1.png

o

Eisige Kälte

Maron Fuchs

o

Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - papierfresserchen.de

© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2015.

Lektorat: Melanie Wittmann

Titelbild: Maron Fuchs

Herstellung: CAT creativ - cat-creativ.at

ISBN: 978-3-86196-364-6 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-528-0 - E-Book

*

Inhalt

Nichts außer Dunkelheit

Die beiden Fremden

Klein, kleiner, Pirk

Ein richtiger Mistkerl

Einfach kompliziert

Ungewollte Bindungen

Wahre Stärke

Erschreckende Wahrheiten

Freundschaft

Ein schlagendes Herz

Ein fälliges Gespräch

Der nötige Rückhalt

Rendezvous mit Folgen

Wahre Liebe

Die richtigen Worte

Im Albtraum gefangen

*

Für die wohl cleverste, wunderbarste, liebevollste und coolste Frau, die ich jemals kennenlernen durfte: meine Mutter Martina. Danke für deine Unterstützung und dein Vertrauen. Ich hab dich sehr, sehr lieb.

*

Nichts außer Dunkelheit

Bitte schau nicht her. Mach die Augen zu und denk an etwas Schönes. Ich will nicht, dass auch du diese hässliche, bösartige Welt erlebst. Versteck dich hinter mir. Und sieh weg.

Mit großen, angsterfüllten Augen blickte meine kleine Schwester mich an. „Geh nicht!“, flehte sie. „Lass mich nicht allein!“

Ich nahm das achtjährige Mädchen sanft in meine Arme. „Ganz ruhig, Nele. Ich bin gleich wieder da. Hab keine Angst. Warte hier und alles wird gut.“

Wir saßen nebeneinander in unserem gemeinsamen Zimmer auf meinem alten, schäbigen Bett, das direkt neben Neles stand. Eigentlich brauchte meine kleine Schwester kein eigenes Bett, sie schlief sowieso jede Nacht bei mir. Und das konnte ich ihr nicht verdenken bei den vielen Albträumen und Ängsten, die sie Nacht für Nacht auszustehen hatte.

Der Raum war nicht groß, doch ich war dankbar dafür, dass wir ihn hatten. Eine Fluchtmöglichkeit. Einen Rückzugsort. Jedenfalls tagsüber.

Die Mittagssonne schien durch das große Fenster herein und erhellte das Zimmer. Ich war gerade erst von der Schule gekommen und hatte mich auf das nun bevorstehende Wochenende gefreut. Dabei gab es überhaupt keinen Grund, sich auf irgendetwas zu freuen. Jedenfalls nicht in diesem Haus.

Nele schüttelte heftig den Kopf, ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare fielen ihr dabei ins Gesicht. „Bitte, Lara, bitte geh nicht!“

Ein lauter, hoher Schrei drang gedämpft zu uns vor. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und drückte Nele fester an mich; egal wie oft ich diese Schmerzensschreie hörte, mir drehte sich jedes Mal wieder der Magen dabei um. Und meiner kleinen Schwester ging es offensichtlich nicht anders.

„Nele, ich muss“, flüsterte ich und zog meinen MP3-Player aus der Tasche meiner abgetragenen Jeans. „Bleib in unserem Zimmer, schau aus dem Fenster und hör Musik, dann ist es ganz schnell vorbei, ja?“

Sie schniefte. „Versprochen?“

Ich strich ihr durchs Haar. „Versprochen“, antwortete ich und steckte ihr die Kopfhörer in die Ohren.

Dieser MP3-Player war mein einziger und wichtigster Besitz. Ohne ihn und die beruhigenden Lieder darauf hätte ich meine Schwester nicht vor dem bewahren können, was außerhalb dieses Zimmers vor sich ging.

Ich drehte die Lautstärke so weit auf wie möglich und drückte auf Play. Jetzt würde Nele nichts von den Geschehnissen vor dieser Zimmertür mitbekommen. Hoffentlich.

Wieder hörte ich einen Schrei, dann brüllte eine andere tiefere Stimme: „Das hast du davon, du Miststück!“

„Bitte, nein, nicht!“, wimmerte die helle Stimme wieder.

Ich schluckte schwer und ballte die Hände zu Fäusten. „Ruhe bewahren“, sagte ich mir. „Nicht ausrasten.“ Langsam stand ich vom Bett auf und drückte Neles Hand noch mal fest. Ich lächelte die Kleine aufmunternd an, ihre graugrünen Augen musterten mich besorgt. Dann ging ich zur Tür, auch wenn ich wusste, dass ich sie nicht allein lassen sollte. Aber ich konnte unmöglich nur im Zimmer warten, bis alles vorbei war.

Mit zitternden Fingern strich ich mir eine hellbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. Bevor ich den Raum verließ, nahm ich das Telefon, das sich auf meinem alten, viel zu niedrigen Schreibtisch befand, und wählte die Nummer des Notarztes. Sie lag sowieso auf der Taste für die Wahlwiederholung. Nach dem zweiten Läuten hob jemand ab. „Notrufzentrale“, meldete sich eine Frauenstimme. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Larissa Kurz“, stellte ich mich vor. „Wir brauchen dringend einen Krankenwagen in der Fichtestraße 13, bitte beeilen Sie sich.“

„Bewahren Sie Ruhe“, rasselte die Frau den Standardsatz runter. „Was ist denn genau passiert?“

Wie oft hatte ich dieses Gespräch eigentlich schon geführt? Mindestens einmal die Woche. Langsam sollten die Leute in der Notrufzentrale bei meinem Namen schon wissen, was los war.

„Etwas Schlimmes“, antwortete ich nur und legte auf. Mehr Zeit konnte ich nicht verschwenden, im Gegenteil, ich musste vielmehr Zeit schinden, bis der Notarzt kam.

Mit leisen Schritten verließ ich das Zimmer. Nele blickte mir ängstlich nach, bis ich die Tür geschlossen hatte. Es tat richtig weh, die Kleine kurz allein lassen zu müssen, aber es ging nicht anders.

Der Flur und das Treppenhaus, vor dem ich stand, wirkten viel düsterer als das Zimmer, in dem ich bis eben noch gesessen hatte. Und die bisher gedämpften Stimmen klangen nun ganz nah. Genau genommen waren sie etwa fünf Schritte von mir entfernt.

Eine Frau, Mitte 40, mit dunkelbraunen Haaren und angstvoll aufgerissenen Augen stand auf dem Flur, direkt vor der Treppe zum Erdgeschoss. Ihr Make-up war von ihren Tränen völlig verschmiert worden, alte Prellungen zeigten sich überall in ihrem Gesicht und ihr linkes Auge war angeschwollen. Sie zitterte am ganzen Körper und vom T-Shirt, das nur knapp bis zur Jeans reichte, war der linke Ärmel abgerissen.

