Wer war der Mann, der sich im roten Hausmantel porträtieren ließ, wer der Geschäftsmann, der entspannt mit Katze auf dem Schoß im Sessel sitzt, wer die Frau mit dem Eichhörnchen auf dem Arm und wer war Madame X? Und warum ist ein Goldschmied gleich dreimal auf einem Bild? Erfahren Sie mehr über die Geschichten und Geheimnisse hinter den Gemälden – 56 Porträts von 12 Malerinnen und 19 Malern.

Sibylla Vee ist das Pseudonym einer Autorin, die sich zunächst in Praxis und Theorie ganz der Bildenden Kunst widmete. 2016 wechselt sie vom Pinsel zur Feder und beginnt zwei Serien:

KLEINE KULTURGESCHICHTEN erzählen Kurzbiographien, – von Entdeckern, Kulturschaffenden und Künstlern, Männern wie Frauen, die es wert sind, aus dem Schatten der »sehr Berühmten« herauszutreten.

KLEINE BILDERGESCHICHTEN erzählen von Lieblingsmotiven in Grafik und Malerei, von sehr berühmten wie auch kaum bekannten Künstlern und Werken.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Sibylla Vee

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Diana Balonger

Korrektorat: Diana Balonger

Satz und Layout: Sibylla Vee

Coverdesign: Sibylla Vee

unter Verwendung eines Bildausschnitts

aus John Singer Sargent

»Lady Agnew of Lochnaw«, 1892

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7557-4405-4

Inhaltsverzeichnis

Sargent und Serov

Auf den ersten Blick sind Porträts in der Komposition sehr ähnlich aufgebaut, und weiß man, wer das Porträt malte, und wer gemalt wurde, scheint es bei Porträts keine Geheimnisse zu geben.

Doch Bildnisse von Menschen – Porträt und Bildnis sind im Deutschen gleichbedeutend – sagen viel über Zeitgeschehen und über Gesellschaften aus, jeweils geprägt von ihrer Region und ihrer Zeit. Zudem gibt es bei Porträts immer zwei Perspektiven und zwei Geschichten, eine zwischenmenschliche Beziehung, zwischen der Person, die malte und der Person, die gemalt wurde, und die muss keineswegs immer mit der Person identisch sein, die das Porträt in Auftrag gab und bezahlte.

Bis zum Ende des 19. Jhs. war die Porträtmalerei die größte und einträglichste Gattung in der Malerei, doch dann kam Konkurrenz von der Fotografie. Zum ersten Mal konnten technisch Begabte ohne künstlerische Fähigkeiten Porträts in kurzer Zeit für wenig Geld schaffen. Wer es sich leisten konnte, bevorzugte weiterhin gemalte Porträts.

In dieser Umbruchszeit waren der Amerikaner John Singer Sargent und der Russe Valentin Aleksandrovich Serov hoch begehrte und berühmte Porträtmaler. John Singer Sargent wurde 1856 in Florenz geboren. Seine Eltern waren nach Europa ausgewanderte Amerikaner. Johns Vater, Fitz Sargent, war Augenarzt, der seine medizinischen Fachartikel selbst illustrierte. Johns Mutter, Mary Singer, erlitt nach dem Tod ihres ersten Kindes einen Zusammenbruch und erhoffte sich Heilung durch eine Reise nach Europa. Sie sollten für den Rest ihres Lebens bleiben. Nach John, ihrem zweiten Kind, bekam Mary Singer noch vier Kinder. Ersparnisse und zwei Erbschaften ermöglichten ihnen ein gutes, wenn auch bescheidenes Leben. Je nach Jahreszeit und angenehmsten Klimabedingungen wechselte die Familie ständig zwischen Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz. Dieser häufige Ortswechsel führte dazu, dass John nie eine Schule besuchte – der Vater unterrichtete die Kinder – dafür aber unzählige Museen.

