Als Leiter eines Aufmerksamkeits-Computer-Laboratoriums (ACL) an der Universität Hamburg erforsche ich seit Jahren, wie Kinder spielen, was sie zum Spielen antreibt und wie das Spiel sich auf ihre Entwicklung auswirkt. Aus meiner langjährigen Erfahrung weiß ich, dass der Anlass zum Spiel immer derselbe ist: Alle Kinder wollen einen Kopf größer sein, als sie in Wirklichkeit sind. Getrieben von Begeisterung, Neugier und froher Erwartung schließen sie aktiv Wissenslücken und erwerben nach und nach die Fähigkeiten, die sie an Erwachsenen bewundern.
Im freien Spiel suchen Kinder selbst aktiv nach immer neuen Lernerfahrungen und bilden dabei wichtige Fähigkeiten wie Abstraktionsvermögen, Fantasie, Selbstbewusstsein, Frustrationstoleranz, Impulskontrolle und Kooperationsfähigkeit aus. Kinder und Jugendliche entwickeln im Spiel ihre einmalige und unverwechselbare Persönlichkeit. Im Alltag müssen sie sich dagegen meistens anpassen. Das Spiel aber macht sie zu Gestaltern. Handlungsstarke und geistig bewegliche Persönlichkeiten haben ihre Wurzeln in gelingenden selbst gewählten Spielen. Das belegen viele wissenschaftliche Untersuchungen.
Seit 1994 überprüfe ich mit Studierenden an der Universität Hamburg die Wirksamkeit pädagogischer Empfehlungen in der Praxis. Daraus entwickelte sich mittlerweile eine Beratungsstelle für Entwicklungs- und Lernprobleme mit vier wissenschaftlichen Mitarbeitern. An uns wenden sich neben Bildungsinstitutionen auch viele Eltern. Bei der Beratung geht es manchmal um sehr gravierende Entwicklungs- und Lernprobleme, zum Beispiel um Hirnverletzungen und Epilepsie oder um Autismus, Trisomie 21 (Down-Syndrom) und andere genetisch bedingte Syndrome. Häufig wenden sich Eltern jedoch auch mit Alltagsproblemen an uns: Welches Spielzeug ist entwicklungsfördernd? Warum führt mein Kind ständig Selbstgespräche? Welche Spiele fördern die Schulreife? Warum spielt es nicht mit anderen?
Platon (427 – 348 / 347 v. Chr.)
Hinweise, die Eltern wirklich helfen, beruhen immer auf zwei Fragen: Was spielt ein Kind von sich aus am liebsten? Wobei lässt es sich gern helfen? Die Antwort auf die erste Frage zeigt den Stand der Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes an, die Antwort auf die zweite Frage, welche Fähigkeiten es gerade entwickelt. Viele Eltern stolpern über Fragen nach dem Spiel ihrer Kinder. Manchmal müssen sie sehr lange überlegen: Was spielt unser Kind eigentlich, wenn es sich selbst überlassen ist?
Wenn andere Eltern prahlen: »Montags gehen wir zum Ballettunterricht, dienstags zum Englischkurs, mittwochs zum Geigenunterricht, donnerstags zur Logopädie und freitags zum Feldenkrais«, sollten Sie mit Stolz antworten: »Mein Kind hat die ganze Woche gespielt, mal mit anderen Kindern, mal mit uns und ab und zu auch allein. Es hat sehr viel Spaß am Leben!«
Das ist nicht selbstverständlich. Bildungsangebote drohen mit der Zukunft: Ist das Kind wettbewerbsfähig? Mit meiner 30-jährigen Erfahrung in der Elternberatung fällt mir eines auf: Immer öfter fragen Eltern: Was kann ich besser machen? Gibt man ihnen aber irgendwelche Tipps, fangen sie sofort an, ihren Erziehungsstil zu verteidigen und zu rechtfertigen. Aus meiner Sicht ist das vollkommen unnötig. Es zeigt mir aber, welch enormem Druck Eltern sich heute ausgesetzt sehen.