Ein Mann, etwa im selben Alter, hielt sie am Oberarm gepackt. Sein schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, er wirkte ungewaschen, wie immer. Wobei er manchmal erschreckend gut aussehen konnte, schließlich war er ziemlich groß, muskulös und hatte ein freundliches Lächeln. Wenn er denn lächeln wollte, was zu Hause natürlich nie der Fall war. Außerdem wusste ich, dass dieser Teufel nichts Freundliches an sich hatte.

Jetzt stand ihm sein Jähzorn ins Gesicht geschrieben und die Alkoholfahne aus seinem Mund roch ich sogar aus der Entfernung. Wobei es sowieso im ganzen Haus nach Alkohol und Nikotin stank. Schließlich tat dieser Mistkerl nichts anderes als saufen, rauchen und schlagen. Ich seufzte leise bei dem Anblick und betrachtete traurig die Frau. Ich hasste diese Situationen. Und ich hasste es, dass sie immer öfter vorkamen.

Bevor ich mich zu Wort melden konnte, um den Mann am nächsten Schlag zu hindern, drehte er sich zu mir um. Er grinste und entblößte dabei seine gelblichen Zähne. „Engelchen, solltest du nicht lieber in dein Zimmer gehen?“

Wie ich es hasste, wenn er mich so nannte ...

„Gilbert, lass Saskia los“, verlangte ich mit ruhiger Stimme. „Ich finde, für heute hast du sie genug verprügelt. Sie kann ja kaum noch stehen.“

„Halt dich da raus“, zischte er und fixierte mich wütend. Seine dunkelgrünen Augen verengten sich zu Schlitzen. „Oder du bist die Nächste.“

Ich schluckte unmerklich. „Ich war ja wohl schon gestern dran“, antwortete ich bitter und blickte auf meine Arme, die von blauen Flecken bedeckt waren.

Dank Gilbert konnte ich außerhalb dieses Hauses nie kurze Hosen oder T-Shirts anziehen, ohne dass jemand die vielen Verletzungen sehen würde. Gut, jetzt im Winter wollte ich in der Schule keine kurzen Klamotten tragen, aber selbst im Sommer musste ich in Jeans und Pullover herumlaufen.

Er wandte sich wieder seiner Frau zu, mich ließ er links liegen.

Hätte Saskia dieses Schwein doch nur nie geheiratet! Aber er hatte es schlau angestellt, er hatte seine brutale Seite erst nach der Hochzeit gezeigt, vor ungefähr vier Jahren. Da hatte er seine Frau zum ersten Mal verprügelt. Und jetzt schimpfte er sich Neles und mein Stiefvater.

„Lara“, wimmerte Saskia. „Es ist schon gut ... es war meine Schuld ...“

Ich schnaubte verächtlich. „Was hast du denn diesmal getan? Ihm das Bier nicht schnell genug gebracht?“

Abrupt wirbelte Gilbert zu mir herum und fixierte mich. In seinem Blick lag eine kranke Mischung aus Wut und Lust, die mich innerlich erschaudern ließ und unangenehme Erinnerungen hervorrief.

Mit eiskalter Miene erwiderte ich diesen Blick, ohne mir eine Reaktion anmerken zu lassen. Denn es gab drei Dinge, die man in Gilberts Nähe auf keinen Fall tun durfte, wenn man an seinem Leben hing: Angst zeigen, nachgeben und ihm den Rücken zukehren. Er liebte es, wenn er Saskia und mich zum Weinen brachte und er uns die Panik ansah, das hatte ich schon vor drei Jahren begriffen. Seitdem bemühte ich mich sehr darum, ihm nicht zu geben, was er wollte.

„Verschwinde, Engelchen“, befahl er in schneidendem Tonfall. „Sofort.“

„Damit du Saskia noch umbringst? Lieber nicht“, entgegnete ich. Meine Stimme klang nicht so kalt, wie sie sollte. „Dafür hänge ich doch zu sehr an ihr.“

Saskia war Neles Mutter und meine Adoptivmutter. Sie hatte mich vor über 17 Jahren adoptiert, kurz nach meiner Geburt eben. Und sie hatte mir von Anfang an gesagt, dass ich nicht ihre leibliche Tochter sei. Doch ich hatte mich bei ihr und ihrem Mann Wolfgang – Neles Vater – immer wohlgefühlt. Bis Wolfgang diesen schrecklichen Unfall gehabt hatte und gestorben war. Von da an war alles schiefgegangen.

Gilbert belächelte mich nur. „Sei ein braves Mädchen und geh in dein Zimmer. Sofort.“

Ich schüttelte den Kopf, sodass ich meine offenen Haare durcheinanderbrachte und sie mir wieder aus dem Gesicht streichen musste. „Nein. Aber bitte tu mir den Gefallen und gib mir Bescheid, bevor du Saskia das nächste Mal verprügeln willst. Dann kann ich den Notarzt rechtzeitig anrufen.“ Meine Worte klangen nicht mal sarkastisch, sondern nur verbittert. Genau wie ich mich fühlte.

Saskia hatte Gilbert vor ziemlich genau fünf Jahren kennengelernt, im Januar 2009. Die beiden hatten schnell geheiratet, und Saskia hatte endlich wieder aus vollem Herzen gelacht. Ich war damals zwölf gewesen und ich hatte mich so für sie gefreut. Doch nach der Hochzeit hatte er plötzlich seinen Job bei der Schlosserfirma gekündigt, sich bei uns eingenistet und meine Mutter dazu gezwungen, ihn auszuhalten.

Wütend starrte mein Stiefvater mich an. „Du solltest dich etwas zurückhalten, wenn dir wirklich was an deiner Mutter liegt!“

Er wusste nicht, dass ich adoptiert war, und das sollte auch so bleiben. Ich wollte nicht, dass er mich allzu gut kannte. Es reichte schon völlig, was er mir antat. Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. „Ich stehe hier, weil mir etwas an ihr liegt.“

Er fuhr sich durch sein dunkles Haar. „Sie ist doch selbst schuld.“

Klar, so lief das immer ab. Er schlug sie zusammen – oder mich – und meine Adoptivmutter deckte ihn. Sie hatte ihn noch nie angezeigt und mich immer wieder dazu überredet, es auch nicht zu tun. Denn sie liebte ihn so sehr, und die ganze Schuld lag bei ihr, weil sie ihn immer wieder verärgerte. Und jedes Mal sprach Saskia davon, dass alles besser werden würde, wenn wir uns nur mehr Mühe gäben, eine richtige Familie zu sein. Wenn ich mich Gilbert gegenüber besser benehmen würde.

Pah. In fünf Monaten, im Juni, würde ich 18 werden. Dann konnte ich mit Nele von hier verschwinden. Doch bis dahin musste ich noch mitspielen, zumal meine größte Angst war, dass meine kleine Schwester in ein Kinderheim musste, sollte ich die Polizei einschalten.