1869 hatte sich in Paris Émile Auguste Carolus-Duran einen Namen als Porträtmaler gemacht. Vier Jahre später eröffnete er eine eigene Kunstschule, in der der 18-jährige John Singer Sargent einer seiner ersten, jüngsten und später erfolgreichsten Schüler war. Der sehr informelle Unterricht und der Austausch mit den anderen, meist nicht französischen Mitstudenten – Sargent sprach vier Sprachen fließend – kam ihm sehr entgegen. 1879, im Alter von 23 Jahren, malte Sargent ein Porträt seines Lehrers Carolus-Duran (B 1 links oben), das er im Pariser Salon ausstellte, der wichtigsten Jahresausstellung im französischen Kunstbetrieb. Seine Erwartung, so an Porträtaufträge zu kommen, und sich mit ihnen seinen Lebensunterhalt und seine Reisen zu finanzieren, erfüllte sich schnell. Schon der junge Sargent forderte hohe Preise, insbesondere für seine Ganzkörperporträts in Lebensgröße. Zwei dieser Porträts sollten für seinen weiteren Lebensweg entscheidend werden.

Das erste Gemälde war ein Auftrag eines Pariser Arztes, Dr. Samuel Pozzi. Sargent malte ihn in einem intensivroten Hausmantel (B 1 unten), unter dem ein weißes, gerüschtes Hemd und ein bestickter Pantoffel hervorschauen, die Linke lässig in den Gürtel, die Rechte in ein Knopfloch eingehängt. Bevor Sargent ein Porträt malte, besuchte er das Zuhause seiner Kundinnen und Kunden, besprach mit ihnen, welche Kleidung am günstigsten für das Porträt sei, oder er malte sie in seinem Atelier, das mit vielen Möbeln und Vorhängen ausgestattet war, aus denen er jeweils die passenden für die richtige Wirkung auswählte. Dass Sargent diese überlieferte Vorgehensweise schon zu Anfang seiner Karriere, mit 25, einem zehn Jahre älteren Arzt gegenüber praktizierte, darf bezweifelt werden, es wird schon der Arzt selbst gewesen sein, der sich dem Maler in dem roten Mantel präsentierte, und das in seinem Haus, wie es der Titel eindeutig aussagt, »Dr. Pozzi at Home«. Dagegen war es mit Sicherheit eine Entscheidung des Malers, den gesamten Hintergrund ebenfalls in Rottönen zu halten. Bei einer Fläche von zwei auf ein Meter musste dieses Gemälde durch seine Rottöne alle Blicke auf sich ziehen. Doch Sargent stellte es im Pariser Salon nicht aus, durchaus denkbar, dass Dr. Pozzi dies verweigerte. Der Arzt überließ sein Porträt dem Maler aber für eine andere Ausstellung, in London, in der Royal Academy of Arts. Obwohl es dort 1882 kaum Beachtung fand, steht es für Sargents Debüt in London.

B 1 – links oben, Auss. aus »Carolus-Duran«, Sargent, 1879, rechts oben, Auss. aus »Madame X«, Sargent, 1883, unten, »Dr. Pozzi at Home«, Sargent, 1881, mit Ausschnitt

B 2 – John Singer Sargent in seinem Atelier, auf einer Staffelei das gerahmte Porträt von »Madame X«, Foto, Ausschnitt, 1884

Das Gemälde blieb fast 90 Jahre im Besitz von Samuel Pozzi und seinen Nachkommen. 1970 kaufte es ein amerikanischer Kunstsammler aus Los Angeles, Armand Hammer, in dessen, von ihm gegründeten Hammer-Museum es heute ausgestellt ist.

