Papa mal zwei
Tobias Rebisch und sein Mann können es kaum fassen: Sie sind Eltern! Der nervenaufreibende Adoptionsprozess, das lange Warten – alles ist vergessen, als sie den kleinen Luis zum ersten Mal im Arm halten. Doch innerhalb von 24 Stunden Eltern eines Neugeborenen zu werden ist nicht so einfach, erst recht nicht für »Papi und Papa«. Zum Glück gibt es aufgeschlossene Hebammen und hilfsbereite Familienmitglieder. Aber nicht jeder aus dem Umfeld reagiert gelassen, und auch die eigenen Ansprüche ans Vatersein wollen erfüllt werden …
Von Stillkursen, Kampfmüttern und Selbstzweifeln – Tobias Rebisch erzählt offen und berührend von der Herausforderung, als schwules Paar Eltern zu sein.
TOBIAS REBISCH
ZWEI PAPAS
UND EIN BABY
Unser Leben als (fast) ganz normale Familie
Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen,
soweit sie dem Autor bekannt sind. Die genannten Personen, Orte, Umstände
und Zeiten wurden zum Schutz der Persönlichkeitsrechte anonymisiert.
Die Sicht auf die Ereignisse spiegeln die Eindrücke des Autors wider
und erheben keinen Anspruch auf objektive Wahrheit.
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Originalausgabe 04/2016
Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Friedel Wahren
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München
Umschlagfoto: Susanne Krauss, Grafing
Satz: Leingärtner, Nabburg
e-ISBN: 978-3-641-17882-6
V001
www.heyne.de
Für unseren Sohn
Inhalt
Vorwort
Von Freundschaft und Liebe
Outing
Wünsche an das Leben
Kindeswohl
Ein grauer Raum
Der Weg durch die Instanzen
Im freien Fall
Und wir fallen noch tiefer
Rückkehr nach Südafrika
Luis
Zwei Männer und ein Baby
Wieder bei Luis
Der erste Tag, die erste Nacht
Plötzlich eine Familie
Beim Stillkurs
Helikoptermütter
Papi & Papa
Taufe und Hochzeit
Trotzanfälle
Eine ganz normale Familie
Nachwort
Anhang
Weiterführende Literatur und Links
Anmerkungen
Vorwort
»Die Sonne scheint«, sagte ich. »Auf, Luis! Wir holen den Papa ab.«
Leicht verschlafen rieb er sich mit seiner kleinen Faust die Augen. Dann strahlte er. »Papa!«
Es war einer dieser Tage, an denen die Sonne nach Wochen des Regens endlich durch die Wolken drängt. Alle wollten nach draußen, ans Licht und in die Sommerluft, und mir ging es nicht anders.
Rasch wechselte ich die Windel, zog Luis an und schnappte mir die Windeltasche, Marke umfunktioniertes Laptop-Bag. Vorsichtshalber nahm ich den Buggy mit. Auch wenn Luis seit seinem ersten Geburtstag laufen konnte, überkam ihn manchmal eine gewisse Bequemlichkeit. Doch zum Tragen war er mir mit seinen eineinhalb Jahren auf Dauer schon zu schwer.
»Entlein füttern«, sagte er und sah mich auffordernd an.
»Ja, wir gehen die Enten füttern, das hab ich dir ja versprochen.«
Ich packte die Tüte mit dem harten Brot in die Buggytasche, und los ging’s.
An der Uferpromenade spazierten Einheimische und Ausflügler gleichermaßen entlang. Ich atmete tief durch.
»Schau mal, wie schön!«, sagte ich zu Luis.
In der Tat war das Panorama überwältigend. Mein Blick schweifte über den glitzernden See, die grünen Hügel und weiter hinauf zu den Bergen. Die Sicht war so klar, dass auf den hohen Gipfeln noch Schnee zu erkennen war.
Marc, mein Mann, musste dieses Wochenende an einem auswärtigen Finanzseminar teilnehmen. Also hatten wir spontan beschlossen, die Fahrt auf uns zu nehmen und die wenige freie Zeit hier gemeinsam zu verbringen.
Luis war meinem Blick gefolgt, aber anstelle des Bergpanoramas hatte er etwas viel Wichtigeres entdeckt: die Enten. Jetzt war er kaum mehr zu halten. Ich nahm ihn an die Hand, es konnte nicht schnell genug gehen. Im Stillen bereute ich, den Buggy mitgenommen zu haben. Das ewig gleiche Elternthema.
