Das Buch

Fünfzig werden ist eine Zäsur im Leben. Der Blick in den Spiegel wird kritischer. Die Leichtigkeit der Jugend schwindet. Doch etwas in uns nimmt auch Anlauf. Wir sind ja mittendrin. Und fühlen uns manchmal präsenter denn je. Christiane Hastrich und Barbara Lueg blicken ehrlich auf die Jahre zwischen 50 und 60, in denen so viel passiert: Kinder verlassen das Haus und fädeln sich in ihr eigenes Leben. Ehen scheitern. Eltern werden alt und sterben. Aber es locken auch Neuanfänge. Wartet irgendwo eine neue Liebe, oder war es das mit dem Sex? Geht noch was im Job? Wie viel Fitness brauchen wir? Ist immer noch alles möglich? Diesen Fragen stellen sich die Autorinnen ohne Scheuklappen, mit großer Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit und auch mit Humor. Sie ziehen Experten zu Rate, befragen Gleich- altrige, gleichen ihre Thesen mit Fakten ab. Und machen Mut und Lust auf dieses Lebensjahrzehnt der Generation Babyboomer.

Die Autorinnen

Barbara Lueg, geboren 1965 im Rheinland, studierte Kunstgeschichte und Politik und arbeitet als Fernsehreporterin für aktuelle Nachrichten und längere Dokumentations- formate. Sie wohnt mit ihren beiden Söhnen in München, ihre Tochter studiert in Hamburg. Vom Vater der Kinder getrennt, lebt sie seit vielen Jahren mit einer Frau.

Christiane Hastrich, geboren 1965 im Rheinland, studierte Japanologie und Personalmanagement und arbeitet als Fernsehredakteurin im aktuellen Nachrichtengeschäft. Als wiederverheiratete Patchwork-Mutter von fünf erwachsenen Kindern pendelt sie zwischen Nürnberg und München.

Für uns alle

Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de


ISBN 978-3-96161-508-7


© 2018 Julia Eisele Verlags GmbH, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: ©Bariskina/Shutterstock.com

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Christiane Hastrich
Barbara Lueg

Einleitung

»Wer die Perspektive ändert,
sieht die Dinge in einem ganz
anderen Licht.«

— Engelbert Schinkel

Wir sind viele. Sehr viele – die Babyboomer, geboren in den Sechzigern. Wir sind die breite Masse. Haben Sie gewusst, dass heute rund vierzig Prozent aller Deutschen zwischen fünfzig und sechzig sind?

Das Leben von uns Fünfzigjährigen steckt voller Möglichkeiten,voller Aufschwung, Herausforderung und Veränderung. Aber gleichzeitig kommen wir bei aller Bewegtheit auch ein Stück zur Ruhe.

Darüber wollen wir uns austauschen. Selbst Anfang fünfzig, erzählen wir von unseren Erfahrungen, von Lebens­wegen, von Hoffnungen, Träumen und Chancen. Wir haben mit vielen Frauen diskutiert, stundenlang geredet, gelacht und auch ein paar Tränen vergossen. Was für aufregende Gespräche, welch unglaubliche Lebensgeschichten! ­Inspirierend für uns alle. Mutmachend. Bereichernd. Wir wollten all das teilen.

Und so erzählt dieses Buch aus dem Leben – konkret und unverblümt.

Wir haben alles aufgeschrieben. Mal gemeinsam, mal alleine. Nächtelang. Mit und ohne Prosecco. Manche Fragen wa­ren so groß, dass wir Experten um Antworten gebeten haben.

Vor allem aber wollten wir ehrlich auf diese Lebens­phase schauen, die für die meisten von uns ein Umbruch ist. Warum sollten wir uns etwas vormachen? Tatsächlich passiert doch etwas mit uns, mit unserem Selbstverständnis, mit unserer Sicht auf die Dinge.

Schon der fünfzigste Geburtstag war für uns alle eine Zäsur. Für die allermeisten eine Sollbruchstelle im Leben. Eine Schwelle zu etwas Neuem.

Was ist noch möglich an Neuanfängen? Was geht vorbei, was rückt an die Leerstellen? Wie soll das alles funktionieren? Wie machen wir das Beste aus dem Älterwerden?

Kinder verlassen das Haus und fädeln sich in ihr eigenes Leben. Ehen scheitern. Verluste schmerzen. Neuanfänge locken. Wartet irgendwo eine neue Liebe, oder war es das mit dem Sex, den Affären, der Lust? Wie wichtig sind neue Freundschaften oder alte Bande, die wieder neu geknüpft werden?

Dieses Jahrzehnt zwischen fünfzig und sechzig ist auch eine Zeit, in der wir lernen müssen, Abschied zu nehmen. Eltern werden alt, dement, gebrechlich. Eltern sterben.