Ratschläge erleben sie nicht selten als Schlag mitten ins Gesicht: Habe ich denn bis jetzt alles falsch gemacht? Bin ich schuld, dass mein Kind nicht all seine Potenziale entfalten kann? Habe ich die Weichen für sein späteres Scheitern gestellt? Wird mir mein Kind später Vorwürfe machen? Zum Glück gibt es mehr als einen Weg, Kinder gesund ins Erwachsenenalter zu begleiten. Nur ein Mittel sollten Sie vermeiden: Förderitis. Gegen Förderitis gibt es nur einen Impfstoff: Fakten, Fakten, Fakten. Doch wer findet sich schon im unverständlichen Fachchinesisch wissenschaftlicher Publikationen zurecht?
Mein Nachname geht auf das aus dem Indischen stammende Wort »Cymbal« zurück. Mir gefällt jedoch die Assoziation zu »simpel« im Sinne von »einfach«. Mein Ehrgeiz besteht nämlich darin, Ihnen wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse möglichst einfach zu erläutern. Die sich daraus ableitenden Ratschläge sollen Sie keinesfalls erschlagen. Es würde mich sogar freuen, wenn Sie oft ausrufen: »Das machen wir doch sowieso!« Dann können Sie in Zukunft Ihr Tun selbstbewusster begründen und Ihrer Intuition noch mehr als früher vertrauen. Aber sicherlich finden Sie auch viele brauchbare Tipps, um Ihr Kind neu zu entdecken, seine Perspektive einzunehmen und ihm hilfreich zur Seite zu stehen.
Ich wünsche Ihnen eine an wunderbaren Entdeckungen reiche und gelassene Zeit mit Ihren Kindern!
Ihr
Das selbstvergessene Spiel unserer Kinder ist keine sinnlos vergeudete Zeit. Es steuert die geistige Entwicklung und unterstützt dabei die Reifung des Gehirns. Spielen ist deshalb weit mehr als reiner Zeitvertreib, es ist eine effektive Methode des nachhaltigen Lernens.
Spielen bereitet Kinder auf das Leben vor
Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr spielen Kinder schätzungsweise 15 000 Stunden – das macht täglich etwa sieben Stunden reine Spielzeit. Mit anderthalb Jahren lassen sich die ersten Als-ob-Spiele (siehe >) beobachten, die sich im Lauf der Zeit in Rollen- (siehe >) und Regelspiele (siehe >) wandeln.
Im Spiel gilt es, verschiedene Welten zu erobern: Das weitläufige Reich der Sprache, die gesellschaftliche Bühne der Rollenverteilung und das Gebäude sozialer Regeln einer Gesellschaft sind für Kinder wichtige Forschungsfelder. Dieses Buch ist der entscheidenden Entwicklungsphase des Spielens im Alter zwischen eineinhalb und sieben Jahren gewidmet.
Häufig neigen Eltern dazu, die Leistungen ihrer Kinder in dieser Phase zu unterschätzen. Das ist kein Wunder: Man kann Kindern lange beim Spielen zusehen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu bekommen, warum sie überhaupt spielen. Eine Erkenntnis drängt sich jedoch auch dem ungeübten Betrachter auf: Kinder spielen von ganz allein das, was sie augenblicklich am meisten herausfordert und was der Erfüllung ihrer sehnsüchtigen Wünsche am ehesten entgegenkommt.
Die Frage nach den Entwicklungsbedingungen von Kindern ist auch immer eine Frage an uns selbst: Woher kommen wir und wie sind wir zu dem geworden, was wir heute sind? Wir sind es gewohnt, bei Fehlern und Misserfolgen entweder andere zu beschuldigen oder uns selbst die Schuld zu geben. Besser wäre es, aus Fehlern Nutzen zu ziehen. Fehler zeigen uns unsere Grenzen und damit unsere Wachstumschancen auf.
