WER FLÜCHTET SCHON
FREIWILLIG
Die Verantwortung des Westens oder Warum sich
unsere Gesellschaft neu erfinden muss
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ISBN 978-3-86489-634-7
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2015
Umschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung
Umschlagfotos:
© Foto Katja Kipping: Anke Fleig/SVEN SIMON/picture alliance
© Hintergrundmotiv: Ulrik Pedersen/NurPhoto/ picture alliance
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Inhalt
Anstelle eines Vorworts: »Das Floß der Medusa«
1 Fluchtursachen: Das Verdrängte wird sichtbar
Westliche Handelspolitik
Imperiale Außenpolitik und Militarisierung
Rassistische Verfolgung
Fluchtursache der Zukunft: Klimawandel
Fluchtursache mit System: Der Krisenkapitalismus und die
Notwendigkeit einer demokratischen Exitstrategie
2 Die Reaktionen der Herrschenden
Von wegen Überfüllung – Noch nicht mal zwei auf hundert
Asylrechtsverschärfung – Das Skript von Rostock-Lichtenhagen reloaded?
Krieg gegen Schlepper – Fluchthelfer war gestern
Ein Ring, sie zu knechten
Guter Flüchtling – falscher Flüchtling
Institutionelles Versagen: Die Inszenierung des Notstands
3 Rassistischer Mob und Public Viewing
4 Grund zur Hoffnung: Wie die aktuellen Entwicklungen unsere Gesellschaft positiv verändern (können)
#thisisamovement
Eigensinn der Flucht
Nicht Belastung, sondern Bereicherung
5 Migration damals, heute und morgen
Migration in der Geschichte
Deutschland heute: ein Einwanderungsland
Für ein neues Verständnis von Kultur
6 Reaktionen, die notwendig wären
Fünf Maßnahmen gegen den wachsenden Rassismus
Zeit für Um-fair-teilen und mehr Personal in Bildung
Die (Leucht-)Kraft des Gemeinsamen: Öffentliche Infrastruktur
Wie Phönix aus der Asche: Die EU und die Fluchtfrage
Anstelle eines Schlussworts: Ein Bild aus der Zukunft – Postkapitalismus als grenzübergreifendes Entwicklungsmodell
Dank
Abkürzungen
Anmerkungen
Literatur/Quellen
Bücher
Studien und Broschüren
Artikel
Anstelle eines Vorworts:
»Das Floß der Medusa«1
Vor rund 200 Jahren, im Jahr 1819, wird in Paris ein Gemälde des Malers Théodore Géricault ausgestellt. Diese Darstellung von Schiffbrüchigen auf bewegter See wirkte wie ein »Angriff auf die etablierte Gesellschaft«2. Und das, obwohl dieser Maler bisher eher durch romantische Darstellungen von Reitszenen, Landschaftsbilder und Porträts einfacher Leute aufgefallen war und zudem das Gemälde auf den ersten Blick frei von revolutionären Symbolen oder Pathos ist. Es zeigt schlichtweg Schiffbrüchige zwischen Verzweiflung und Hoffnung auf einem Floß im tosenden Meer, während am Horizont ein Schiff erscheint.
Und doch hat die Sorge der Herrschenden einen Grund: Medusa war das Flaggschiff eines französischen Fregattenverbands. Als es auf dem Weg nach Senegal auf Grund läuft, sichern sich der Kapitän, die höheren Offiziere und die einflussreichen Passagiere die wenigen Rettungsboote. Die übrigen Passagiere und Schiffbrüchigen müssen mit einem notdürftig zusammengezimmerten Floß auskommen. 15 Tage treibt dieses Floß auf dem Meer. In diesen 15 Tagen und Nächten kommt es zu Selbstmord, durch Hunger erzwungenen Kannibalismus und sogar zum Mord an Schwerverwundeten, um die letzten Weinreserven für die anderen aufzusparen. Nur wenige überleben. Das Gemälde fängt den Moment ein, als die Überlebenden am Horizont ein Schiff entdecken und sich diesem entgegenstrecken.
Keiner der Schiffbrüchigen hatte es sich ausgesucht, auf diesem Floß zu landen. Sie trieb einzig der Wunsch zu überleben an. Und doch ist der vom Maler Géricault geschilderte Augenblick, als die wenigen Überlebenden ein rettendes Schiff erblicken, mit solcher Verzweiflung geladen, dass die Vertreter der bourbonischen Restauration dieses Bild »als ersten Schritt zur Revolte gegen ihr Regime«3 deuteten, als ob dieses Gemälde ihnen ihre Schmach und Schuld vor Augen führen würde. Sie befürchteten, dass dieses Aufbäumen in Verzweiflung sich zum Aufruhr entwickeln könnte. Elf Jahre später, im Juni 1830, kommt es in Paris tatsächlich erneut zu Aufständen.