Mit langsamen Schritten ging ich näher zu Saskia und Gilbert. Dabei hielt ich mich an meine dritte goldene Regel, ihm niemals den Rücken zuzukehren. Nun stand ich direkt neben den beiden. „Lass sie los“, verlangte ich wieder. „Du hast heute schon genug getan. Ihre Nase ist gebrochen, ihr Auge wird wochenlang blau sein und ... ist das ein Zahn, den du ihr ausgeschlagen hast?!“ Für einen Augenblick gewann der Schock die Oberhand, doch dann riss ich mich wieder zusammen. Dieser miese Teufel ...

„Weißt du was?“, fragte Gilbert beunruhigend lächelnd und verstärkte seinen Griff um Saskias Oberarm. „Du hast recht. Mit ihr bin ich fertig. Jetzt bist du dran!“

„Lass deine Finger von mir!“, schrie ich, als er seine freie Hand nach mir ausstreckte. „Du stinkender Säufer!“ Inzwischen konnte ich einfach keine Ruhe mehr bewahren. Mein Hass kroch immer wieder hoch, egal wie sehr ich versuchte, mich zusammenzureißen.

Seinetwegen ging hier alles schief. Seinetwegen bestand mein Leben nur noch darin, meine kleine Schwester vor ihm zu beschützen. Seinetwegen waren wir ständig knapp bei Kasse, denn er versoff all unser Geld und nahm nur im allergrößten Notfall einen Job an. Seinetwegen gab es bei uns kaum etwas zu essen. Seinetwegen konnte ich keine richtigen Freunde finden, weil ich alles dafür tun musste, um nicht aufzufallen.

Seinetwegen lebte ich in ständiger Angst vor dem Tod und vor dem Jugendamt, denn sollte einem meiner Lehrer oder unseren Nachbarn doch mal auffallen, was hier vor sich ging, dürfte Saskia Nele und mich nicht behalten. Und ich wollte auf keinen Fall, dass meine kleine Schwester ins Heim kam. Für mich gab es sowieso kaum noch Perspektiven, aber wenigstens sie sollte ein anständiges Leben führen können.

„Du bist zu weit gegangen, Engelchen!“, brüllte Gilbert und trat noch einen Schritt auf mich zu.

Von oben blickte er auf mich herab, sein stinkender Atem streifte meine Haut. Mir drehte sich beinahe der Magen um, doch ich zwang mich, seinen Blick zu erwidern.

„Das sollte ich dir sagen!“, fauchte ich.

Dafür erntete ich eine Faust im Gesicht. So fest wie möglich biss ich mir auf die Zunge, um nicht zu schreien. Ich würde diesem Mistkerl nicht geben, was er wollte. Niemals. Ein dumpfer Schmerz pochte in meiner linken Gesichtshälfte. Das würde ein blaues Auge geben. Mal wieder.

„Hast du genug, du kleine Streberin?“, fragte er.

Streberin. Nur weil ich durch stures Lernen gute Noten schrieb. Was blieb mir denn anderes übrig? Solange ich lernte, hatte ich eine Ausrede, nicht zu Hause zu sein. Ich konnte mich mit Nele in die Bücherei zurückziehen, so waren wir beide vor Gilberts Temperament in Sicherheit. Dank meiner guten Noten konnte ich auch hin und wieder Nachhilfe geben und mir etwas Geld dazuverdienen. Jedenfalls, wenn Gilbert es nicht merkte und mir mein Gehalt wieder abnahm, was viel zu häufig passierte.

„Von dir?“, entgegnete ich. „Schon lange.“

Offensichtlich unterdrückte er einen Wutausbruch, stattdessen grinste er. „Ich sollte mich wohl doch mal an deiner kleinen Schwester für dein Benehmen rächen, was?“

Unwillkürlich weiteten sich meine Augen. Alles, nur das nicht. Gilbert wusste genau, dass Nele meine Schwachstelle war. Und er nutzte es schamlos aus. Voller Hass blickte ich ihn an. „Leg dich mit jemandem in deiner Größe an!“

„In meiner Größe gibt’s hier niemanden“, lachte er.

Nur weil er mit seinen 1,90 Meter einen Kopf größer war als Saskia, und auch etwas größer als ich. Wobei ich fand, dass ich mit meinen 1,78 Metern nicht gerade klein war. Aber ein hochgewachsenes, unterernährtes Mädchen mit herausstehenden Hüft- und Rippenknochen machte ihm natürlich keine Angst.

„Das wird mich nicht aufhalten, dir ins Gesicht zu spucken“, drohte ich. Er ließ Saskia immer noch nicht los. Hoffentlich kam der Notarzt bald ...

„Das würde ich dir nicht empfehlen, Engelchen“, sagte er mit samtweicher Stimme und strich mir mit seiner freien Hand durchs Haar.

Ich unterdrückte den Brechreiz, der bei seiner Berührung in mir aufkam. Der schmale Flur wirkte in diesem Moment noch enger auf mich als sonst. „Lass Saskia endlich los!“

„Oder was?“, fragte er und fuhr mit seinen Fingerspitzen weiter über meine Wange.

Kaum merklich zuckte ich zusammen; es tat weh, als er über die Stelle strich, die er gerade erst geschlagen hatte. Auch wenn er mich nur leicht berührte, der Schlag hatte gesessen.

„Oder ich rufe die Polizei“, bluffte ich.

Seine Hand wanderte tiefer, über meinen Hals und mein Schlüsselbein. „Das wirst du nicht“, antwortete er grinsend. „Und das wissen wir beide.“

„Wenn du nicht sofort aufhörst und uns für heute in Ruhe lässt, werde ich das tun“, drohte ich unbeirrt weiter. Ich ballte die Hände zu Fäusten und bemühte mich, so still zu stehen wie eine Statue. „Egal, was Gilbert tut, keine Reaktion zeigen“, sagte ich mir und dachte an etwas Schönes. Ich dachte an Nele und daran, wie ich mit ihr draußen durch den Schnee spazierte und mit ihr einen Schneemann baute. Das sollte ich heute Nachmittag vielleicht wirklich machen.

„Ich bin aber noch nicht fertig für heute“, entgegnete er und strich über meine Brust, wo seine Hand verharrte, wie ich befürchtet hatte.

„Nimm deine Finger weg“, forderte ich.

„Vielleicht sollte ich dir einfach heute Nacht einen kleinen Besuch abstatten“, überlegte er und fixierte mich mit seinen dunkelgrünen Augen.

Ich verdrängte die Bilder, die vor meinem inneren Auge erschienen. Und ich unterdrückte die Enttäuschung darüber, dass meine Adoptivmutter kein Wort des Protests von sich gab. Gut, vielleicht war sie inzwischen auch schon halb bewusstlos, aber auch sonst nahm sie mich nie in Schutz. Sie deckte immer nur Gilbert. Weil sie ihn ja so liebte. „Das wagst du nicht“, zischte ich. „Nicht schon wieder!“

Er grinste dreckig. „Worum wollen wir wetten?“

Ich atmete ein paarmal tief durch, dann umfasste ich sein Handgelenk und zog seine widerlichen Finger von meiner Brust weg. Doch das hätte ich besser nicht getan. Nun riss sein Geduldsfaden und sein Jähzorn flammte wieder auf.