Wo, wenn nicht im Spiel, könnte man besser lernen, aus Fehlern Nutzen zu ziehen? Als Erwachsene sind wir es gewohnt, andere für uns spielen zu lassen. Wir bestaunen Statuen und Gemälde in Galerien, versetzen uns in die Figuren auf Bühne und Leinwand, genießen virtuose Gesangsdarbietungen und drücken in Wettbewerben unseren Idolen die Daumen.
Wenn große Meisterleistungen anderer Personen in Sport, Spiel und Kunst uns helfen, zu entspannen und mit ihnen mitzufiebern, oder uns sogar Mut machen und anspornen, es selbst zu versuchen, dann ist alles in bester Ordnung. Wenn wir uns jedoch beim Vergleich mit Künstlern und Sportlern schlechter fühlen, Neid entwickeln oder uns selbst abwerten, dann läuft etwas ganz grundsätzlich schief.
Edmund Burke (1729 – 1797)
Ich finde, wir können gerade in dieser Hinsicht viel von unseren Kindern lernen: Sie suchen sich eine für sie maßgeschneiderte kleine Auswahl aus den unzähligen Spielmöglichkeiten aus. Mit schlafwandlerischer Sicherheit finden sie die Spiele, in denen sie Kontakt mit ihren eigenen Bedürfnissen aufnehmen können. Auch uns Erwachsenen steht diese konstruktive Möglichkeit, Konflikte zu lösen und mit Schwierigkeiten fertig zu werden, in nahezu unbegrenztem Umfang zur Verfügung. Wir sollten das Spiel als Quelle von Kreativität und Leistungsfähigkeit einfach öfter nutzen.
Marshall Rosenberg (*1934)
Die Erkenntnis der Hirnforschung, dass sich das menschliche Gehirn nutzungsabhängig entwickelt, führt bei vielen Eltern zu dem Fehlschluss, man müsse das Gehirn trainieren wie einen Muskel. Weil sie ihre Kinder für die globalisierte Welt fit machen wollen, haben sich viele Eltern einen gefährlichen »Virus« eingefangen: die Förderitis.
Aus Angst, ihre Kinder könnten den Anschluss an eine globalisierte Bildungsgesellschaft verlieren, versuchen sie ihre Kinder auf jede erdenkliche Art zu fördern: Frühenglisch, Kinderyoga, Malkurse und Musikunterricht wechseln sich in einem straffen Zeitplan miteinander ab. Dabei übersehen sie, dass das soziale Umfeld die Hirnentwicklung viel mehr bestimmt als jedes Training. Man kann diese Eltern nicht oft genug ermutigen, das Spiel ihrer Kinder ernst zu nehmen.
Den Wert früher Bildungsangebote erkennen Sie an der Reaktion Ihres Kindes. Freut es sich schon auf den nächsten Termin? Ist es danach ausgeglichener und zufriedener als vorher? Greift es die Anregungen von allein im freien Spiel auf? Schließt es Freundschaften mit anderen Kindern? Ist es traurig, wenn Schluss ist? Doch Vorsicht: Kinder haben feine Antennen für Erwartungsdruck! Es könnte sein, dass Ihr Kind nur Ihnen zuliebe Interesse zeigt. Beobachten Sie die Reaktionen Ihres Kindes deshalb möglichst kritisch und frei von Wunschdenken. Vermeiden Sie Belohnungen für folgsames Mitmachen. Und reden Sie Ihrem Kind möglichst nichts ein: »Das war doch schön, oder?«, »Das hat dir doch richtig Spaß gemacht, oder etwa nicht?« Achten Sie außerdem darauf, dass genügend Zeit für das freie Spiel bleibt. Diese Zeit benötigen Kinder, um das Gelernte zu verarbeiten und mit ihren Bedürfnissen zu verbinden.
Spielen ist deshalb so wichtig, weil das menschliche Gehirn vor allem ein Sozialorgan ist, das sich durch Erfahrungen entwickelt. Kinder können besser »Nachäffen« als unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, denen wir genetisch immerhin zu mehr als 98 Prozent ähneln. Spielen ist also keine verschwendete Zeit, sondern die effektivste Form des sozialen Lernens. Nichts macht Kinder so klug wie das selbstvergessene, frei gewählte Spiel.