Am Ufer drängte sich eine ganze Schar Enten. Ein Schwan schwebte über das Wasser, den Hals gereckt. Ich gab Luis das Brot und half ihm dabei, kleine Brocken abzubrechen. Er nahm sich einen und überlegte kurz, ob er ihn sich nicht lieber selbst in den Mund stecken sollte. Dann entschied er sich, holte aus und warf das Brotstück Richtung Wasser.
Wenig später war er von quakenden Enten umringt, und ich hörte sein helles Kinderlachen. In diesem Moment wünschte ich mir, er könne sein ganzes Leben so unbeschwert lachen und damit seine ganze Umgebung anstecken wie auch jetzt. Ich fühlte die wohlwollenden Blicke, die uns streiften. »Wie nett, ein Vater, der sich Zeit für seinen Sohn nimmt.«
Als das Brot verfüttert war, schmiegte Luis sich an mich. Dann plötzlich richtete er sich auf.
»Papa!«, rief er, machte sich los und stürmte mit seinen strammen Beinchen auf Marc zu, der uns auf der Promenade entgegenkam.
Luis landete in seinen ausgebreiteten Armen, wurde durch die Luft gewirbelt und quietschte vor Vergnügen.
Ich blieb stehen und ließ den beiden ihren Raum, wusste ich doch, dass sie einander vermisst hatten. Unwillkürlich musste ich daran denken, wie gern ich selbst manchmal auf Marc zugelaufen wäre, am Flughafen, nach Tagen der Trennung, und ihn umarmt hätte. Aber ich hatte es nie gewagt. Hatte es uns, aber auch unserem Umfeld nicht zumuten wollen. Zwei Männer, die sich lieben und in aller Öffentlichkeit in die Arme fallen … ging das? War das denkbar?
Luis scherte sich nicht darum, warum auch? Mit der Selbstverständlichkeit eines Kindes folgte er einfach seinem Herzen. Marc war sein Papa, der gemeinsam mit mir die Verantwortung für ihn trug, ihn unendlich liebte, sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte.
Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit wir Luis adoptiert hatten. Er war das größte Geschenk unseres Lebens. Wir hatten einen langen Weg zurücklegen müssen, bis es so weit gewesen war.
Ich sah, wie Luis sich in Marcs Armen zu mir umdrehte.
»Papi!«, rief er und lächelte mich an. Ich machte mich mit dem Buggy auf den kurzen Weg zu ihnen, zwirbelte Luis’ Haar und schloss beide in die Arme. Die Blicke der Spaziergänger, die Zeugen dieser Szene geworden waren, ließ ich zurück, dort bei den Enten und Schwänen.
»Komm, wir gehen ein Stück«, schlug Marc vor. »Dort drüben kann man gut mit den Füßen ins Wasser.«
Luis wollte selbst laufen. Wir nahmen ihn links und rechts an die Hand und liefen unserem Samstagnachmittag entgegen. Eine (fast) normale Familie eben.
* * *
Als ich mich entschied, dieses Buch zu schreiben, geschah es zum einen aus dem Bedürfnis heraus, Paaren, die adoptieren möchten, Mut zu machen. Diese Liebe, die man seinem Kind gegenüber empfindet, ist völlig unabhängig davon, ob es blutsverwandt ist oder nicht. Denn sie ist bedingungslos.
Zum anderen ist unsere Situation auch im Jahr 2016 immer noch eine besondere: Luis hat zwei Väter. Er ist Teil einer sogenannten Regenbogenfamilie, von denen es in Deutschland rund fünftausend gibt: zwei Frauen oder zwei Männer, die gemeinsam ein Kind oder mehrere Kinder großziehen.
Als Marc und ich über eine Adoption nachdachten, geschah dies aus dem tiefen Wunsch heraus, einem Kind Liebe zu schenken, es zu beschützen, zu fördern und zu einem glücklichen, stabilen Menschen heranwachsen zu sehen. Wie heterosexuelle Paare sehnten wir uns danach, eine Familie zu gründen, und hinterfragten uns gleichzeitig immer wieder, ob wir der Verantwortung gerecht werden könnten. Wie würde es sich auf unser Kind auswirken, dass es keine Mutter hätte? Wären wir in der Lage, ihm alles zu geben, was es für seine Entwicklung braucht? Würde es im Kindergarten und in der Schule unseretwegen gehänselt werden? Welches Rollenbild würden wir ihm vorleben, und wie würde das sein späteres Leben prägen?