„Ich bestimme hier, wo ich meine Hände habe! Ich allein!“, schrie er und rammte mir die Faust in die Magengrube.

Sofort würgte ich und krümmte mich. „Mist“, keuchte ich.

„So, Engelchen, jetzt bist du fällig!“, brüllte er und packte mich am Nacken.

Ich zog die Schultern hoch und warf den Kopf zurück. Gilberts Griff tat so schrecklich weh, zumal er auf ein Hämatom von vorgestern drückte. Gegen meinen Willen schrie ich auf.

„Nein, Gil, hör auf!“, flehte da eine schwache Stimme.

Überrascht blinzelte ich. Versuchte Saskia gerade wirklich, mich in Schutz zu nehmen? Das ... war eine Premiere.

Auch ihr Mann starrte sie fassungslos an. „Was?!“

Saskias dunkle Augen ruhten auf ihm. „Bitte, tu ihr nicht weh!“

Tatsächlich löste sich sein Griff um meinen Nacken. „Schnauze!“, rief er und drehte sich zu ihr um.

Ich nutzte diesen wertvollen Moment, um meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen und tief durchzuatmen. Gleich müsste der Notarzt eintreffen. Vorsichtig legte ich meine Hand in den Nacken und strich über die schmerzende Haut. Wenn es doch nur nicht so lange dauern würde, bis blaue Flecken und andere Verletzungen verheilten. Wenn ich an den gebrochenen Arm letztes Jahr dachte oder an die Schnittwunde am Unterschenkel. Ganz zu schweigen von der Brandnarbe am Oberschenkel und manch andere Sachen. Da riss mich ein lauter Schrei aus meinen Gedanken. Gilbert hatte Saskia ins Gesicht geschlagen.

„Du gibst mir ganz bestimmt keine Befehle!“, brüllte er sie an. „Du nicht!“

„Gil, es tut mir so leid, es tut mir leid!“, wimmerte sie.

„Das sollte es auch, Miststück!“

Vor lauter Aufregung ballte ich meine zitternden Finger zu Fäusten, mit rechts klemmte ich dabei den unteren Rand meines T-Shirts ein. „Lass! Sie! Los!“, knurrte ich, erstaunt darüber, wie bedrohlich meine Stimme klang. „Sofort!“

Da grinste er mich an. „Ich soll sie loslassen?“, wiederholte er. „Gerne.“

Verdutzt musterte ich ihn. Seiner plötzlichen Zustimmung traute ich nicht über den Weg. Außerdem bedeutete sein Grinsen nie etwas Gutes. Es ging so schnell, dass ich nichts tun konnte. Gilbert schubste Saskia mit aller Kraft von sich weg. Und sie fiel. Die Treppe runter, Stufe für Stufe, sie schrie und es polterte fürchterlich.

„Mama!“, schrie ich schockiert. Wirklich schockiert, denn ich hatte sie seit ihrer Hochzeit mit diesem Teufel nicht mehr so genannt. Seitdem war sie nur noch Saskia für mich gewesen.

Gilberts hämisches Lachen mischte sich mit dem Poltern. Ängstlich sah ich zwischen meiner Adoptivmutter und Gilbert hin und her, unschlüssig, was ich tun sollte. Doch diese Entscheidung wurde mir von einem markerschütternden Geräusch abgenommen. Einem Knacken. Wie hypnotisiert starrte ich die Treppe runter. Da unten im Erdgeschoss lag Saskias schlanker Körper, schlaff und bewegungslos, mit weit aufgerissenen Augen, die mich blind ansahen.

Dieses Knacken ... ihr Genick ... wie sie dalag ...

„Tot“, echote es in meinem Kopf. „Tot, tot, tot, sie ist tot. Sie ist tot. Sie wird nie wieder aufstehen. Sie ist tot!“

„Mörder!“, schrie ich hysterisch und trommelte mit den Fäusten gegen Gilberts Brust. „Du hast sie umgebracht! Du Arschloch! Sie ist tot!“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Fassungslosigkeit in brennende Wut verwandelte. „Halt’s Maul!“, brüllte er und packte meine beiden Handgelenke.

Heftig schüttelte ich den Kopf, meine hellbraunen Haarsträhnen peitschten dem Mistkerl dabei ins Gesicht. „Nein! Das wirst du bereuen!“ Er starrte mich finster an. Blanke Verzweiflung, Hass und Trauer erfüllten mich, lähmten mich. Da spürte ich, dass mir gleich die Tränen kommen würden. Es schüttelte mich und mein ganzer Körper zitterte. Ich durfte nicht weinen! Nicht jetzt und hier, nicht vor Gilbert, der nur darauf wartete. „Ich bring dich um“, zischte ich. „Ich bring dich um, du Teufel!“

Er lachte verächtlich. „Oh nein, Engelchen.“ Da ließ er meine Handgelenke los und schlang seine Arme um mich. Er zog mich an seinen Körper, so fest, dass ich mich weder bewegen noch richtig atmen konnte. Sofort zitterte ich vor Angst. „Du kannst mir gar nichts tun“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Nimm deine Finger von mir, du Mörder!“, rief ich gegen seine Brust.

Er lockerte die abstoßende Umarmung und spielte mit meiner Haarsträhne zwischen seinen Fingern. „Du wirst für jede Beleidigung büßen, genau wie deine Mutter für ihr Benehmen büßen musste.“

„Sie hat dir nie was getan!“, schrie ich verzweifelt.

Er verengte seine Augen zu Schlitzen. „Das sehe ich anders.“

Voller Wut holte ich mit dem rechten Arm aus, um diesen Mistkerl zu schlagen. Doch noch in der Bewegung packte er mich und stieß mich weg, genau wie er es zuvor bei Saskia getan hatte.

Für eine Sekunde fühlte ich mich geradezu schwerelos. Aber dann fiel ich. Der Schmerz fuhr mir durch die Glieder, durch jedes einzelne. Ich wollte schreien, doch noch bevor ich das konnte, wurde mir schwarz vor Augen. „Nele“, schoss es mir durch den Kopf. „Dieser Teufel darf Nele nichts tun!“ Aber da wurde ich schon bewusstlos.

„Lara? Lara?“ Jemand rüttelte mich sanft. „Lara!“

Ich keuchte leise; mir tat alles weh.

„Lara! Lara!“

Langsam atmete ich ein, dann aus. Ich spürte, dass ich auf einem Bett lag. Aber es fühlte sich so weich an ... Das konnte unmöglich mein Bett zu Hause sein. Wo war ich?