Mit der Darstellung und damit der Verdichtung in einen Moment drang das Leid der unterprivilegierten Passagiere der Medusa in die feine Welt der Pariser Salons ein und erinnerte an die Schuld der Eliten. Schließlich hatten die einflussreichen Passagiere der Medusa die sicheren Rettungsboote für sich in Beschlag genommen. Sie hatten zudem bei einem aufkommenden Sturm die zwei Seile, mit denen das Floß gezogen werden sollte, gekappt. Dabei war es im Gegensatz zu den Rettungsbooten nicht manövrierfähig und damit auf sie angewiesen. Allein das Thema des Gemäldes verwies auf »den Zynismus und die Selbstsucht der Regierenden«.4
Hier zeigt sich eine gewisse Parallele zu unserer heutigen Situation und den aktuellen Flüchtlingsbewegungen. Mit ihnen platzt die Systemfrage in die bis dato vermeintlich heile Welt des Merkel’schen Biedermeiers. Sie führen uns unsere Mitverantwortung vor Augen. Auch wenn keiner der Geflüchteten es sich wirklich ausgesucht hat und wohl eher der Wunsch auf ein besseres Leben sie antrieb als der Wunsch, politische Botschaften zu übersenden, so tragen sie doch eine Botschaft nach Europa. Diese lautet: So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen – so kann es nicht weitergehen.
Mit den Flüchtlingsbewegungen stellen sich die grundlegenden Gerechtigkeitsfragen mit besonderer Dringlichkeit, und ihr globaler Charakter wird in aller Deutlichkeit klar. Das ist eine der Thesen, die diesem Buch zugrunde liegen. Um sie zu erläutern, ist das erste Kapitel einer Sichtung der verschiedenen Fluchtursachen gewidmet. Auch wenn diese anfangs einzeln geschildert werden, so hängen sie doch zusammen und greifen systemisch ineinander. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem erforderlich, wenn wir Fluchtursachen wirklich bekämpfen wollen. Wie wenig die Reaktionen der Bundesregierung und der EU-Eliten dieser Herausforderung gerecht werden, wie wenig sie zudem geeignet sind, einen guten Start für das zukünftige Zusammenleben zu organisieren – und stattdessen eher dem wachsenden Rassismus in die Hände spielen –, wird im zweiten und dritten Kapitel thematisiert. Im Kontrast dazu geht es im vierten Kapitel um das, was längst Grund zur Hoffnung gibt: um all die Entwicklungen, die Mut machen, sowie um all die Belege dafür, dass Einwanderung weniger als Problem, sondern vielmehr als Bereicherung erlebt werden sollte.
Und darin liegt die zweite zentrale These, die mich zum Schreiben motiviert hat: Die jetzige Situation muss nicht zwangsläufig auf eine Apokalypse zulaufen. Sie kann vielmehr auch den Wendepunkt zum Positiven, zu einer wirklichen Demokratie in der Einwanderungsgesellschaft, zu einem Land für alle darstellen. Diese Perspektive ist eng verknüpft mit einem neuen Verständnis von Kultur – und zwar einer Kultur frei von jeglichem nationalen Reinheitsgebot oder Leitkultur-Ansprüchen. Dabei wird dieses im fünften Kapitel herausgearbeitete Verständnis von Kultur nicht allein normativ begründet, sondern auch durch einen geschichtlichen Exkurs zu Migration verdeutlicht. Im sechsten Kapitel wird schließlich erörtert, welche Schritte notwendig sind, damit aus der Hoffnung auf Demokratie in der Einwanderungsgesellschaft eine neue Realität wird. Deutlich wird: Ein sozialer Universalismus in Wort und Tat, das heißt, dass alle die tatsächliche Möglichkeit haben, ihr Leben selbst zu gestalten, kann dafür wegweisend sein. Wir brauchen eine Politik, die das Versprechen auf umfassende Teilhabe und gleiche Rechte für alle wahrmacht, indem sie den Menschen auch die materiellen Mittel in die Hand gibt, um sich praktisch zu beteiligen. Eine soziale Unionsbürgerschaft sowie eine Offensive für das Öffentliche, also einen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, die alle nutzen können, sind in diesem Sinne erste Schritte auf dem Weg zu einem solidarischen Europa der Einwanderung. Es geht dabei letztlich um nicht weniger als das Bild eines Europas, welches wieder die Hoffnung wecken kann, von der eine Demokratie lebt. Europa könnte so von einer Drohung wieder zu einem positiven Beispiel mit weltweiter Ausstrahlung werden – zu einem Kontinent für alle.