Gleichzeitig stehen wir noch mitten im Berufsleben. Die Zeit für Karriere wird knapp. Geht da noch was im Job?

Wenn wir jetzt nicht unsere Lebensträume anpacken – wann dann? Wie viel Zeit haben wir noch für Veränderung? Reicht das Geld für alles, was uns erwartet? Ist immer noch alles möglich?

Der Blick in den Spiegel ist kritischer, manchmal ernüchternd. Wir schauen auf neue Dellen am Oberschenkel, liebäugeln mit Ponyfransen für die faltendurchwebte Stirn, trinken aber lieber doch erst mal ein kaltes Glas Rosé.

Der Körper ist im Wandel, das Selbstbild wankt. Die jugendliche Leichtigkeit ist immer noch in uns, wenn auch von außen nicht gleich sichtbar. Haarrisse ziehen sich spürbar durch unser Leben. Doch etwas in uns nimmt auch Anlauf. Wir sind ja mittendrin. Und fühlen uns manchmal präsenter denn je.

An dieser Schwelle schlagen wir unser Zelt auf, verweilen ein wenig und schauen gemeinsam in einen aufgewühlten Horizont. Denn uns eint in dieser Lebensphase viel. Wenn wir uns heute untereinander austauschen, merken wir schnell: Wir kreisen um dieselben Themen.

Was hinter uns liegt, war schön, glücklich, aufregend, beflügelnd. Es war auch stressig, lauwarm, nervig, traurig – und manches Mal kraftraubend. Es gab fulminante Jahre und starre, bleierne Zeiten. Und jetzt? Jetzt, in dieser Lebensphase, wollen wir nach vorne schauen.

Umbruch – ja! Alles ist im Umbruch. Manches daran be­freit. Anderes bedrängt, macht Angst. Wir loten unser Leben aus, wohlwissend, dass langsam aber sicher auch die eigene Vergänglichkeit näher rückt. Aber bis dahin ist noch jede Menge Zeit für Abenteuer.

Rilke sagt: »Leben Sie die Fragen.« Das tun wir. Aber Antworten wären auch nicht schlecht. Dieses Buch soll dabei helfen.

– CHRISTIANE HASTRICH –

52 Jahre, geschieden und
wieder verheiratet Redakteurin.
Zwei Töchter, 21 und 18 Jahre.
Zwei Stiefsöhne, 21 und 19 Jahre,
eine Stieftochter, 19 Jahre.

Wie haben Sie Ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert?

Im Kreise meiner Lieben, mit meinem Mann, den fünf Kindern, der Familie und engen Freunden – wir haben alle gemeinsam an einer sehr langen Tafel gesessen und, obwohl Karfreitag war, Nürnberger »Schäufele« gegessen. Dafür hatten unsere Kinder die ganze Wohnung umgeräumt. Es war keine wilde, sondern eher eine innige, intime Party mit vierzig Leuten.

Wenn Sie in den Spiegel schauen, wen sehen Sie?

Momentaufnahmen von mir. Gezeichnet von meinem Temperament – mit Zornes- und Lachfalten. Eine schöne Frau, je nach Tagesverfassung. Aber auch eine, die sich immer wieder neu entdeckt und sich manchmal wundert, den Kopf schüttelt, über sich – da im Spiegel.

Leben Sie so, wie Sie es sich gewünscht haben?

Ich habe immer von einem kleinen Haus geträumt, einem eigenen Reich, mit einer großen Familie. Alles ist auch so gekommen – nur irgendwie anders. Meine Familie ist groß, allerdings weit verzweigt, verstreut. Eine Patchwork-Familie mit vielen Wurzeln anstatt einer starken. Ich genieße diese Vielfalt, sehne mich aber auch nach einem Ruhepol an einem einzigen Ort. Mein zweiter Mann und ich pendeln zwischen München und Nürnberg, meine Geschwister und meine Mutter leben in Nordrhein-Westfalen. Das Häuschen, von dem ich immer träumte, ist sehr gemütlich, aber leider nur gemietet.

Worauf sind Sie stolz?

Ich bin nie einen geraden Weg gegangen, habe meine Träume und Ideen leben dürfen. Ich habe es trotzdem geschafft, einen Beruf zu finden, der mir Freude macht und es mir ermöglicht, unabhängig zu sein. Ich verdiene genug, um meinen beiden leiblichen Töchtern die Freiheit zu lassen, ihren Weg zu gehen. Diese Chance haben mir meine Eltern auch gegeben, und ich wollte es ihnen immer gleichtun. Ich bin stolz, wenn ich merke, dass ich etwas bewirken kann – zu Hause in der Familie, aber auch im Job.