„Lara!“ Die schwache Stimme wurde zu einem Schluchzen. „Laaaraaa!“

Mühsam schlug ich die Augen auf und schloss sie gleich wieder geblendet. Ein künstliches Licht erhellte den Raum und machte es mir schwer, mich umzusehen. Erst nach ein paar Sekunden gewöhnte ich mich daran. Ich blickte in wohlbekannte große graugrüne Augen, die mich besorgt und ängstlich musterten. „Nele“, flüsterte ich erleichtert. Meine kleine Schwester saß neben mir auf dem großen Bett, ich lag zugedeckt darauf.

Sofort umarmte sie mich fest. „Lara!“, schluchzte sie.

Wieder keuchte ich auf. Mein Körper musste ein Wrack sein, noch mehr als sonst. Denn jede Berührung schmerzte, und bewegen konnte ich mich gar nicht, geschweige denn, mich aufrecht hinsetzen. Trotz aller Schmerzen gelang es mir, einen Arm unter der Bettdecke hervorzuziehen und durch Neles dunkelbraunes Haar zu streichen. „Alles ist gut, Schwesterchen“, murmelte ich beruhigend.

Nach und nach dämmerte mir, was passiert sein musste, nachdem ich in Ohnmacht gefallen war. Der Notarzt war gekommen und hatte mich ins Krankenhaus gebracht. Dort lag ich nun in einem Zimmer, allein, außer Nele befand sich niemand sonst im Raum.

Draußen war es dunkel, also musste es mindestens fünf Uhr nachmittags sein, wenn nicht noch später. Im Winter ließ sich die Zeit an der Helligkeit nur schwer bestimmen.

„Wie spät ist es?“, fragte ich meine kleine Schwester. Ich musste einfach wissen, was los war. „Und was ist passiert?“

„Es ist gleich sieben“, antwortete sie.

Ich war fast sechs Stunden bewusstlos gewesen? Wahnsinn ...

„Heute Mittag sind ganz viele Leute zu uns gekommen!“, fuhr sie fort. „Alle vom Krankenhaus! Und sie haben dich mitgenommen, und Mama auch, und mich. Gilbert haben andere Leute abgeholt, von der Polizei ...“

Oh Gott. Saskia. Das gebrochene Genick. Mit einem Schaudern fiel mir alles wieder ein. Wie sollte ich Nele nur erklären, was mit ihrer Mutter geschehen war? Oder hatte das schon jemand getan? Aber immerhin war Gilbert festgenommen worden. Doch was nun? Wie sollte es weitergehen? Beinahe hätte mir die Verzweiflung Tränen in die Augen getrieben, doch das ließ ich nicht zu. Ich wollte nicht weinen. Ich durfte es nicht. „Wie geht’s dir denn?“, erkundigte ich mich und streichelte meiner Schwester über die Wange. „Du hast bestimmt Hunger, oder?“ Seit dem Müsli heute Morgen hatten wir nämlich nichts mehr gegessen.

Die Kleine strahlte mich an. „Die nette Frau hier hat mir was zu essen gemacht! Und mir einen Saft gegeben!“ Bestimmt redete sie von einer Krankenschwester. Ein Glück, dass Nele versorgt worden war. Ich würde gerade keinen Bissen herunterbekommen. „Hast du arge Schmerzen?“, wollte sie dann wissen und sah mich besorgt an. „Ach, ich komm schon klar“, beruhigte ich sie. Dass ich mich fühlte, als würde ich mindestens noch ein Jahr im Krankenhaus bleiben müssen, verschwieg ich lieber.

Dann kam die Frage, vor der ich mich schon ein wenig gefürchtet hatte. „Weißt du, wo Mama ist?“

Ich nickte langsam. „Ich werd’s dir erzählen.“ Wenn ich eines konnte, dann Geschichten erzählen. Das hatte ich schon immer getan, um Nele abzulenken und sie träumen zu lassen.

„Oh ja, eine Geschichte!“, freute sie sich und lächelte mich an.

Ich schluckte schwer. Das würde jetzt nicht leicht werden. Mit sehr viel Willenskraft setzte ich mich aufrecht hin. Die stechenden, pochenden und dumpfen Schmerzen ignorierte ich weitestgehend. Ich breitete meine Arme aus und Nele verstand. Sie kuschelte sich an mich, ich legte ihr den linken Arm um die Schultern, mit der rechten Hand streichelte ich ihr übers Haar. Diese Geschichte würde nicht ganz so märchenhaft werden. „Du weißt doch, dass Mama sehr oft traurig war, oder?“, begann ich.

Nele nickte.

„Und dass sie oft Schmerzen hatte?“

Wieder nickte sie. „Weil Gilbert gemein zu ihr war, richtig?“

„Ja“, bestätigte ich. „Weil Gilbert gemein zu ihr war ...“

„Und zu dir auch“, ergänzte sie niedergeschlagen.

Leider hatte Nele mehr von seinen Taten mitbekommen, als mir lieb war. Aber sie war acht, kein Kleinkind mehr. Kein Wunder also. „Ja“, flüsterte ich. „Und Mama ist jetzt an einen Ort gegangen, an dem Gilbert nicht mehr gemein zu ihr sein kann.“

Überrascht sah meine kleine Schwester mich an. „Wo ist das denn?“

Oh Gott, was sollte ich denn bloß sagen? Ich ließ meinen Blick durch das karge Zimmer schweifen, über den kleinen Nachtschrank, auf dem ein Wecker und eine Flasche Wasser standen, über die kahlen Wände und zum Fenster, das den Blick auf den dunklen Himmel ermöglichte. Da fiel mir ein, wie die Geschichte weitergehen könnte. Aber zuerst griff ich nach der Wasserflasche. „Machst du mir die mal auf?“, bat ich Nele. Ich fühlte mich zu kraftlos, um den Schraubverschluss zu öffnen.

Die Kleine nickte und drehte den Deckel auf. „Hier!“

Ich lächelte sie an. „Danke.“

Nachdem ich ein paar Schlucke getrunken hatte, machte Nele die Flasche wieder zu und ich stellte sie auf den Nachtschrank zurück. Ohne meine Schwester wäre ich jetzt vermutlich verzweifelt, jedenfalls hätte ich keinen Grund mehr gehabt, nach vorne zu blicken.

„Also“, fuhr ich fort, „Mama hat einen ganz schönen Ort gefunden, an dem ihr niemand mehr wehtun kann.“

„Gehen wir da auch bald hin?“, fragte Nele.

Ich hoffte sehr, dass mein Gesichtsausdruck meine Trauer nicht verriet. Wobei ich mir nicht sicher war, ob ich trauerte, wütend war oder Angst hatte.

Saskia hatte mich nie vor Gilbert beschützt, und ich hatte angefangen, sie fast genauso sehr zu hassen wie ihn. Aber jetzt hatte sie mich einmal verteidigt, und dafür war sie gestorben. Der Gedanke daran schnürte mir den Hals zu. Und jetzt, da sie tot war, konnte ich unmöglich voraussagen, was mit Nele und mir passieren würde. Das machte mir Angst.

