Sie trägt einen Rüschenhut, den sie auch während der Sicherheitskontrolle nicht abnimmt, und ein passendes pink-weißes Outfit. Danach kommt ein junges Paar mit einem aufklappbaren Buggy und einem kleinen Mädchen, das mit schwankenden Schrittchen um sie herumtapst. Auch wenn laut Passagierliste 14 verschiedene Nationen vertreten sind, scheint der Großteil von ihnen Chinesen zu sein: Chinesen aus Kontinentalchina, aus Malaysia, Kanada, Australien, den USA oder Taiwan.

Zu dieser fortgeschrittenen Stunde sind ihre Bewegungen etwas unbeholfen und ihre Gesichter müde und abgespannt. Den täglichen Linienflug nehmen normalerweise Vielflieger. Er wird auch »der Flug der roten Augen« genannt: Ein Nachtflug, der mit sechs Stunden, einschließlich Start und Landung, nicht lang genug ist, um ausreichend Schlaf zu bekommen.2 An Wochentagen reisen mit MH370 vor allem Geschäftsleute, doch der Freitagnacht- bzw. Samstagmorgenflug ist anders. Dort trifft man auf Menschen, die nach Hause fliegen oder das Wochenende in Peking verbringen. Die meisten haben sich für das kalte Klima Nordchinas gerüstet und sind nicht entsprechend der Äquatorhitze gekleidet, die sie hinter sich lassen.

Die Familien der schicksalhaften Besatzung und der Passagiere haben wiederholt erfolglos nach diesem Video gefragt. Ich konnte es mir nur über vollkommen inoffizielle Wege anschauen. Auf dem Video erkennt man einige der Passagiere, auf die in späteren Pressemitteilungen Bezug genommen wird, wie etwa den bekannten Kalligrafen mit seiner weißen Mähne. Die zwanzig chinesischen und malaysischen Ingenieure und Forscher des amerikanischen Technologieunternehmens Freescale Semiconductor sind da schon schwerer zu identifizieren. Außerdem ist eine Gruppe Touristen zu sehen, die von einer Reise nach Nepal zurückkehren, und rund dreißig Chinesen der gehobenen Mittelschicht, die der Einladung eines Maklers gefolgt sind, sich in Malaysia Immobilienanlagen anzusehen. Außerdem gibt es da noch einen 32-jährigen Stuntman, der bereits eine eindrucksvolle Karriere hingelegt hat und einen Monat zuvor für die neue Netflix-Serie Marco Polo nach Kuala Lumpur gekommen war. Er fliegt zurück nach Peking, um das Wochenende mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern zu verbringen. Zwei pensionierte australische Ehepaare stechen durch ihre westliche Erscheinung, die größere und kräftigere Statur aus der Menge heraus. Einer von ihnen hält einen Akubra, einen sehr bekannten australischen Hut, in der Hand. Auch vier Franzosen fallen zwischen den überwiegend asiatisch aussehenden Passagieren auf. Es handelt sich um eine Mutter in Begleitung dreier Jugendlicher: ihre Tochter, einer ihrer zwei Söhne und seine französisch-chinesische Freundin. Nach einer Woche Urlaub in Malaysia fliegen sie an ihren Wohnort Peking zurück. Zu diesem Zeitpunkt hält sich der Vater gerade in Paris auf. Er wird wie vereinbart ein paar Stunden später nach Peking reisen und bei seinem Abflug nur wissen, dass seine Frau und seine Kinder ebenfalls unterwegs sind. Die anderen nicht asiatisch wirkenden Passagiere sind ein Amerikaner mittleren Alters, zwei junge Iraner, ein Neuseeländer, ein Russe und zwei Ukrainer.

Ein Jahr später mutmaßte ein amerikanischer Blogger, dass die Ukrainer etwas mit dem Verschwinden von Flug MH370 zu tun haben könnten. Er verdächtigte sie – auf der Grundlage eines rein hypothetischen Szenarios3 – die Maschine nach Kasachstan entführt zu haben. Die beiden Ukrainer kamen nur wenige Minuten vor dem Boarding gemeinsam am Gate an und machten einen wesentlich energetischeren Eindruck als der Rest der Passagiere. Sie hatten den Körperbau von US-Marines und trugen eng anliegende schwarze T-Shirts. Jeder der beiden hatte eine große Sporttasche dabei, die sie mit routinierter Leichtigkeit auf das Förderband schwangen. Viel später fand ich heraus, dass ihre Flugtickets die einzigen waren, die von den Ermittlern nicht zurückverfolgt werden konnten. Bis heute hat man nicht herausfinden können, wo sie gekauft wurden. Es gab kein Reisebüro, keine Zahlart und keinen Ausstellungsort. Äußerst ungewöhnlich. Zudem saßen die beiden ausgerechnet in Reihe 27 und damit unter der Satcom-Antenne. Wenn man von allen Passagieren an Bord einen möglichen Entführer hätte benennen sollen, dann erfüllten die Ukrainer diese Rolle sicherlich am besten, sowohl in Hinblick auf Alter und körperliche Voraussetzungen als auch hinsichtlich ihres Auftretens und der Körpersprache.4