Studien in den USA und Australien haben sich mit homosexuellen Elternpaaren und ihren Kindern beschäftigt und sind zu dem Schluss gekommen, dass es »keinerlei wissenschaftliche Belege«1 für negative Auswirkungen auf das Kindeswohl gibt. Hinsichtlich des Gesundheitszustands, der emotionalen Stabilität, des Selbstbewusstseins sowie des familiären Zusammenhalts schnitten Kinder aus Familien zweier gleichgeschlechtlicher Partner zum Teil sogar besser ab.2 Auch in Deutschland zeigte sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung, die vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben wurde, dass Kinder aus Regenbogenfamilien selbstbewusst, autonom und psychisch stabil sind.3
Diese Ergebnisse wie auch die positiven Erfahrungen anderer gleichgeschlechtlicher Elternpaare haben uns in unserem Entschluss zur Adoption unterstützt. Nur finanzielle Zuwendung in Form einer Patenschaft zu geben, das war uns nicht genug. Das Bedürfnis, eine Familie zu haben, sie zu lieben und Tag für Tag die volle Verantwortung für sie zu tragen, ist meinem Gefühl nach zutiefst menschlich.
Homosexuellen, die hierzulande ein Kind adoptieren wollen, werden einige Steine in den Weg gelegt. Marc und ich durchlitten zeitweise immense Tiefen, doch es gelang uns, ein Hindernis nach dem anderen zu überwinden. Das Glück und auch das Jugendamt waren auf unserer Seite. Seit nunmehr drei Jahren ist Luis der Mittelpunkt unseres Lebens. Nichts unterscheidet uns von anderen glücklichen Familien – nichts außer der Tatsache, dass Luis einen Papi und einen Papa hat.
In den Diskussionen um das Kindeswohl, die angesichts der Debatte um die Homo-Ehe immer wieder aufflammen, wird oft außer Acht gelassen, dass es uns, den Eltern, selbst in allererster Linie darum geht, dass unsere Kinder glücklich sind, Vertrauen entwickeln und zu selbstbewussten Menschen heranwachsen.
»Kindeswohl« ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, die genaue Interpretation ist subjektiv. Das Wohlergehen von Kindern liegt uns Menschen aufgrund ihrer Schutzbedürftigkeit ganz besonders am Herzen, der Staat wacht darüber. Und das ist gut so. Doch während ich diese Zeilen schreibe, gibt es etwa drei Millionen Waisenkinder allein in Südafrika, die kaum eine Aussicht auf ein Leben haben, das ihnen die Geborgenheit und die Chancen eines stabilen Elternhauses schenkt. Sollten die Regierungen da nicht froh sein über jeden, der ein fremdes Kind aufnehmen möchte?
Aber wir sind nicht »jeder«. Die Geschichte von Marc und mir ist eine moderne Liebesgeschichte zweier Menschen, die ihr Leben teilen und sich nichts sehnlicher gewünscht haben als eine Familie. Als Homosexuelle können wir keine eigenen leiblichen Kinder haben. Doch wir können einem Kind eine Umgebung schaffen, in der es geliebt, wahrgenommen, geachtet und in seiner Entwicklung unterstützt wird. Diesen Anspruch teilen wir mit allen verantwortungsvollen Paaren, die sich ein Kind wünschen. Wir sind nicht anders als sie – nur vielleicht in der Hinsicht, dass wir noch ein wenig dankbarer für unseren Sohn sind. Jeden Morgen bedeutet es für uns ein kleines Wunder, wenn Luis uns mit seinem Lachen begrüßt und sich auf einen weiteren Tag seines Lebens freut. Einen Tag, an dem es so viel Neues zu entdecken und mit uns zu teilen gilt.
Insofern richtet sich dieses Buch an alle weltoffenen Menschen, die an unterschiedlichen Lebensformen interessiert sind und einen Blick über den Zaun des Gewohnten werfen möchten. Was anders ist, macht erst einmal Angst. Das ist ein natürlicher Prozess, der uns Menschen durch die Evolution begleitet hat. Wir alle haben unsere Schubladen, die uns dabei helfen, die vielen Eindrücke in einer sich ständig wandelnden Welt zu sortieren. Doch es tut keinem gut, die Schubladen und damit uns selbst verschlossen zu halten. Wir sind keine Kategorien – Heteros, Schwule, Lesben –, sondern vor allem eines: Menschen. Und als Menschen verbindet uns mehr, als uns trennt – eine Tatsache, die für jede Minderheit gilt, ob ethnisch, religiös oder sexuell.