Ganz anders verhielt sich die Ausgangssituation bei dem zweiten Ganzkörperporträt. (B 1 und 2) Die 24-jährige Virginie Gautreau galt in Paris als außergewöhnliche Schönheit. Ihre Wespentaille, ihre roten Haare, ihr Profil, ihr heller Teint, ihr Dekolleté, all dies faszinierte Sargent und er wollte sie unbedingt porträtieren. Doch Madame hatte ihn nicht beauftragt. Erst über die Vermittlung durch Dr. Pozzi, der ein Liebhaber von Virginie gewesen sein soll, wurde der Maler auf das Schloss der Gautreaus in der Bretagne eingeladen. Etwa 30 Studien mit Bleistift, Aquarell- und Ölfarben fertigte er an und die mussten für das Ganzkörperporträt reichen. Von seinem Gemälde war Sargent begeistert und er stellte es 1884 im Pariser Salon aus, mit dem Titel »Madame Pierre Gautreau«. Virginies Mutter flehte den Maler an, das Bildnis aus der Ausstellung zu nehmen, es ruiniere in seiner Freizügigkeit den Ruf ihrer Tochter. Publikum und Kritiker empörten sich ebenso und empfanden das Gemälde als Skandal. John Sargent zog als Besitzer des Gemäldes dieses nicht zurück, sondern änderte lediglich den Titel in »Madame X«, was völlig ohne Wirkung blieb, denn alle Welt wusste, wen das Porträt zeigte. Aus heutiger Sicht ist kaum mehr nachvollziehbar, warum dieses Porträt in einer Großstadt wie Paris einen solchen Skandal auslösen konnte. Er hatte jedenfalls zur Folge, dass sich das Ehepaar Gautreau aus der Pariser Gesellschaft zurückzog, dass John Singer Sargent kaum mehr Aufträge bekam, Paris verließ und sich in London niederließ.

Er behielt »Madame X« 32 Jahre lang und verkaufte es erst 1916 an das Metropolitan Museum in New York, nachdem Virginie Gautreau verstorben war.

Im Vereinigten Königreich, und später auch in den Vereinigten Staaten, bekam Singer Sargent einen Porträtauftrag nach dem anderen. Für jedes Gemälde verlangte er um die 5000 US-Dollar, was heute einem Wert von über 100 000 Dollar entspricht. Amerikanische Kunden kamen sogar auf eigene Kosten nach London, um sich von Sargent malen zu lassen, denn schließlich hatte er auch zwei US-Präsidenten, Roosevelt und Wilson, porträtiert.

Das Bildnis »Lady Agnew of Lochnaw«, (B 3, 5 und Titel), wurde vom Ehegatten, Sir Andrew Agnew, Baron von Lochnaw, in Auftrag gegeben. Sie sitzt lässig, etwas schräg mit übereinander geschlagenen Beinen in einem Barocksessel, vor einem türkisfarbenen Vorhang, in einem weißen Kleid mit fliederfarbener Schärpe, uns direkt anschauend. Das Foto von Lady Agnew (B 4) zeigt eine introvertierte Frau, fast etwas scheu. Sargent malte sie selbstbewusster. Der Ehemann und das Londoner Ausstellungspublikum waren 1893 begeistert, von der Eleganz, den zarten Farben und der Leichtigkeit, mit der Sar- gent einen Arm in einem transparenten Ärmel darstellen konnte. (B 5 rechts oben) Zudem war er ein Meister der Akzente, wo und wie er Glanzlichter setzte.

B 3 – »Lady Agnew of Lochnaw«, Sargent, 1892

B 4 – Lady Agnew, Foto

Manche kritisierten Sargents Malweise als zu idealisiert, doch er malte auch anders, wenn nicht Wünsche anderer Priorität hatten.

Wer war »Violet Paget« (B 5 unten), die Sargent so ganz anders darstellte als die britische und amerikanische High Society? In diesem Porträt ist nichts geschönt, weder Mund, Zähne, Nase, Augenbrauen, und auf einem Brillenglas ist der Lichtreflex so stark, dass man das Auge nur unscharf erkennt. Violet Paget war nicht irgendwer, sondern eine britische, unter dem Pseudonym Vernon Lee berühmte Schriftstellerin. Doch Sargent durfte sie authentisch malen. John und Violet waren langjährige Freunde, kannten sich von Kindesbeinen an, denn Violets verwitwete Mutter führte mit ihrer Tochter das gleiche Wanderleben auf dem europäischen Kontinent wie Johns Eltern, mit denen sie sich immer wieder trafen.

B 5 – Oben Ausschnitte aus B 3, unten »Violet Paget«, Sargent, 1881, mit Ausschnitt

Erst 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg widmeten sich wieder Ausstellungen dem Werk von John Singer Sargent, das außer den Porträts auch über 2000 Aquarelle umfasst, die schönsten aus Venedig.

Der höchste Preis, den je ein Gemälde von Sargent erzielte, ist kein Porträt, sondern zeigt eine sommerliche Siesta, »Group with Parasols«, 2004 bei Sothebys versteigert, für 23,5 Millionen US-Dollar.