Einige Fluggäste passieren die Torsonden in Mantel, Kapuzenpullover oder mit Gürtel. Sorglos laufen sie in kleineren Gruppen hindurch, um dann einer nach dem anderen zurückzugehen. Auch Armbanduhren lösen den Alarm der Metalldetektoren aus. Dieses etwas chaotische Kommen und Gehen wird von der Kamera vollständig aufgezeichnet. Einer der Passagiere öffnet eine Thermoskanne und hält sie kopfüber, um zu zeigen, dass sie leer ist. Ein anderer fischt eine extragroße Flasche Coca-Cola aus seinem soeben gescannten Handgepäck und trinkt vor aller Augen daraus, während er auf seine Reisebegleiter wartet.

Ein Angestellter von Malaysia Airlines (MAS) in der türkisfarbenen Jacke des Bodenpersonals spaziert durch die mittlere Torsonde, in der Hand eine durchsichtige Plastiktüte, die offensichtlich mehrere Rollen Faxpapier enthält. Der Alarm leuchtet rot auf. Niemand reagiert. Ungerührt setzt er seinen Weg fort, ohne kontrolliert zu werden. Kurze Zeit später bleibt eine Geldbörse in den Metallrollen des Förderbandes hinter dem Scanner stecken. Eine Frau bleibt beim Anziehen ihres Mantels mit dem Kopf am Stoff hängen und sorgt unfreiwillig für Heiterkeit. Mit anderen Worten, das gesamte Boarding-Prozedere geht eher unorganisiert und nachlässig vonstatten. Unter weniger tragischen Umständen hätte die legendäre malaysische Sorglosigkeit ein Lächeln bei demjenigen hervorgerufen, der das Video im Nachhinein betrachtet.

Obwohl die allgemeinen Sicherheitsbestimmungen für den Luftverkehr weltweit gelten, variieren sie von Flughafen zu Flughafen. In Kuala Lumpur hat man jedoch Schwierigkeiten, im offiziellen Informationsmaterial des Flughafens überhaupt etwas über die Bestimmungen zu erfahren. Auf der Website stößt man unter dem Reiter »Airport Check-In Guidelines« auf die Unterkategorie »Security Checks«. Sie besteht lediglich aus zwei Zeilen: »Security Regulation on Hand Luggage« und »Hand Baggage Guidelines«.5 Mehr Informationen gibt es nicht. Keine weiteren Einzelheiten. Kaum zu fassen und höchst ungewöhnlich für einen Flughafen, der mehr als vierzig Länder verbindet und jährlich dreißig Millionen Passagiere befördert.

Gerade als es aussieht, als hätten alle die Sicherheitskontrollen durchlaufen, verlässt ein junger Chinese in einem eng anliegenden weißen Anzug und mit Elvistolle den Wartebereich und passiert erneut die Kontrollstation, diesmal in die andere Richtung. Als hätte er etwas Wichtiges vergessen, eilt er schnellen Schrittes zurück zum Terminal. Am Ende des Videos, zehn Minuten nach Mitternacht, schließt das Sicherheitspersonal offenbar die Kontrollstation, doch er ist immer noch nicht zurückgekehrt. Hat er den Flug verpasst und damit sein Leben gerettet? Oder ist er gerade noch rechtzeitig an Bord geschlüpft? Und noch wichtiger: Sind einige Passagiere, die auf dem Video in Richtung Gate eilen, dem Unglück ebenfalls in letzter Minute entgangen?