Friedrich Schiller (1759 – 1805)
Verglichen mit den verblüffenden Fähigkeiten von Vorschulkindern schneiden unsere nächsten Verwandten im Tierreich, die Schimpansen, beim Nachäffen weit schlechter ab, als gemeinhin angenommen wird. Man hat Kinder auf der ganzen Welt getestet und ihre Lernstrategien mit denen von wild lebenden Schimpansen verglichen. Das überraschende Ergebnis: Schimpansen folgen beim Lernen eher dem direkten Weg zum Erfolg. Menschenkinder dagegen imitieren jeden Umweg zum Ziel, den man ihnen vorführt, mit spielerischer Freude.
Ein Beispiel: Erwachsene führten Vorschulkindern vor, wie sie mithilfe eines langen Stocks nach Süßigkeiten angeln können, die für die Kinder sonst unerreichbar wären. Vorher schwenkten die Großen den Stock so herum, als würden sie einen kleinen »Schwerttanz« aufführen. Fast alle Kinder, die an dem Experiment teilnahmen, ahmten sowohl den eigentlich unnützen »Schwerttanz« als auch das Einkassieren der Belohnung nach. Schimpansen dagegen lassen bei dem gleichen Experiment den überflüssigen »Schwerttanz« einfach weg. Sie kommen gleich zur Sache und holen sich ihren Leckerbissen mit dem Stock.
Das scheinbar uneffektive Nachahmen der Kinder verdeutlicht die Kraft des menschlichen Spieltriebs. Die spielerischen Umwege des Imitierens, die Kinder so lieben, beruhen dabei keineswegs auf einem Verständnisproblem. Dass sie ohne umständliche Nachahmung schneller an die Belohnung kämen, verstehen Kinder in den meisten Fällen genauso gut wie Schimpansen. Es ist ihnen aber völlig schnuppe. Sie wollen einfach nur spielen, weil vor allem die Schwerttanzaufführung der Großen sie fasziniert. Diese spielerische Freude an der Nachahmung ist es, die Kinder sozial schlauer macht als Schimpansen.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Im Vorschulalter entwickelten meine Kinder die lästige Angewohnheit, mir alles Mögliche zu erklären. Ich kam mir schon vor, als hätte ich von nichts eine Ahnung: »Paps, das gehört doch hier hin. Siehst du, so musst du das machen.« Ich fühlte mich fast ein wenig veralbert. Doch dann wurde mir blitzartig klar, dass ich ja selbst sehr gern erkläre. Die Kinder ahmten einfach nur mein Verhalten nach. Man selbst ist bei der Erziehung meistens der blinde Fleck. Als ich mich in dem Spiegel, den mir meine Kinder vorhielten, selbst erkennen konnte, fiel es mir viel leichter, die lästigen Belehrungen über mich ergehen zu lassen.
Es handelte sich nämlich um ein Spiel. Genauer: um ein typisches Rollenspiel. Die Rolle des Erklärers haben Väter nun einmal nicht gepachtet. Sie steht auch Kindern zur freien Verfügung. Dieses Spiel bringt sie dem sehnsüchtigen Wunsch näher, geachtet und ernst genommen zu werden. Ganz nebenbei festigen sie ihr Weltwissen und feilen an ihren rhetorischen Fähigkeiten. Vor allem aber kommt ihr logisches Denken in Schwung! Denn sie wollen ja beim Erklären möglichst überzeugend klingen.
Auf diese kindliche Vorliebe fürs Nachahmen und Imitieren sollten Eltern setzen und ihnen vorleben, was sie selbst für wichtig halten. Besser können sie ihre Kinder nicht fördern! Sie sind – ob sie es wollen oder nicht – Vorbild: Alles, was Kinder beobachten, ist Nahrung für ihren Spieltrieb. Also, liebe Eltern, vertraut auf Euch selbst! Eure Kinder nehmen sich von Euch das, was sie für ihre Entwicklung brauchen – und zwar: von ganz allein.