Was gegen die Angst vor dem anderen hilft, ist Wissen. Und so öffne ich im Folgenden die Tür zu unserem Leben und lade meine Leser ein, sich selbst ein Bild zu machen: über Marc und mich als schwules Paar und als Väter. Über unseren Umgang mit Luis, unsere Wünsche für ihn und für die Welt, in der er aufwächst. Über zwei Menschen, die einem Kind die Möglichkeit geben, behütet und in Liebe aufzuwachsen. Einem Kind, das von seiner Mutter zur Adoption freigegeben wurde. Das unser Wunschkind ist und unser größtes Glück.
Von Freundschaft und Liebe
Ich war sechsundzwanzig, als mein Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel.
Vier Jahre zuvor hatte ich eine Frau kennengelernt und war überzeugt gewesen, mit ihr mein weiteres Leben zu teilen. Ich selbst war behütet in einem kleinen Bergdorf in Österreich aufgewachsen. Der von Traditionen geprägte Lebensweg, den meine Eltern eingeschlagen hatten, hatte sich richtig für mich angefühlt. Genau wie sie wollte ich heiraten, ein wenig Karriere machen, ein Haus bauen, Kinder großziehen … Stattdessen hatte ich mit ansehen müssen, wie meine Beziehung zerbrochen war. Trotz aller Versuche, sie zu retten, hatte ich unbewusst meinen Teil dazu beigetragen, dass sie immer weniger funktionierte.
An den Tag unserer Trennung erinnere ich mich noch so intensiv, als wäre es gestern gewesen. Ich fuhr nach Hause, zu meinen Eltern, doch ich konnte mit niemandem reden, selbst mit ihnen nicht. Ich rannte in mein altes Zimmer hinauf und legte mich auf den Boden, den Blick zur Decke gerichtet. Dann kamen die Tränen. Irgendwann legte meine Schwester sich neben mich. Sie weinte mit mir.
Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Erst viel später begriff ich, dass ich all die Jahre dem Traum von der perfekten Partnerschaft nachgejagt war, ohne ihn mit der Wirklichkeit abzugleichen. Ich hatte mir eingebildet, die Frau an meiner Seite sei die Richtige. Hatte versucht, sie in ein enges Korsett aus Vorstellungen zu zwängen, und damit ihr wie auch mir wehgetan. Wir Menschen neigen dazu, unsere Träume der Realität überzustülpen. Wir hängen Wunschbildern nach und nehmen oft gar nicht wahr, was wirklich ringsum geschieht. Wir fürchten uns vor der Leere im Innern und füllen sie mit festen Vorstellungen und übernommenen Werten. Oft schauen wir uns unser Gegenüber und dessen Bedürfnisse gar nicht an, sondern erwarten, dass er oder sie so handelt, wie wir es uns erhofft haben. Und wenn die Realität mit allen unerfüllten Sehnsüchten uns einholt, beginnen wir zu manipulieren und den anderen in das Bild zu pressen, das wir uns vom Leben machen. Das kann nicht gelingen.
Aber all das war mir noch längst nicht bewusst, als ich im wahrsten Sinne des Wortes am Boden zerstört war. Später, beim Abendessen, sagte mein Vater niedergeschlagen: »Diesen Moment, als ihr beide weinend am Boden gelegen habt, den möchte ich nie wieder erleben.«
In den folgenden Wochen tat ich das, was »wir Männer« gern tun, wenn die Gefühle uns beuteln: Ich konzentrierte mich auf meinen Beruf. Im Hotelgewerbe hatte ich eine Aufgabe im Bereich Sales & Marketing gefunden, die mir voll und ganz entsprach. Ich fühlte mich wohl im Dienstleistungssektor, liebte die Herausforderung, anderen Menschen ihre Wünsche von den Augen abzulesen und ein besonderes Ambiente zu schaffen, in dem sie den Alltag vergessen konnten. Während ich mich in die Arbeit stürzte, begriff ich nach und nach, dass ich mir über Jahre hinweg etwas vorgemacht hatte. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Prägungen und Zwänge gewesen, die meine Beziehung sabotiert hatten, dieser Druck, ziemlich bald zu heiraten, das Haus zu bauen, die Kinder zu bekommen. Ich hatte meine Partnerin geliebt, ja, doch irgendetwas hatte gefehlt. Etwas, das ich nicht benennen konnte, noch nicht. Wir hatten alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, unserer Beziehung einen Kick zu verleihen, hatten die Wochenenden vollgepackt mit Unternehmungen und diese ein ums andere Mal noch zu toppen versucht. So blieb uns kaum Zeit, die innere Leere zu spüren. Aber das war der falsche Weg gewesen.
Jetzt galt es herauszufinden, was ich wirklich im Leben wollte. Ich spürte, dass das Alleinsein mich auf mich selbst zurückwarf, und das war gut so, wenn auch nicht immer bequem.