Dreißig Minuten später hebt die Boeing 777-200 mit der Seriennummer 28420 und dem Kennzeichen 9M-MRO6 wie jede Nacht um die gleiche Zeit ab: um 00:40 Uhr, plus/minus ein oder zwei Minuten. Der Steigflug dauert 20 Minuten und scheint problemlos zu verlaufen. Um 1:01 hat die Maschine eine Reiseflughöhe von 35 000 Fuß erreicht. Die Flugbedingungen sind gut, um nicht zu sagen ideal. Die Verpflegung an Bord kann beginnen, auch wenn sie von den Passagieren dieses Fluges meist nicht wahrgenommen wird. Stattdessen versuchen sie möglichst viel Schlaf zu bekommen. Um 1:07 sendet das Flugzeug den ersten ACARS7-Bericht. Dabei werden in Echtzeit technische Daten der Maschine an Boeing im amerikanischen Chicago und an die Bodenstation von Malaysia Airlines übermittelt. Die Berichte werden in regelmäßigen Abständen gesendet, die von den Abmachungen mit der Fluggesellschaft abhängen. Im Fall von Malaysia Airlines betragen sie dreißig Minuten. Bei einigen Fluggesellschaften variiert das gewählte Intervall auch je nach Flugroute.

Alles läuft normal. Malaysia Airlines hat einen ausgezeichneten Ruf, was Service und Sicherheit anbelangt. Mit einem Durchschnittsalter von vier Jahren ist ihre Flotte sehr modern, auch wenn das Alter der Boeing von Flug MH370 mit zwölf Jahren darüberlag. Die Maschine wurde 2002 vom Werk geliefert und hatte zum Zeitpunkt ihres Verschwindens bereits 53 465 Betriebsstunden und 7525 Flüge hinter sich.

Ihr einziger offiziell erfasster Unfall ereignete sich im August 2012 am Boden, als die Maschine am Flughafen Shanghai-Pudong mit einem anderen Flugzeug kollidierte. Am 23. Februar 2014, also zwölf Tage vor der fraglichen Nacht, befand sich die Maschine für eine Wartung in den Hangars von Malaysia Airlines. Eine der ersten Mitteilungen, die die Fluggesellschaft nach dem Verschwinden der Maschine abgab, lautete: »Das Flugzeug wies keinerlei technische Mängel auf.« Die nächste Wartung war für den 19. Juni vorgesehen.

Nach einer Flugzeit von vierzig Minuten ist das Flugzeug dabei, den malaysischen Luftraum zu verlassen und in den vietnamesischen zu fliegen.8 Zu dieser Zeit verbleiben noch fünf Stunden bis zum geplanten Sinkflug auf Peking. Die Landung ist für 6:30 Uhr vorgesehen. Um 1:19 verabschiedet sich die Boeing von der malaysischen Flugsicherungszentrale, auch Luftverkehrskontrolle genannt, mit der Routinenachricht: »Gute Nacht, Malaysia drei sieben null.« Im Zuge der Ermittlungen wurden die Freunde und Familienangehörigen der beiden Piloten sowie ein Spezialist gebeten, die Stimmen des Funkverkehrs zwischen MH370 und der Luftverkehrskontrolle in Kuala Lumpur zu identifizieren. Heraus kam, dass die ersten Meldungen vor dem Take-off vom Ersten Offizier stammten, was bedeutet, dass der Flugkapitän oder verantwortliche Pilot (Pilot in Command, kurz PIC) am Steuer saß. Danach werden sie vom Flugkapitän durchgegeben, was wiederum bedeutet, dass der Co-Pilot die Maschine zum Zeitpunkt ihres Verschwindens flog. Die Stimme des Kapitäns ist ruhig und klingt keineswegs verdächtig. Das übliche Prozedere schreibt vor, dass die Maschine direkt nach dem Verlassen des malaysischen Luftraumes die vietnamesische Flugsicherungszentrale kontaktieren soll, für gewöhnlich mit einer Nachricht wie: »Ho-Chi-Minh Kontrolle, Malaysia drei sieben null, Flughöhe drei fünf null, guten Morgen.« Doch der Funkruf von MH370 bleibt aus. In den darauffolgenden Minuten wendet sich die Situation auf dramatische Weise ins Abnormale, Ungewisse und nie Dagewesene.