Ich hatte all diese Gefühle in mir ... Trauer, Wut und Angst. „Nein“, antwortete ich. „Da gehen wir erst viel später hin.“

„Warum?“

„Weil wir noch so jung sind.“

Nele schob die Augenbrauen zusammen. „Oh ... heißt das, wir sehen Mama jetzt ganz lange nicht mehr?“

Ich nickte. „Genau. Aber ich kann dir zeigen, wo sie ist.“

„Ja!“, rief sie sofort begeistert.

Ich deutete mit dem Zeigefinger zum Fenster. „Siehst du die Sterne da draußen? Die vielen kleinen, leuchtenden Punkte?“, fragte ich.

Nele nickte. „Ja!“

„Da ist Mama jetzt“, flüsterte ich. „Bei den Sternen.“

„Aber ... die Sterne sind so weit weg“, jammerte Nele.

„Das stimmt“, gab ich zu. „Aber sie sind auch wunderschön, nicht wahr?“

Sie lächelte. „Ja, sie sind schön.“

„Also ist Mama an einem schönen Ort“, erklärte ich. „Jedenfalls an einem schöneren Ort als in dieser grausamen Welt“, ergänzte ich in Gedanken. Laut sagte ich: „Und von da aus passt sie immer auf uns auf.“

„Genau wie Papa, oder?“

Verdutzt starrte ich sie an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Nele nun nach Wolfgang fragen würde, zumal sie sich kaum an ihn erinnern konnte. „Ja, genau, Mama ist jetzt bei Papa.“

„Da freut sie sich sicher“, murmelte die Kleine. „Aber vermisst sie uns nicht?“

„Sie vermisst uns schrecklich“, antwortete ich mit erstickter Stimme und drückte Nele fester an mich, obwohl mein ganzer Körper dabei wehtat. „Aber sie weiß, dass wir sie irgendwann wiedersehen werden.“

Als meine Schwester lächelte, sah ich ihre Zahnlücke in der unteren Reihe, wo bald ein Eckzahn nachwachsen würde. „Und Papa auch?“

„Papa auch“, bestätigte ich.

Kurz blieb Nele still, dann sah sie mich ängstlich an. „Aber du bleibst doch bei mir, oder? Du gehst noch nicht zu den Sternen, oder?“

Ich strich ihr sanft über den Rücken. „Ich bleibe bei dir“, versprach ich. „Für immer und ewig. Ich bin doch deine große Schwester.“

„Ehrenwort?“

„Ehrenwort.“

Da umarmte sie mich fest. „Ich hab dich so lieb, Lara!“

„Und ich dich erst“, flüsterte ich. „Und ich dich erst ...“

Für einen kurzen, harmonischen Moment blieben wir einfach so auf dem Bett sitzen, einander umarmend. Ich schloss die Augen und legte meinen Kopf auf Neles. Für ein paar Minuten wollte ich nicht an das denken, was uns erwarten würde. Für ein paar Minuten wollte ich nur bei meiner Schwester sein.

„Oh!“, fiel ihr da ein. „Die nette Frau, die mir das Essen gemacht hat, hat mir gesagt, dass ich auf den orangen Knopf da drücken soll, wenn du wach wirst.“

Ach, klar, wahrscheinlich musste ich jetzt erst mal ein paar Fragen beantworten, darum sollte Nele die Krankenschwester rufen. „Dann mach das doch mal“, entgegnete ich. Prompt drückte sie auf den Knopf.

Hier im Zimmer hörte ich nur ein leises Surren, doch bald darauf kamen Schritte näher. Die Tür wurde leise geöffnet und eine Frau mittleren Alters betrat den Raum. „Guten Abend“, begrüßte sie mich freundlich. Es schien, als wollte sie lächeln, aber irgendwie brachte die Blondine kein Lächeln zustande. „Wie gut, dass du wieder wach bist.“

Nele winkte der Frau zu und strahlte sie an.

„Hallo“, antwortete ich. „Vielen Dank, dass Sie sich um meine Schwester gekümmert haben.“ Ich ging einfach mal davon aus, dass diese Frau ihr das Essen gegeben hatte.

„Keine Ursache“, winkte sie ab. „Wie fühlst du dich? Brauchst du etwas?“

„Nein, danke. Geht schon“, sagte ich mit einem Seitenblick auf Nele.

Die Krankenschwester verstand, dass ich vor der Kleinen nicht über meinen Zustand sprechen wollte. „Es gibt da ein paar Leute, die mit dir reden müssen. Wäre es in Ordnung, dass ich in der Zwischenzeit eine Weile mit Nele spiele?“, fragte sie. „Wir haben tolle Brettspiele im Schwesternzimmer.“

Diese Frau war mir wirklich sympathisch. Ich lächelte schief. „Das wäre super.“ Dann wandte ich mich an meine Schwester. „Du hast doch bestimmt Lust auf ein kleines Spiel, oder?“

Unschlüssig sah sie mich an. „Ich will aber bei dir bleiben!“

„Es dauert nicht lange“, versprach ich.

„Das hast du heute Mittag auch gesagt!“

Ich schluckte. Ja, da hatte ich mich nicht an mein Versprechen gehalten ... Schuldbewusst sah ich die Kleine an. Da fiel mir auf, dass sie mit der linken Hand meinen MP3-Player umklammerte. Gut, dass sie ihn dabeihatte. Man konnte ja nie wissen, wann man ihn das nächste Mal brauchte. „Aber diesmal schaust du auf die Uhr und kommst in einer Stunde wieder, ja?“, schlug ich vor.

„Und wir spielen was Schönes“, ergänzte die blonde Krankenschwester.

„Na gut ...“, gab Nele zögerlich nach.

Ich küsste sie auf die Stirn. „Bis gleich.“

Sie lächelte. „Bis gleich.“ Dann sprang sie vom Bett und lief zu der Frau, die sie an der Hand nahm. Bevor sie gemeinsam das Zimmer verließen, wandte sich die Krankenschwester noch einmal an mich. „Ich werde gut auf sie aufpassen“, versicherte sie mir.

Ich nickte langsam. „Das will ich hoffen.“

„Und es wird sofort jemand zu dir kommen.“

„Gut.“

Nele winkte mir kurz zu. „Bis gleich, Lara!“

„Bis gleich, Nele!“

Kaum hatte die Krankenschwester die Tür hinter sich geschlossen und mich allein gelassen, legte ich meinen Kopf in den Nacken und seufzte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder sah ich vor meinem inneren Auge, wie Saskia die Treppe hinunterstürzte. Wie Gilbert sie und mich von Raum zu Raum prügelte. Und wie Nele in ein Kinderheim gesteckt wurde, was die schlimmste Vorstellung von allen war.