John Locke (1632 – 1704)
Es ist ganz und gar unnötig, dass Eltern ausgefeilte Förderprogramme austüfteln, um ihren Kindern beste Entwicklungsbedingungen zu bieten. Es reicht, wenn sie für sie da sind und Zeit mit ihnen verbringen. Kinder wollen weder kindische Erwachsene noch verkindelt werden. Sie wollen, dass man ihr Spiel genauso ernst nimmt wie die Arbeit der Erwachsenen.
In ihren Spielen ahmen Kinder von ganz allein all das nach, was sie bei ihren Eltern, im Kindergarten und bei Freunden erleben und was sie im späteren Leben brauchen: wie man mit Alltagsgegenständen umgeht, wie man mithilfe der Sprache vorausplant, wie man verschiedene Rollen in der Gesellschaft einnimmt und wie man soziale Regeln einhält.
Besorgten Eltern, die unsere Beratungsstelle aufsuchen, fehlt es in den seltensten Fällen an Verantwortungsbewusstsein, meist aber an Zuversicht. Sie trauen ihren Kindern wenig zu und können sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich von selbst entwickeln. Manche glauben sogar, sie müssten ihre Kinder entwickeln. Entwickeln kann man zwar einen Analogfilm im Fixierbad einer Dunkelkammer, bei Lebewesen ist es aber unmöglich. Selbst Gras wächst bekanntlich nicht schneller, wenn man daran zieht.
Im Spiel versinken
Kinder in einer Fantasiewelt
Worin genau liegt der Mehrwert des Spiels gegenüber dem Lernen auf der Schulbank? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist es zunächst notwendig, sich zu vergegenwärtigen, was im Gehirn beim Lernen passiert. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts erkannte man, dass Lernen ein nutzungsabhängiger Vorgang der Vernetzung im Gehirn ist. Man vermutete: Wiederholte Reize stärken die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Neuronen, die gleichzeitig feuern, verbinden sich (wissenschaftlich formuliert: »Neurons that fire together, wire together«). Lernen beruht also auf der Verstärkung von Nervenverbindungen.
Dass Lernen tatsächlich in der Regel von Wiederholung abhängt, konnte der Nobelpreisträger Eric Kandel (*1929) wissenschaftlich belegen. Der Nachweis erfolgte allerdings nicht beim Menschen, sondern bei im Meer lebenden Nacktschnecken (Aplysia californica). Ihre Nerven sind so groß, dass sie ohne Mikroskop erkennbar sind. Damit gelang der Beweis, dass große Teile des Gehirns von Tier und Mensch nutzungsabhängig sind. Das Gehirn ist eine ewige Baustelle. Es gibt nur sehr wenige feste Verbindungen. Die »Verdrahtung« des Gehirns passt sich flexibel an die jeweilige Umwelt an.
Es ist also wissenschaftlich belegt: Das Gehirn vernetzt sich, wenn Nerven gleichzeitig feuern. Wie Spuren im Schnee entstehen beim Lernen durch Wiederholung »Wege«, auf denen Nervenimpulse besonders schnell vorankommen. Nervenzellen lernen durch ständige Wiederholung, die zum Aufbau nützlicher und zum Abbau unnützer Verbindungen führt.
Nehmen wir an, es feuern Nervenzellen im Hörzentrum unter meiner Schläfe, weil ich das Wort »Teddy« höre. Gleichzeitig feuern Zellen im Sehzentrum meines Hinterkopfes, weil ich einen Plüschbären sehe. Dann entsteht oder festigt sich eine Verbindung zwischen diesen Hör- und Sehzellen. Mit jedem erneuten Gebrauch der Verbindung zwischen dem gehörten Wort »Teddy« und dem gesehenen Plüschbären entsteht bildlich gesprochen ein »Trampelpfad« zwischen Hör- und Sehzentrum. Ist der »Trampelpfad« ausgetreten, löst jeder Plüschbär die Erinnerung an das Wort »Teddy« aus und umgekehrt: Das Wort »Teddy« erzeugt automatisch die Vorstellung von einem Plüschbären.