Was war die größte Wendung in Ihrem Leben?

Der Schritt, im Studium nach Japan zu gehen. Anschließend bin ich der Liebe wegen kurzentschlossen nach ­Bayern gezogen und aus dem engen Familiengeflecht ausgebrochen.

Mit neununddreißig Jahren habe ich meinen jetzigen Mann mit Hilfe einer Partnervermittlung im Internet kennengelernt. Gemeinsam gestalten wir ein sehr abwechslungsreiches, turbulentes Großfamilienleben. Mit diesem Glück hatte ich nicht mehr gerechnet.

Was hat Sie rückblickend am meisten erschüttert?

Ich wähnte mich in einem sicheren Fahrwasser, lebte in einer Ehe mit zwei kleinen Kindern und einem tollen Job. Von mir unbemerkt hatte sich der Vater meiner Kinder ein Doppelleben aufgebaut. Er hatte über ein Jahr lang eine Geliebte, die schließlich schwanger wurde. Ich war schockiert von meiner Naivität, diesem blinden Fleck, und dem Verlust des Familienlebens. Von heute auf morgen musste ich meine Töchter an Wochenenden zu einer fremden Frau geben und blieb alleine zurück. Der Schmerz darüber hat mich lange gequält. Das dauernde Jonglieren zwischen Kindern und Job hat mich oft seelisch und nervlich belastet.

Wie wichtig sind Ihnen Liebe und Sex in dieser Lebensphase?

Ohne Liebe kann das Leben nicht warm sein und Geborgenheit geben. Für mich ist Liebe Heimat und Wurzel. Wilde Abenteuer und Lust finde ich stets verlockend, zum Glück habe ich einen Mann, bei dem ich das finde. Sich nicht täglich zu sehen, macht den Sex zu etwas Besonderem. Sex schafft eine Nähe, auf die ich nicht verzichten möchte.

Was haben Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Ich möchte weiter ein aufregendes Leben führen, aber dabei auch lernen, auf kleinen Inseln immer wieder zur Ruhe zu kommen. Ich möchte meine Kinder loslassen und dennoch weiterhin für sie da sein. Ich möchte auch in der Zukunft eine befruchtende Ehe führen. Ich möchte die verbleibende gemeinsame Zeit mit meiner Mutter auskosten. Auch was den Sport und die Fitness angeht, mag ich mich im richtigen Maß fordern. Vielleicht auch etwas Ehrgeiz ­herausnehmen.

Beschreiben Sie Ihren Herzenswunsch?

Jeden Tag mit Kraft, Leidenschaft und Fröhlichkeit genießen können! Gewappnet sein für die Herausforderungen des Lebens. Eine Stütze sein für andere.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis in dieser Lebensphase?

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Am Ende steht man selbst in der Verantwortung, das Beste aus seinem Leben zu machen. Das gilt für jede Phase des Lebens. Glück ist immer ein Moment und nicht selbstverständlich. Heute weiß ich, dass »Hauptsache gesund« kein blöder Spruch ist und Altern eine Herausforderung.

Was tut Ihnen heute gut? Was beflügelt sie?

Auf dem Kopf stehen beim Yoga. Andere Blickwinkel ausprobieren. Durchatmen in klarer Luft, vorzugsweise auf Norderney oder in Florida. Ein Familienessen, bei dem alle reden und genießen. Kleine und große Reisen. Ein Tag voller Herausforderungen und Stress, der am Abend erfolgreich zu Ende geht.

– BARBARA LUEG –

52 Jahre, getrennt, seit
sieben Jahren wieder
liiert. Redakteurin. Eine
Tochter, 21 Jahre,
zwei Söhne, 19 und 14 Jahre.

Wie haben Sie Ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert?

Ich habe bei mir zu Hause in der Wohnung eine große Party gefeiert – in meinen Geburtstag hinein. Mit engsten und engen, mit uralten, alten und neueren Freunden aus fünf Jahrzehnten. Alle waren da. Um Mitternacht bin ich dann wirklich reich beschenkt worden, mit witzigen und gefühlvollen Reden und viel Herzlichkeit. Das war großartig und hat mich sehr gerührt. Wir haben getanzt bis morgens um fünf.

Wenn Sie in den Spiegel schauen, wen sehen Sie?

Das variiert je nach Tagesform. Auf jeden Fall sehe ich ziemlich viel Leben, das sich da so eingraviert hat. Ich sehe die Abenteuer, die Widrigkeiten, tolle Jahre, manchmal Erschöpfung und schwierige Zeiten, viel Leben, ja. Ich bin älter geworden, aber ich erkenne mich in allen Facetten ganz gut.