Um 1:20 Uhr, fünf Sekunden nachdem die Maschine den Wegpunkt IGARI, der Singapur zugewiesen ist,9 überflogen hat, und neunzig Sekunden nach der letzten Funknachricht wird der Transponder – das Hauptkommunikationsmittel zwischen Flugzeug und Luftverkehrskontrolle – ausgeschaltet. Oder er schaltet sich selbst aus. Der Knopf befindet sich zwischen den Sitzen der beiden Piloten. Ihn auszuschalten ist so einfach wie das Ein- oder Ausschalten eines Autoradios: eine Vierteldrehung in die eine oder in die andere Richtung. Den Transponder aber ausgerechnet zwischen zwei Flugverkehrszonen auszuschalten ist äußerst ungewöhnlich – und höchst verdächtig. Den Meldungen der malaysischen Behörden eine Woche später zufolge wendet sich das Flugzeug zunächst steuerbords und beginnt dann einen U-Turn nach Westsüdwest. Dann wird das ACARS-System (das automatisch die Übermittlung technischer Informationen kontrolliert) ebenfalls abgeschaltet. Oder es schaltet sich, auch hier, irgendwie selbst ab. Wie das zu bewerkstelligen ist, wird Piloten nicht einmal beigebracht, da es keinen vorstellbaren Grund oder eine vertretbare Erklärung dafür gibt, das ACARS-System abzuschalten, in welcher Situation auch immer. Doch auch wenn der Vorgang später als »kompliziert« beschrieben wird, ist er in Wahrheit nicht weiter schwer. Mit drei Klicks auf der Kommunikationsseite des Trackpads können die drei Übermittlungsmodi deaktiviert werden. Beide Aktionen – den Transponder auszuschalten und kurz darauf auch das ACARS-System – schließen auf den ersten Blick die häufigsten Szenarien aus, mit denen wir es bei Flugunglücken zu tun haben: technisches Versagen, erweiterter Suizid des Piloten oder eine Explosion an Bord der Maschine. Sie legen nahe, dass jemand auf eine Art und Weise die Kontrolle über die Maschine übernommen hat wie noch nie zuvor in der Geschichte der Luftfahrt.10

Nun ihres ACARS-Systems beraubt, sendet die Boeing keinerlei technische Daten mehr, die es durch die Satellitenübertragung möglich gemacht hätten, sie zu orten. Und so bleibt der ACARS-Bericht um 1:37 Uhr aus, ebenso wie der um 2:07. Führt das zu einem sofortigen Alarm bei Boeing, Rolls-Royce und Malaysia Airlines? »Notwendigerweise« ja, vermuten alle Sachverständigen, die nach dem Verschwinden der Maschine dazu befragt wurden. Doch weder von dem amerikanischen Flugzeugbauer Boeing noch von dem britischen Flugmotorenhersteller Rolls-Royce, diesen beiden Eckpfeilern der weltweiten Flugzeugindustrie, wird auch nur ein einziger Kommentar, eine Erklärung oder eine technische Einsicht kommen. Als der Air-France-Flug 447 im Jahr 2009 zwischen Rio de Janeiro und Paris abstürzte, konnte der Unfallort eingegrenzt werden, weil der Absturz durch die im letzten ACARS-Bericht enthaltenen Indikationen auf fünf Minuten genau bestimmt werden konnte.

Hatte also soeben eine perfekte Entführung stattgefunden, die keinerlei Spuren hinterlässt? Eine fast perfekte Entführung, um genau zu sein. Denn obwohl sie nicht länger Signale aussendet, erreicht die Maschine automatisch ein stummes elektromagnetisches Signal, genannt »Handshake-Ping«. Lediglich das Echo des Pings lässt Rückschlüsse darauf zu, ob es angekommen ist. Bis zu dieser außergewöhnlichen Situation waren Pings noch nie dafür verwendet worden, ein Flugzeug ausfindig zu machen. Um diese letzten Hinweise der Maschine auszuwerten und daraus ihre finale Flugroute herzuleiten, werden außerordentlich komplexe mathematische Hochrechnungen notwendig sein.

Wir wissen nicht, was nach der Nachricht »Gute Nacht, Malaysia drei sieben null« hoch oben an Bord von MH370 passiert ist. Auf dem Boden hingegen zeichnet sich der Beginn einer tragischen Pannenserie ab, die sich über wertvolle Stunden hinzieht und in deren Verlauf sich die Boeing in Luft auflöst.

Die Nachrichten, die zwischen den Flugsicherungszentralen Kuala Lumpur und Ho-Chi-Minh-Stadt aufgezeichnet wurden, spiegeln eine Reihe unglaublicher Fehler wider. Ab 1:20 Uhr weiß die vietnamesische Luftverkehrskontrolle, dass MH370 eigentlich in ihren Luftraum eintreten sollte. Doch sie wartet volle neunzehn Minuten, bis sie Kuala Lumpur über die eigenartige Stille des Kuala-Lumpur-Peking-Fluges in Kenntnis setzt. Dabei hätte sie binnen drei bis maximal vier Minuten reagieren müssen. Auch der Kontrollturm in Kuala Lumpur erhält in dieser Zeit keine Meldungen von der Maschine: MH370 ist nicht auf die lokale Frequenz zurückgekehrt.