In den 1990er-Jahren brachte die Hirnforschung aber erstaunlicherweise zutage, dass Kleinkinder über viel mehr neuronale Verschaltungen im Gehirn verfügen als Erwachsene.
Moment mal: Da stimmt doch etwas nicht! Müsste die Anzahl der Nervenverbindungen bei Kindern nicht viel geringer sein als bei Erwachsenen? Schließlich hatten Erwachsene doch viel mehr Zeit, um durch wiederholtes Lernen Verbindungen zu knüpfen. Wären da bei den Großen nicht viel mehr Nervenverbindungen zu erwarten als bei Kleinen? Moderne Verfahren der Hirnforschung zeigen: Das Gegenteil ist der Fall. Schon Zweijährige verfügen über dieselbe Anzahl von Nervenverbindungen wie Erwachsene, bei Dreijährigen hat die Zahl sich sogar verdoppelt. Das sind bis zu 100 Milliarden Nervenzellen, die mit vielen Tausenden anderen Nervenzellen verschaltet sind.
Wie passt diese Tatsache zu der Vorstellung einer mühsamen Verbindung von gleichzeitig feuernden Nervenzellen? Gar nicht! Denn wäre das der einzige Weg des Lernens, müssten Erwachsene aufgrund ihres größeren Erfahrungsreichtums über viel mehr Verbindungen als Kleinkinder verfügen. In der Hirnforschung gilt nun eines als experimentell gesichert: Kinder lernen anders als Nacktschnecken. Wir müssen also umdenken!
Khalil Gibran (1883 – 1931)
Babys kommen mit Potenzialen auf die Welt, die viele Lernvorgänge vorwegnehmen. Beispiele: Babys können Tiergesichter genauso gut und differenziert unterscheiden, wie wir Erwachsenen Menschengesichter auseinanderhalten können. Wenden sie die Fähigkeit nicht täglich an, verlieren sie diese. Dann unterscheiden sich für sie Katzen nur noch durch Farbe, Muster und Größe – aber nicht länger durch Gesichtsform und -ausdruck.
Baby- und Kleinkindergehirne sind in der Lage, sensibel zwischen den Lauten aller Sprachen der Welt zu unterscheiden. Dabei ist es ihnen egal, ob es sich um Quechua in Bolivien, Kisuaheli in Ostafrika oder Mandarin in der Mandschurei handelt. Sie kommen als Kosmopoliten auf die Welt, um sich dann später zu Provinzlern zu entwickeln.
Hier wollen Eltern gegensteuern: Leben wir nicht in einer globalisierten Welt? Wie kann ich dafür sorgen, dass mein Kind den Anforderungen eines internationalen Arbeitsmarkts gewachsen ist? Ist Chinesisch die Sprache der Zukunft?
Die Erkenntnis, dass Kinder mit viel mehr Potenzialen auf die Welt kommen, als sie je in ihrem Leben nutzen können, hat bei vielen Eltern wie ein Blitz eingeschlagen. Nach dem Motto »Use it or loose it« (nutze oder verliere es) befürchten sie, dass wertvolle Zeit für die geistige Entwicklung verstreicht, wenn das kindliche Supergehirn nicht ausreichend gefördert wird.
Konsequent setzen sie auf Frühförderung und bieten ihrem Kind von Chinesisch bis Schach einfach alles an, was der Kinderbildungsmarkt hergibt. Ihr bedauerlicher Irrtum liegt darin, dass sie die positiven Effekte von Frühförderprogrammen maßlos überschätzen. Sie vergessen: Mit einem Kind zu spielen ist die beste Förderung überhaupt.