Leben Sie so, wie Sie es sich gewünscht haben?

Im Prinzip ja. Ich lebe mitten in einer Stadt, die ich liebe, in einem Viertel mit viel Lebendigkeit drum herum. Gerne hätte ich mal im Ausland gelebt und gearbeitet, aber es gab immer zu viel und zu viele zu bedenken. Und am Ende war das eben immer wichtiger.

Worauf sind Sie stolz?

Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe: drei Kinder, die ich hauptsächlich alleine großzog und -ziehe und die, so glaube ich, das Rüstzeug für ein schönes und selbstbewusstes Leben haben; enge Freundschaften, die häufig über Jahrzehnte gewachsen sind und mir viel bedeuten; ein Job, der mich erfüllt, viele Möglichkeiten bereithält und mich finanziell völlig unabhängig macht. Das ist sehr viel, finde ich.

Was war die größte Wendung in Ihrem Leben?

Die größte Wendung in meinem Leben war eine Brustkrebs­erkrankung vor neun Jahren. Sie war letztlich die Initialzündung, mich aus einer damals für mich sehr unglücklich gewordenen Beziehung zum Vater der Kinder zu lösen. Es war ein Kraftakt, denn meine drei Kinder waren noch klein. Aber es war richtig. Denn gleichzeitig eröffnete sich mir damit eine neue Welt. Seit vielen Jahren bin ich nun glücklich liiert mit einer Frau.

Was hat Sie rückblickend am meisten erschüttert?

Am meisten erschüttert hat mich der Tod meiner Eltern. Mein Vater starb vor siebzehn, meine Mutter vor zwei Jahren. Beide hatten Krebs. Die Machtlosigkeit, dieser unaufhaltsame Weg in den Tod, waren furchtbar und gnadenlos.

Wie wichtig sind Ihnen Liebe und Sex in dieser Lebensphase?

Liebe ist immer essentiell für ein schönes Leben. In jeder Lebensphase. Und natürlich ist für mich auch körperliche Nähe wichtig. Das hört vermutlich nie auf, sondern verlagert sich wohl einfach nur. Sex ohne Liebe brauche ich nicht mehr, aber das war noch nie so wirklich mein Ding. Liebe, tiefe Verbundenheit und Vertrauen bringen alles Weitere mit sich.

Was haben Sie sich für die nächsten Jahre vorgenommen?

Ich möchte auch weiterhin ein spannendes Leben führen. In einer Beziehung, die uns beide schützt, liebevoll, tolerant und lebendig ist; mit vertrauten Menschen, die mit mir wippen und meine Welt manchmal auch auf den Kopf stellen; natürlich mit meinen Kindern, die in ihr Leben ziehen und dennoch ihre Heimat bei mir haben; mit Begegnungen und Abenteuern, aus denen ich lernen kann; aber auch – ganz wichtig – mit innerlichem Frieden.

Beschreiben Sie Ihren Herzenswunsch?

Mein Herzenswunsch ist Gesundheit für alle Menschen um mich herum. Und für mich selbst natürlich auch.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis in dieser Lebensphase?

Ich glaube, Glück ist auch eine Entscheidung. Man kann andere Menschen nicht verbiegen, aber man sollte auch nie aufhören, für sein Glück zu kämpfen. Jeder ist selbst für sein Leben verantwortlich, für das, was er oder sie daraus macht. Und – wenn möglich – sollte man in jedem Tag einen Moment finden, den man feiert.

Was tut Ihnen heute gut? Was beflügelt Sie?

Wenn ich das Gefühl habe, alles um mich herum ist stimmig. Das verleiht mir Flügel; Der fiebrige Moment am Flughafen, bevor die Reise losgeht; vollendete Augenblicke; ein langer Tisch mit Freunden und Familie; ein Sommergewitter; Situationskomik; ein vertrauter, komplizenhafter Blick in der Menge; wenn alles anders kommt als geplant; gute Musik; Ruhe und Frieden.

Falten, Fitness und
Gin Tonic

»Nur wer sein Alter verleugnet,
fühlt sich wirklich alt.«

— Lilli Palmer

Die gute Nachricht zuerst: Alter befreit. Irgendwann je­den­falls.

Wenn ich am Strand neben meiner einundzwanzigjährigen Tochter liege, die sich mit ihrer süßen Figur in der Sonne rekelt, dann ist die Entfernung zwischen unseren Welten – also zwischen ihrem Bikini und meinem Badeanzug mitsamt Inhalt – so gigantisch, dass sich jeder Vergleich verbietet. Und das ist auch gut so.