Da klopfte es an der Tür.

„Herein“, sagte ich leise.

Eine etwa 30-jährige, brünette Frau in weißem Kittel und eine jüngere, ebenfalls dunkelhaarige Frau in grüner Uniform betraten mein Zimmer. Ärztin und Polizistin. Aha.

„Hallo, Larissa“, begrüßte mich die Ärztin und kam an mein Bett, um mir die Hand zu schütteln. „Ich bin Dr. Lucak, du kannst mich gerne Annika nennen.“

„Hallo“, antwortete ich, ohne ihr meine Hand zu reichen. Ich mochte es nicht, angefasst zu werden. Die einzige Ausnahme machte ich bei Nele. Aber diesen wildfremden Frauen würde ich sicher nicht die Hand geben.

Die Ärztin ließ ihren ausgestreckten Arm kommentarlos sinken. „Wie geht es dir?“, fragte sie.

„Es geht schon. Wird sicher bald wieder.“

Die Polizistin blieb abwartend an der Tür stehen, ich beachtete sie nicht weiter.

„Nun, du hattest wirklich Glück“, erzählte Dr. Lucak. „Du hast dir bei deinem Sturz nichts gebrochen. Du hast viele Prellungen, aber keine ernste Verletzung. Doch bei deiner Untersuchung ist mir einiges aufgefallen.“

Ich schluckte aus mehreren Gründen. Erstens, mein Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an. Zweitens, ich fand es grotesk, in dieser Situation von Glück zu sprechen. Drittens, ich hatte Angst, was der Ärztin aufgefallen war, und einige Schamgefühle.

„Viele deiner Verletzungen sind älter“, fuhr die Frau fort.

„Ich weiß.“ Meine Stimme klang wie ein Krächzen.

„Und neben den zahlreichen Blutergüssen, Kratzern, Würgemalen und Prellungen sind mir auch Anzeichen von sexuellem Miss...“

„Ich weiß“, unterbrach ich sie sofort.

Die Ärztin musterte mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verständnis. „Dir ist klar, dass du der Polizei deswegen ein paar Fragen beantworten solltest, nicht wahr?“

Zögerlich nickte ich. „Ja. Aber könnten Sie mir zuerst etwas sagen?“

„Was denn?“

„Hat meine Schwester einen Kratzer abbekommen? Und ist Saskia wirklich ... ist sie wirklich ...“

„Deiner Schwester geht es bestens“, antwortete die Ärztin ruhig. „Und eure Mutter, Saskia, hat sich ... bei dem Sturz von der Treppe tragischerweise das Genick gebrochen, ja.“

Ich seufzte leise. Also doch.

„Was genau ist bei dir zu Hause passiert?“, meldete sich nun die Polizistin zu Wort. Die junge Frau kam näher und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. „Also, heute Mittag.“

Stumm fixierte ich die weiße Bettdecke. Wie sollte ich darüber reden? Ich hatte bisher noch nie davon gesprochen. Nie. Weder meinen Lehrern noch meinen Mitschülern hatte ich auf ihre vielen Fragen geantwortet.

Da legte mir die Polizistin eine Hand auf den Arm, reflexartig zuckte ich zurück und blickte sie ängstlich an. Bis mir klar wurde, dass sie mich gar nicht schlagen wollte ...

Die Dunkelhaarige wirkte traurig. Und wütend. „Ich sollte mich erst mal vorstellen“, meinte sie schließlich. „Ich heiße Hanna. Hanna Seidel.“ Geistesabwesend nickte ich. „Larissa, bitte erzähl mir, was heute passiert ist“, bat sie. „Deine Schwester hat gesagt, sie hat in eurem Zimmer auf dich gewartet und Musik gehört, bis die Sanitäter sie mitgenommen haben. Sie hat nichts mitbekommen.“

„Gott sei Dank“, flüsterte ich.

„Ich kann euch nicht helfen, wenn du nicht mit mir redest.“ Nun klang die Polizistin verzweifelt.

„Mein Stiefvater, Gilbert Haas ...“, begann ich. „Er ... er hat Saskia geschlagen. Und ich wollte dazwischengehen. Dann hat er sie die Treppe runtergestoßen. Und mich hinterher.“

Die junge Frau zog ein kleines Notizbuch aus ihrer Uniform und schrieb etwas hinein. „Hat dein Stiefvater deine Mutter oft misshandelt?“

Ich konnte die Geschehnisse nicht detailliert darlegen, ohne einen hysterischen Anfall zu bekommen, das wusste ich. Also antwortete ich eher knapp. „Ja. Mindestens einmal die Woche. Seit vier Jahren. Im letzten Jahr öfter.“

„Und wie oft hat er dich geschlagen?“

Meine Unterlippe zitterte, das spürte ich. „Genauso oft.“

„Du bist jetzt 17, oder?“, fragte sie.

Überrascht von dem plötzlichen Themawechsel bejahte ich, fügte jedoch noch an: „Im Juni werde ich aber 18.“

Sie nickte und kehrte wieder zu ihren ursprünglichen Fragen zurück. „Und wie oft hat dein Stiefvater dich sexuell miss...“

„Bitte“, unterbrach ich sie mit schwacher Stimme. „Nicht ...“

„Auf jeden Fall letzte Nacht“, meldete sich die Ärztin zu Wort. „Ich habe bei der Untersuchung recht eindeutige Anzeichen dafür gefunden. Es kann nicht viel länger her sein.“

Ich ballte meine zitternden Hände zu Fäusten. Ich wollte das nicht so ausbreiten oder den beiden Frauen bei solchen Gesprächen zuhören.

„Hat er sich auch an deiner kleinen Schwester vergriffen?“, fragte die Polizistin.

„Nein“, antwortete ich. „Das konnte ich verhindern.“

Die junge Frau lächelte mich an. „Du bist wirklich ein tapferes Mädchen.“

Ja, ja. Das sagte sich leicht. Im Nachhinein. Wenn man nicht die geringste Ahnung davon hatte, wie es war, die Hölle zu Hause zu haben.

„Noch irgendwelche Fragen?“ Ich klang ungeduldig, das wusste ich.

„Eine noch, vorerst“, stimmte die Polizistin zu. „Hat deine Unterernährung auch mit deinem Stiefvater zu tun?“

„Ja“, antwortete ich tonlos. Den Grund sollte sie sich selbst denken. Dass Gilbert all unser Geld versoffen und verraucht hatte und wir deshalb kaum Essen kaufen konnten.