Dale Carnegie (1888 – 1955)
Wenn Kinder beim Spielen in die unterschiedlichsten Rollen schlüpfen oder Alltagsgegenständen eine neue, spielerische Bedeutung verleihen, fördern sie dadurch ganz automatisch ihr abstraktes Denkvermögen. Diese Fähigkeit ist die wichtigste Voraussetzung, um später beispielsweise Naturwissenschaften und Fremdsprachen zu lernen. Gleichzeitig wachsen sie dabei spielerisch in die Erwartungen ihrer Umwelt hinein, das heißt, ihre soziale Kompetenz verbessert sich.
Wilhelm Wundt (1832 – 1920)
»Wie kommt man hier zur Carnegie Hall?«, fragt ein Tourist eine New Yorkerin in Manhattan. Ihre Antwort: »Üben, üben, üben!«
Dieser Witz mag für einige lustig sein – viele Eltern in den USA verstehen in dieser Hinsicht aber überhaupt keinen Spaß. Dafür sorgt die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Amy Chua (*1962). Sie beschreibt mit entwaffnender Ehrlichkeit ihren drakonischen Erziehungsstil, mit dem sie ihre Töchter in ihrer Kindheit zu Höchstleistungen antrieb.
Oberflächlich betrachtet geben ihr die schulischen und künstlerischen Erfolge ihrer Töchter recht. Beispiel: Mit neun gewann ihre Tochter Sophia ihren ersten Klavierwettbewerb. Später spielte sie sogar einmal in der Carnegie Hall in New York.
Diese Erfahrung setzt nicht nur Eltern in den USA unter Druck. Ein Blick hinter den Vorhang der bühnenreifen Dressurleistung der Tigermama (wie sich Amy Chua selbst bezeichnet) zeigt jedoch: Mit Erpressung und Bestechung stachelte sie ihre Kinder zu musikalischen Höchstleistungen auf. Wenn diese sich einen Widerspruch erlaubten, drohte sie mit der Verbrennung ihrer Spielsachen, Strafarbeiten, Nahrungsentzug und anderen Formen der Ausübung elterlicher Gewalt. Was aber lernen Kinder, die man immer wieder erpresst und besticht, damit sie ihr tägliches Lernprogramm absolvieren? Antwort: in erster Linie die Wirksamkeit von Erpressung und Bestechung.
Der Wert von Amy Chuas Buch liegt darin, dass sie uns einen Eindruck von den inneren Stürmen in den Köpfen ihrer mit Kontrollwahn und ständigen Vergleichen drangsalierten Töchter gibt. Und nicht zuletzt auch darin, dass die grausame Mutter des Erfolgs am Ende ihr Scheitern gesteht. Was Amy Chua als Mutter misslang, ist ihr schließlich als Autorin zweifelsfrei geglückt: authentisch zu sein.
Janusz Korczak (1878 – 1942)
Für eine gesunde Entwicklung besser geeignet als Leistungsdruck sind authentische Situationen, in denen das Lernen Emotionen weckt, die Kinder als sinnvoll erleben. Denn die positiven Gefühle, die das gelingende Spiel begleiten, setzen Botenstoffe im Gehirn frei, die das Lernen fördern.
Gemeint ist das sogenannte Glückshormon Dopamin. Es wird vor allem dann freigesetzt, wenn man Schwierigkeiten überraschend gut bewältigt. Auch wenn etwas im begeisterten Spiel noch nicht ganz so gelingt, wie man es sich vorgestellt hat, erinnert man sich gern daran und wiederholt das Spiel bei der nächstbesten Gelegenheit. Üben wird so nicht zur sturen Quälerei, sondern zu einem inneren Bedürfnis.
Begabungen entstehen, indem man eine Tätigkeit circa zehn Jahre lang möglichst drei Stunden täglich übt. Egal ob es sich dabei um eine Fremdsprache, Kochkunst, die Beherrschung eines Musikinstrumentes, Artistik, Logik oder was auch immer handelt. Ohne Begeisterung wäre das eine unmenschliche Quälerei, mit Spielfreude dagegen ein Freizeitvergnügen.