Trotzdem: Ich sah ja auch mal so aus, und manchmal träume ich mich dann wehmütig in eine weite Vergangenheit voller Strandtage mit selbstgedrehten Zigaretten und Knutschorgien mit jungen Griechen, die auf endlosen Interrailzugreisen durch Europa so schnell sie gekommen sind auch wieder vergessen waren. Damals war ich jünger als meine Tochter heute. Und mein Körper war ein selbstverständliches Gedicht. Aber zugegeben, das ist nun wirklich lange her.

Bikinis waren gestern, inzwischen bevorzuge ich Badeanzüge. Bikinis stressen mich zu sehr. Seit ich Einteiler mit gerafftem Stoff in der Bauchgegend entdeckt habe, schlage ich am Strand frei auf. Ich überlasse meine Umwelt ihrer Fantasie. Sollen sie sich doch denken, was sich unter denn Stofffalten verbirgt.

Im Großen und Ganzen hab ich mich doch gut gehalten. Auf jeden Fall besser als die eine oder andere Freundin. Ich gebe zu, hin und wieder beflügelt mich diese sehr subjektive Erkenntnis, und dann werde ich überschwänglich. Dann kann es sogar vorkommen, dass ich ein wenig kokettiere und mich auf Nachfrage schon mal ein Jahr älter gebe. »Klar bin ich über fünfzig, und ach, das hätten Sie nun nicht gedacht?« Dann ignoriere ich die innere Stimme, die mir leise seufzend zuraunt: »Na ja, früher war ich einfach schöner. Und hatte ich mich irgendwie nicht jünger in Erinnerung?«

Manchmal ist es einfach nötig, gnädig mit sich selbst zu sein. Der Blickwinkel entscheidet zwischen Wohlgefühl und Frust. Dann stelle ich mich eben ein wenig seitlich vor den Spiegel, ziehe den Bauch ein und denke: Sieht doch gar nicht so schlecht aus! Wenn man um die fünfzig ist, hilft ein wenig Abstand.

Ja, es gibt die guten Tage, die einen mit dieser Aura umwehen. Tage, in denen ich nur so vor Strahlkraft strotze, die nach innen und nach außen wirkt. Es ist in alle Richtungen spürbar: Dinge gelingen, der Gang ist aufrecht, die ­Augen hellwach. Den Blick in den Spiegel braucht es da fast gar nicht. Wie schön wäre es, wenn man dieses herrliche Gefühl in einen Cremetopf stopfen könnte, um es hübsch aufzuteilen.

Aber vielleicht gibt es diese Tage ja auch nur, weil es auch die anderen gibt: Tage, an denen die teuerste Anti-­Aging-Tinktur nicht weiter hilft, die Augenringe dunkelgrau und leicht geschwollen sind. Die Falten tief wie Krater. Entsetzlich. So sah ich doch nie aus, denken Sie? Wann ist das eigentlich alles passiert? Wann sind aus den straffen Wangen diese kleinen, komischen Hängebacken geworden? Wann hat sich ihr Leben so spinnennetzartig in ihr Gesicht graviert?

Meine neueste Entdeckung sind Abdrücke meiner Wimperntusche am oberen Lidrand. Mein Lid hat sich nun offensichtlich so weit abgesenkt, dass jeder Wimpern­aufschlag Spuren hinterlässt. Augen aufreißen nutzt da nichts mehr. Noch versuche ich es weitgehend zu ignorieren. Allerdings trage ich jetzt immer ein wenig Augen-­Make-up-Entferner bei mir, um gerüstet zu sein.

»Mit fünfzig hat jeder das Gesicht, das er verdient.«

— George Orwell

Tatsächlich kenne ich einige Freundinnen, die sich die ­Augenlider geliftet und diese unfreundliche Stirnfalte lahmgelegt haben. Ein ideales Geschenk zum fünfzigsten Geburtstag, fanden sie. An die große Glocke hängen wollte es keine. Aber natürlich war allen Verbündeten, allen Gleichaltrigen klar: Diese riesige Sonnenbrille im Winter, diese neuen Ponyfransen im Gesicht – das war ein State­ment. Eine Entscheidung. Eine Kampfansage. Etwas neidvoll gierten wir anderen darauf, hinter die Brille zu blicken.

Wochen später sah ich sie dann: die leicht veredelte Version, das Update meiner alten Freundin. Ich muss zugeben, es sah nicht übel aus. Die Stirn geglättet, die Augen rund und schön. Nach dem kleinen Eingriff fühlte sie sich auch tatsächlich jünger, irgendwie frischer. Und hübscher.

Also doch Botox und Co? Soll das etwa unsere Antwort sein? Siegt Schönheit über ein gewinnendes Wesen?

Wohl kaum.

Siegt ein völlig absurder Jugendwahn über Charme und Humor?

Niemals.