Sie schob die Augenbrauen zusammen. „Wie kommt es dann, dass deine kleine Schwester nicht so dürr ist wie du?“

„Ich habe ihr meistens meine Portionen gegeben“, erzählte ich leise. „Oder wenigstens mit ihr geteilt.“

„Du hast dich wirklich vorbildlich um deine Schwester gekümmert“, lobte mich die Ärztin. „Sie ist ein tolles Mädchen.“

Da musste ich lächeln. „Ja, das ist sie.“

„Eine Frage habe ich noch“, fiel der Polizistin ein. „Warum hast du nie Hilfe geholt?“

Ausdruckslos sah ich sie an. „Weil Saskia diesen Mistkerl immer gedeckt hat, und mich hat sie auch dazu überredet. Und weil ... weil ...“

„Weil?“, hakte die Polizistin nach. Ich senkte den Blick. „Larissa, bitte, rede mit mir!“

„Weil ... weil ich nicht wollte, dass Nele in einem Kinderheim aufwachsen muss“, flüsterte ich. „Ich ... ich wollte bis zu meinem 18. Geburtstag durchhalten und dann für sie sorgen.“ Auch ohne hinzusehen, spürte ich die mitleidigen Blicke der beiden Frauen.

„Das reicht für heute“, beschloss die Polizistin und stand auf. Sie klappte ihr Notizbuch zu und steckte es wieder ein. „Morgen reden wir weiter. Aber jetzt erholst du dich erst mal.“

„Was ist mit meiner Schwester?“, fragte ich. „Darf sie bitte über Nacht bei mir bleiben?“

„Wir könnten ein Klappbett hier aufstellen“, schlug die Ärztin vor. „Für eine Nacht geht das in Ordnung.“

„Ja“, stimmte die Polizistin seufzend zu. „Aber es wird trotzdem darauf hinauslaufen, dass Nele in einem Kinderheim untergebracht wird. Genau wie du, Larissa.“

Ich bohrte mir meine Fingernägel in die Handflächen, um nicht vor Wut zu schreien. „Immerhin diese eine Nacht“, sagte ich mir.

„Ein Klappbett ist nicht nötig“, flüsterte ich. „Nele schläft sowieso meistens bei mir im Bett.“

Die Polizistin sah mich entsetzt an. „Aber ... wenn deine Schwester bei dir im Bett schläft ... wie konnte dein Stiefvater dich dann letzte Nacht ...“

Die Erinnerung daran, wie Gilbert nachts in unser Zimmer kam, wurde noch deutlicher als schon zuvor. Wie er sich über mich beugte, obwohl Nele direkt neben mir schlief. Oder wie er sie für seine Verhältnisse unheimlich vorsichtig in ihr Bett legte, bis er fertig war. Ich verzog meine Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln. „Tja.“

Die Ärztin sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben.

Die Polizistin verengte die Augen zu einer wütenden Grimasse. „Nun, dein Stiefvater ist vorerst in Untersuchungshaft. Aber bei den vielen Anklagepunkten wird er wohl so bald nicht mehr freikommen“, zischte die junge Frau.

Immerhin ein Gutes hatte diese Sache also.

„Kann ich jetzt meine Schwester sehen?“, bat ich.

Die Polizistin nickte. „Ich gehe sie holen. Schon mal gute Nacht, Larissa. Bis morgen.“

Sie wünschte mir um acht Uhr abends eine gute Nacht? Na ja, selbst wenn es weit nach Mitternacht wäre, schlafen würde ich heute wohl kaum. „Bis morgen ...“

Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, wandte sich die Ärztin noch mal an mich. „Möchtest du vielleicht ein Beruhigungsmittel?“

Ich schüttelte den Kopf. „Schon gut.“

Sie musterte mich besorgt. „Du solltest etwas schlafen“, riet sie mir.

„Ja, ja.“

„Und morgen werde ich unseren Psychologen zu dir schicken.“

Erschrocken sah ich sie an. „Nicht nötig“, wehrte ich sofort ab. „Das ist absolut nicht nötig.“

„Doch“, entgegnete sie. „Glaub mir, ich mache diesen Job schon lange genug, Larissa. Und ein Mädchen, das jahrelang misshandelt wurde und beim Tod der Mutter nicht mal weint, braucht einen Psychologen.“

„Ich brauche nur meine Ruhe“, brummte ich stur.

„Dann bis morgen“, verabschiedete sich Dr. Lucak von mir. Und wir wussten beide, dass sie mir diesen dämlichen Psychologen trotzdem schicken würde. „Falls du etwas gegen die Schmerzen oder zum Einschlafen brauchst, ruf einfach eine Schwester“, sagte sie noch.

„Mhm.“

„Und vermutlich kannst du morgen oder übermorgen schon entlassen werden“, fiel ihr ein. „Deine Prellungen sind zum Glück nicht ganz so schlimm, dass du allzu lange im Bett liegen musst.“

„Ja, ich bin wirklich ein Glückspilz“, zischte ich. Irgendwie verlor ich die Beherrschung. Aber das wunderte mich nicht, bei all den Gefühlen, die in mir tobten. Hass, Wut, Zorn, Angst, Trauer, Entsetzen, Verzweiflung, Sorge und was sonst noch alles.

Dr. Lucak legte mir sanft eine Hand auf die Schulter. Sofort zuckte ich wieder zusammen und schlug ihre Finger weg. „Lass dir helfen“, bat sie mich eindringlich. „Dann wird alles wieder gut, glaub mir.“

Beinahe hätte ich die Augen verdreht. „Wenn ich in den letzten vier Jahren eins gelernt habe“, flüsterte ich mit grimmigem Blick auf die Bettdecke, „dann, dass es ein Happy End nur in Märchen gibt.“

Bevor die Ärztin noch etwas sagen konnte, wurde die Tür wieder geöffnet.

„Laaaraaa!“ Mit schnellen Schritten stürmte meine kleine Schwester zu mir und kuschelte sich an mich.

Ich lächelte, als ich sie in die Arme schloss. „Nele“, seufzte ich glücklich.

„Weißt du was, ich hab beim Mensch ärgere dich nicht gewonnen!“

„Das ist toll!“, freute ich mich. „Mit welcher Farbe hast du denn gespielt?“

„Rot natürlich! Weil das fast so aussah wie deine Augenfarbe!“

Ich stutzte. „Meine Augen sind doch nicht rot.“

Sie kicherte. „Nein, aber die roten Spielfiguren sahen schon fast braun aus!“ Ich schmunzelte.

„Dann gute Nacht“, wünschte uns die Ärztin leise und ließ uns allein.

Nur wenig später lag Nele in meinen Armen unter der Decke und schlief ganz friedlich. Ich hingegen lag wach im Bett, strich ihr durchs Haar und blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die mich auch hier im Raum einhüllte. Zur Ruhe kam ich nicht, doch ich bat auch keine Krankenschwester um ein Schlafmittel. Diese Nacht brauchte ich für mich. Um nachzudenken, um mich zu beruhigen und um durchzuatmen. Um zu überlegen, wie es nun weitergehen würde.

Aber egal, wie viel ich nachdachte, das Einzige, was blieb, war die Dunkelheit. Und eine einzelne Träne, die mir langsam über die Wange rollte.

*

Die beiden Fremden