Ungefähr um 1:30 Uhr gelingt es einem Piloten auf dem Weg nach Tokio, dessen Maschine sich theoretisch in der Nähe von MH370 hätte befinden müssen, auf Anweisung der vietnamesischen Luftverkehrskontrolle über die Notruffrequenz (121,5 MHz) eine Verbindung zu der Boeing herzustellen. Er fragt, ob die Piloten sich bei der vietnamesischen Luftverkehrskontrolle gemeldet haben.

»Die Verbindung war … konstant gestört … aber ich konnte am anderen Ende Gemurmel ausmachen«, berichtete der Pilot. »Danach wurde die Verbindung unterbrochen, und wir haben nichts mehr von ihnen gehört. Aber wenn die Maschine in Schwierigkeiten gewesen wäre, hätte der Pilot den Mayday-Notruf abgegeben. Ich bin mir sicher, dass auch kein anderer dort oben etwas in diese Richtung gehört hat«, erzählte er der malaysischen Zeitung The New Sunday Times am Tag darauf.

Die Verbindung wird unterbrochen, was nicht weiter ungewöhnlich ist. Der Pilot muss seinen Flug nach Japan fortsetzen und versucht es nicht erneut. Schließlich ist es sein Job, seine eigenen Passagiere sicher ans Ziel zu bringen. Verschiedene Ermittler, die versucht haben einzugrenzen, welche Flugzeuge sich in den letzten Momenten von MH370 seiner Nähe befanden, gaben an, es könnte der Pilot von Flug MH88 oder JL750 gewesen sein. Die Gesprächsfetzen hoch oben in der Luft wurden nicht öffentlich gemacht, obwohl dem Piloten zufolge – der seine Zeugenaussage anonym abgegeben hat – alle anderen Flugzeuge und Schiffe in der Nähe sie gehört haben mussten. Im vorläufigen Bericht heißt es außerdem, dass Ho-Chi-Minh-Stadt um 1:54 Uhr die Piloten von Flug MH386 auf dem Weg von Shanghai nach Kuala Lumpur auffordert, Kontakt mit MH370 aufzunehmen. Einzelheiten dazu gibt es keine. In der offiziellen Stellungnahme der Flugdienstleitung, die von der Royal Malaysian Police dokumentiert wurde, wird erwähnt, dass auch Flug MH52 gebeten wurde, mit der vermissten Maschine Kontakt aufzunehmen. Sowohl die Piloten von MH52 als auch MH88 wurden von der Polizei befragt. Ihren Aussagen zufolge haben sie es wiederholt versucht, konnten jedoch keine Funkverbindung zu MH370 herstellen.

Um 1:46 Uhr berichtet Ho-Chi-Minh-Stadt Kuala Lumpur, dass die Maschine vom Radar verschwunden ist, kurz nachdem sie laut geplanter Flugroute den nächsten 37 Seemeilen (etwa 68,5 Kilometer) entfernten Wegpunkt BITOD11 überfliegen sollte. Nach einigem erfolglosen Hin und Her zwischen den Kontrolltürmen der benachbarten Lufträume informiert die Luftverkehrskontrolle Kuala Lumpur die vietnamesischen Kollegen um 2:03 Uhr, dass die Kontrollzentrale von Malaysia Airlines das Flugzeug geortet habe … und zwar über Kambodscha. Gute Nachrichten, doch sie muten auch ein bisschen seltsam an. Warum sollte MH370 von seiner geplanten Flugroute abweichen, ohne die zuständige Flugsicherungszentrale zu informieren? Und was macht die Maschine über Kambodscha? Ho-Chi-Minh fragt nach. Eine halbe Stunde später, um 2:37 Uhr, sendet die Kontrollzentrale von Malaysia Airlines den vietnamesischen Fluglotsen, die berechtigterweise ihre Zweifel haben, die Koordinaten der angeblichen neuen Position der Boeing im Luftraum über Kambodscha. Nun wird die Maschine um 2:39 via Satellitentelefon angerufen. Ohne Erfolg. Und wieder stellt sich die Frage, warum so lange gewartet wurde. Etwa eine Stunde später widerruft die Kontrollzentrale von Malaysia Airlines ihre Angaben. Der Positionsbericht über Kambodscha hätte auf einer »Prognose« beruht und nicht auf einer tatsächlichen Positionsbestimmung des Flugzeugs. Mit anderen Worten: Keiner – weder die Fluggesellschaft noch die Luftverkehrskontrollen, noch irgendjemand sonst – weiß, wo MH370 ist.