Aber trotzdem liegt die Wahrheit vielleicht irgendwo dazwischen. Mit fünfzigplus leben wir in diesen stillen Übergängen. Vertraute Muster verlieren ihre Verlässlichkeit. Extreme ihren Reiz und ihren Sog. Es gibt eine weise Übersicht über das, was wir abfedern und was wir aushalten können. Diese innere und äußere Veränderung, die das Älterwerden begleitet, befreit auch ungemein. Wir müssen nicht mehr alles. Wie herrlich! Unsere Welt ist groß, unser Herz ist voll und unser Blick für das Wesentliche geschärft.

Und doch bleibt es befremdlich, wenn die Kosmetikverkäuferin höflich nachfragt, ob man schon in die ­Restaurations- oder noch in die Erhaltungsphase gehöre.
Was für schreckliche Worte. Ich plädiere jetzt einfach mal für Letzteres.

»Man braucht zehn Jahre, um sich an sein Alter zu gewöhnen.«

— Zsa Zsa Gabor

Wie haben das eigentlich unsere Mütter gemacht? Wie haben sie ihren inneren Frieden mit dem Älterwerden gefunden? Ich kann mich an keine Klagen erinnern. Aber die Generation vor uns neigt ohnehin nicht zu Larmoyanz. Sie haben ihre Kindheit ja im Krieg gelassen und wuchsen später in die engen Fünfzigerjahre. Geschlechteraufgaben waren klar verteilt, das Äußere verhielt sich im Einklang zu den gesellschaftlichen Vorgaben. Sie haben sich einfach in ihre Bestimmung gefügt.

Wir hingegen wuchsen meist in Reihenhaussiedlungen mit Lassie, Flipper und Bonanza auf. Die größten modischen Kämpfe gab es zwischen Poppern mit V-Ausschnitt-Trägern, Punkern und den Freaks in indischen Hängekleidern. Wir haben die Unterschiedlichkeit kultiviert und genossen. Wir studierten Germanistik oder machten eine Banklehre, unser Leben war im Rückblick chancenreich und sorglos.

Ein wenig von unserer damaligen Leichtigkeit würde uns heute wohl ganz gut tun. Vielleicht sollten wir uns im Älterwerden überhaupt öfter mal auf frühere Empfindungen besinnen. Sich Stimmungen und Bilder in Erinnerung rufen, Zuversicht und Gefühle heraufbeschwören, die einst unbeschwert und glücklich machten: in Latzhosen auf der Wiese liegen; auf Mofas in den Sonnenaufgang tuckern; das Leben in allen Farben feiern, weil es ohnehin weiter marschiert. Ach, war das schön.

»Nicht ich werde älter,
sondern mein Kameramann.«

— Doris Day

Wie gut tut es, einfach mal aufs Äußere zu pfeifen. Auch mal ungeschminkt in Jogginghose zum Einkaufen zu gehen.

Wie viel Zeit und Mühe ich mir für mein Äußeres geben möchte, hängt neuerdings von meiner Tagesform ab, weniger von gesellschaftlichen Erwartungen.

Eine Freundin, sie war in jungen Jahren Mannequin, hat sich kurze Röcke nun verboten. Einfach so und prinzipiell, obwohl sie noch nicht mal fette oder unförmige Knie hat und es sich eigentlich noch leisten könnte. Sie wagt den Balanceakt zwischen modischem Aussehen und albernem Jugendwahn. Sie durchforstet zielgerichtet jede neue Kollektion bei H&M, schert sich nicht um Kommentare von anderen und weiß, was ihr steht. Sie kennt ihre optischen Stärken, die Schokoladenseite, den richtigen Schnitt, um ihre Figur zu betonen. Beneidenswert.

Leider geht mir das nicht immer so. Ich liefere idealen Stoff für Tratsch und Lästerei, wenn das neue Kleid von vorne super Kurven macht, von hinten aber leider auch; wenn die neue Jeans in der Garderobe noch knackig scheint, zu Hause aber den Hüftansatz erbarmungslos über den Gürtel treibt.

Mein letzter Fehlkauf liegt nach einem abendlichen Auftritt ganz hinten im Schrank. Die neue Schlaghose war schon in der Umkleide recht eng, aber da war ich noch zuversichtlich. Leider gab das Ding trotz Körperwärme nicht nach. Die Party musste ich stehend verbringen, die Heimfahrt mit der Straßenbahn auch. Sitzen hätte mich schier in die Ohnmacht getrieben.

Also modisch sein um jeden Preis? Muss nicht sein. Sich gänzlich treiben zu lassen, zu neuen grauhaarigen Ufern? Muss auch nicht sein. Einerseits beeindruckt mich die Gelassenheit, sich einfach gehen zu lassen, anderseits – ob ich da hin will? Ich hadere noch mit mir. Unser Körper verändert sich nun mal, deshalb muss man ja nicht in Sack und Asche gehen.

Das Tröstliche ist: Wir können eigentlich nichts dafür. Vieles ist genetisch veranlagt. Ab fünfzig verlieren die meisten von uns die Taille. Röllchen wachsen gleich unter dem Busen. Die einen entwickeln sich Richtung Menopause zum eher runden Typ: füllig am mittleren Ring und schlank am Bein. Dafür wirken sie aber erstaunlich faltenfrei, schön aufgepolstert, auch im Gesicht. Das sind die Miederhöschen-Fans. Dazu zähle ich.

Die anderen werden hager. Der Po hängt und verliert an Form und Fülle. Der Hals wird immer länger, die Falten prägnanter. Dafür können die Hageren Shiftkleider – dem Po-Former-Slip sei Dank – tragen, hohe Schuhe und passen locker in Größe 38.

Alles hat Vor- und Nachteile.

»Damit das Mögliche entsteht,
muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.«

— Hermann Hesse

Eine meiner Bekannten begann mit Ende vierzig zu laufen. Nicht einfach nur zu joggen, nein, zu rennen. Marathon. Binnen eines Jahres verlor sie zwanzig Kilo, und jetzt, mit über fünfzig, hat sie sich für ihren ersten Wettkampf angemeldet. Sie läuft nicht, um abzunehmen, na, vielleicht auch, aber viel mehr genießt sie die Ruhe, die Zeit mit sich selbst. Sie ist stolz auf sich. Zu Recht, finde ich.

Eine andere Freundin hat sich kürzlich zur Yogalehrerin ausbilden lassen. Sie schätzt die neue innere Ausgeglichenheit und Beweglichkeit. Yoga hilft ihr dabei, abzuschalten und sich auf sich und ihren Körper zu besinnen. Sie pflegt ihn und findet ihre Schönheit nun auf eine neue Art.

Wiederum eine andere hat nach der Trennung von ihrem Mann mit Mountainbiking begonnen. Im Vorbeitreten hat sie einen Jüngeren kennengelernt und genoss für eine Weile den zweiten Frühling. Doch irgendwann, nach etlichen stundenlangen Radtouren, war sie völlig erledigt. Den Extremsport und den dazugehörigen Mann hat sie mittlerweile aufgegeben. Sie ist irgendwie erleichtert, sagt sie. Denn jetzt hat sie ihr eigenes Tempo gefunden und möchte nicht mehr wetteifern.

Auch meine Herausforderung besteht darin, das richtige Maß zu finden. Sonst drohen Fersensporn, entzündete Achillessehnen, Muskelfaserrisse. Bei mir kam alles nacheinander.

Früher bin ich zwei- bis dreimal wöchentlich joggen gegangen. Meine Runde im Englischen Garten war nicht riesig, aber ausreichend. Doch irgendwann begannen meine Knie zu schmerzen. Anfangs habe ich es ignoriert und bin weitergerannt, aber schließlich tat es so weh, dass ich auf Parkbänken Pause machen musste. Oft sind dann auch noch gut gelaunte Rentner mit ihren Walking-Stöcken an mir vorbeigezogen.

Es hat Wochen gedauert, bis ich mir eingestehen konnte, dass es vielleicht Zeit für einen Wechsel sei. Dass damit nichts zu Ende geht, sondern einfach nur etwas Neues hinzukommt. Dass Walken vielleicht ein Symbol fürs Älterwerden sein mag, aber daran auch nichts Verwerfliches ist.

Dinge ändern sich nun mal. Der Körper ändert sich. Und ich habe entschieden, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen.

Was gestern einen Sinn ergeben hat, ist heute vielleicht für mich sinnlos. Heute suche ich neue Möglichkeiten und Chancen, statt alten nachzutrauern. Heute bündele ich meine Kraft, weiß, was mir gut tut und welche Vorlieben ich habe. Heute kann ich Nein sagen. Und ich finde, das ist doch schon mal was.

Übrigens jogge und walke ich heute im Wechsel, und manchmal habe ich auch zu keinem von beidem Lust und lasse es ganz. Meine Knie schmerzen seither überhaupt nicht mehr.

»Altern heißt, sich über sich selbst klar zu werden.«

— Simone de Beauvoir

Aber wir sind eben nicht alle gleich. Manche treibt der Ehrgeiz über die eigene Grenze hinaus, vielleicht heute mehr als früher. Woher das wohl kommen mag? Auf die Disziplinierten schaue ich zuweilen ja eher etwas herablassend, aus Gründen der Selbsterhaltung. Ich fürchte, ich gehöre zu denen, die ohne Maß sind, wenn es um Zigaretten, Alkohol, Kuchen oder Sport geht. Ich überschreite meine Grenzen gerne und feiere die Ausnahme. In Wahrheit bin ich vielleicht neidisch auf die anderen, die sich immer an die Regeln halten. Mit über fünfzig immer noch oder mehr denn je.