Das Flugzeug ist also im Grunde genommen seit zwei Stunden und zehn Minuten irgendwo zwischen zwei zögerlich operierenden und ratlosen Kontrolltürmen, die von den falschen Hinweisen der Kontrollzentrale ihrer eigenen Fluggesellschaft verwirrt wurden, verschwunden. Nun versuchen die Vietnamesen Hongkong und die chinesische Insel Hainan zu kontaktieren, um nachzufragen, ob sie zufällig das vermisste Flugzeug vorbeifliegen sahen.

Zwei Wochen später stellt sich dank einer Radaraufnahme aus Thailand heraus, dass sich die Maschine um 2:22 Uhr bereits im Nordosten von Sumatra (Indonesien), also auf der anderen Seite von Malaysia befindet. Sie hat ihre Route radikal geändert und ist offensichtlich von ihrem vorgesehenen Ziel abgewichen. Warum? Wo fliegt sie hin?

Erst um 5:30 Uhr, eine Stunde vor der vorgesehenen Ankunftszeit, schlägt Malaysia Airlines offiziell Alarm.

Am Flughafen von Peking zeigt die Hauptanzeigetafel in der Wartehalle Flug MH370 als »verspätet« an. Sowohl in Kuala Lumpur als auch in Peking werden die Menschen langsam ungeduldig: Weder haben sie die übliche Nachricht »in Peking angekommen« erhalten noch irgendeine Antwort von einem Handy. Als zur vorgesehenen Ankunftszeit niemand aus der Ankunftshalle kommt, macht sich langsam Unruhe breit. Um 7:24 Uhr, eine Stunde nach der vorgesehenen Ankunftszeit in Peking, gibt Malaysia Airlines eine ausweichende Presseerklärung ab und verkündet, dass die Flugsicherungszentrale Subang am heutigen Tag, dem 8. März, um 2:40 Uhr den Kontakt zu MH370 verloren habe. Die wartenden Familienangehörigen und Freunde der 239 vermissten Personen an Bord reagieren entsetzt und panisch. Für sie beginnt ein endloses Martyrium. Nicht der Kontakt ging verloren, sondern ein komplettes Passagierflugzeug.

Viele Monate lang werden so gut wie keine der entscheidenden Einzelheiten über die Route bekannt, die die Maschine tatsächlich zwischen ihrem letzten Funkkontakt mit der malaysischen Luftverkehrskontrolle und ihrem Auftauchen auf dem thailändischen Militärradar um 2:22 Uhr genommen hatte. Über Wochen, Monate und Jahre wurden die Details wie bei einem Puzzlespiel durch Herumprobieren und im Licht immer neuer, sparsam und tröpfchenweise veröffentlichter Informationen zusammengefügt, die größtenteils in einem Meer falscher oder ungenauer Daten untergingen.

Der erste Zwischenbericht, datiert auf den 1. Mai 2014, gab nur sehr wenig Aufschluss. »Selbst wenn dir das Portemonnaie geklaut wird, bekommst du einen längeren Bericht als das hier«, erklärte der Bruder einer chinesischen Passagierin mir empört. Im Laufe der folgenden Jahre wurde in mehreren Berichten und einigen Studien der australischen Verkehrssicherheitsbehörde ATSB (Australian Transport Safety Bureau) versucht, die bekannten Fakten kohärent zusammenzubringen. Dabei stellten jedoch verschiedene unabhängige und von dem Fall faszinierte Experten, mit denen ich regelmäßig in Kontakt stand, fest, dass sich selbst in die offiziellen Berichte, auf die sich die Rekonstruktion der letzten Stunden des Fluges stützt, Fehler, Widersprüche und Fehlinformationen geschlichen hatten.

Es dauerte ganze zwei Jahre, bis ich zum ersten Mal die vielen Mängel und Unstimmigkeiten in der offiziellen Version der Geschichte entdeckte, und weitere drei Jahre, in denen ich mit Zeugen sprach und nach Spuren suchte – auch den Spuren verwischter Spuren –, um eine plausiblere Erklärung für das zu finden, was in dieser Nacht wirklich geschah.