Eine Bekannte prahlt gern mit ihren erwanderten Höhenmetern in den Bergen. Eine andere ist stolz darauf, immer noch ein Rad schlagen und mit fünfzig noch minutenlang auf dem Kopf stehen zu können. Sie geben zu, diese Anerkennung zu brauchen, weil sie noch nicht bereit sind für den Mittelweg. Sie geben zu, schlichtweg Angst zu haben vor dem Gefühl, etwas nicht mehr zu können. Sie ­wollen dem Alterungsprozess trotzen, obwohl sie wissen, dass er sie einholen wird. Aber bitte noch nicht jetzt.

Im Büro jedenfalls fallen in letzter Zeit viele der fünfzigplusjährigen Kolleginnen durch bunte Bandagen auf: zu viel Poweryoga, zu viel Bergsteigen, zu viel Tennis. Telefonnummern von guten Physiotherapeuten und Osteopathen sind heiße Ware.

Ich bin jetzt vom Yoga auf dem Wohnzimmerteppich aufs Trampolin umgestiegen. Denn »Trampolinhüpfen verbrennt Kalorien und schont die Gelenke«, stand in der Werbung. Auf den Bildern, die für das Gerät warben, hüpften Frauen in engen Jazzpants und mit wippenden Pferdeschwänzen auf und ab. Sie wirkten irgendwie glücklich auf dem Ding, fand ich, und sahen so dynamisch aus. Das reichte als Kaufargument für mich völlig aus.

Ich habe mir also ein Mini-Trampolin von Tchibo bestellt. Mit praktischem Haltegriff. Damit man nicht runterkippt. Aber bevor ich mich morgens auf das Gerät stelle und loshüpfe, warte ich, bis meine Söhne aus dem Haus sind. Sie können den Anblick nämlich nur schwer ertragen. Ich finde aber, die Fettverbrennung ist nicht übel.

Immer mehr von uns spüren ihr Alter. Nach Bandscheibenvorfällen sitzen sie auf dem neuen »Swopper«-Schreibtischstuhl oder arbeiten am Stehpult. Sie trainieren ihre Schwachstellen zu Hause oder im Fitnessclub. Regelmäßig. Sie sind einfach froh, wenn nichts mehr weh tut und sie dabei auch noch die eine oder andere Kalorie verbrauchen.

Eine Freundin wollte mit minimalstem Aufwand das Maximale rausholen und ließ sich eine Zeitlang in diese Ganzkörper-Elektro-Stimulationsanzüge stecken. Dreimal wöchentlich quetschte sie sich in eine Art elektrischen Neoprenanzug, stand da wie eine Fleischwurst, umringt von gestählten Mitarbeiterinnen, die lächelnd den Strom aufdrehten. Verglichen damit ist mein Trampolingehüpfe ein geradezu würdevoller Akt.

Nach fünf Wochen gab meine Freundin ermattet auf, weil die neugewonnene Muskelmasse sie immer schwerer werden ließ.

»Die Zeit ist eine große Meisterin, sie ordnet viele Dinge.«

— Pierre Corneille

Kennen Sie das? Schwarze Nacht, draußen alles dunkel. Der Blick zur Uhr: 3:43. Dabei waren Sie am Abend zuvor todmüde. Der Körper fühlt sich immer noch bleischwer an – aber die Gedanken toben, kreisen unaufhörlich in Ihrem Kopf ­herum: Soll ich nicht doch eine Wohnung als Alterssitz kaufen, obwohl ich nicht genügend Geld habe? Schafft das Kind die Mathearbeit? War ich zu kleinlaut im letzten ­Meeting? Habe ich eigentlich schon die Geschenke für die Party am Samstag? Die nächsten Tage mal ohne Alkohol, diesmal wirklich. Sollten wir mal wieder einen Paarurlaub planen? Aber habe ich dazu eigentlich Lust? Ist dieses komische Muttermal vielleicht doch Krebs? 4:28 Uhr. Nur noch eineinhalb Stunden, bis der Wecker geht. Ich lege mich auf den Rücken und atme. Hilft nichts. Ich schalte auf dem Handy die Regen-App ein. Das soll beruhigen. 4:45 Uhr. Wie soll ich den Tag schaffen? Eins ist sicher, früher habe ich besser geschlafen. Hat das mit dem Stress oder mit dem Alter zu tun?