Große Unterstützung erfuhr ich durch Marc. Ich hatte ihn im Herbst während der letzten Monate meiner Beziehung auf dem Golfplatz kennengelernt, und wir waren ziemlich bald enge Freunde geworden. Auch er hatte sich zuvor von einer Frau getrennt, und wir beide hatten ziemlich viel Gesprächsstoff.
Marc und ich waren typische Männerfreunde. Neben dem Job bot uns der Sport Ablenkung und die Chance, unsere Situation mit einer gewissen emotionalen Distanz zu betrachten. Den wahren Freund erkennt man in der Not, heißt es. Und genauso war es auch. Wenn einem von uns beiden alles zu viel wurde, packten wir die Golfschläger oder die Skier zusammen und trafen uns auf dem Berg oder auf dem Platz. Wir redeten bis spät in den Abend hinein, erzählten von unserer Arbeit, den Familien, Freunden. Tauschten Erinnerungen aus und ahnten nicht, dass wir längst neue schufen.
Nach einer Trennung neigt man vielleicht dazu, sich schnellen Trost zu suchen, doch das war nicht der Weg, den ich gehen wollte. Weder Marc noch ich wünschten uns in jener Zeit eine neue Beziehung. Wir waren vielmehr an einem Punkt im Leben angelangt, an dem wir spürten, wie wichtig es war, die eigenen Werte neu zu definieren und eine Vision der Zukunft zu weben. Ich wollte nicht noch einmal zusehen müssen, wie eine Beziehung zerbrach, obwohl ich alles für ihr Gelingen getan zu haben glaubte. Ich wollte aus meinen Fehlern lernen, bevor ich etwas Neues begann. Und doch kam es anders, als ich je gedacht hatte.
Jeder kennt die feinen Anzeichen des Verliebtseins, dieses Herzklopfen, diese unbestimmte Nervosität, dieses Kribbeln im Magen. Plötzlich ist es ungeheuer wichtig, wie man aussieht, man überlegt dreimal, was man bei einem Treffen anziehen soll, stylt das Haar – auch wir Männer tun das. Neu und zunehmend verwirrend war jedoch die Tatsache, dass ich es für Marc tat. Ich spürte, wie ich den Treffen mit ihm geradezu entgegenfieberte. Hatten wir einen gemeinsamen Abend geplant und beschlossen, etwas zu kochen und einen Film anzusehen, zerbrach ich mir über Stunden hinweg den Kopf über die Speisen, das Ambiente. Ich suchte einen besonderen Rotwein aus. Zündete Kerzen an. Deckte den Tisch wie für ein Fest.
Manchmal gingen wir auch zusammen einkaufen, am Wochenende, auf dem Bauernmarkt. Marc kochte gern, ich weniger. Aber ich arbeitete ihm zu, wusch Gemüse, schälte, schnippelte und hackte. Auf diese Weise verbrachten wir Stunden in der Küche und redeten währenddessen über alles Erdenkliche. Marc liebte die Berge, er war als Kind mit seinen Eltern oft in die Alpen gefahren. Ich erzählte von meiner Kindheit in Österreich, und mit jedem Gespräch wurde ich mir bewusster darüber, was mich geprägt hatte und mich als Mensch ausmachte. Wenn andere uns so annehmen, wie wir sind, dann können wir uns in ihnen spiegeln, uns selbst in unserem Gegenüber erkennen.
Marc war weit gereist, hatte im Ausland studiert. Seine Erfahrungen boten mir eine neue Perspektive auf mein eigenes Leben.
Und so zelebrierten wir unsere Freundschaft. Genossen die Gegenwart des anderen. Schwiegen zusammen und redeten. Berührten einander im Herzen. Vielleicht flirteten wir auch.
War der Abend dann vorbei und ich lag im Bett, ließ ich in Gedanken jedes Wort, jede Geste Revue passieren. Es war offensichtlich, dass meine Freundschaft mit Marc mehr war, als ich mir eingestehen wollte. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Ich war auf dem besten Weg, mich Hals über Kopf zu verlieben. Aber … Marc war doch ein Mann!
Hätte ich gewusst, welche Gefühle die Nähe zu ihm in mir auslösten, hätte ich ihn dann gemieden? Sollte ich ihn in Zukunft vielleicht besser nicht mehr treffen? Was lief denn da falsch mit mir?
In den folgenden Wochen fochten mein Kopf und mein Herz einen regelrechten Kampf aus. Mein Herz sendete eindeutige Signale. Das war nicht bloß Freundschaft, die ich empfand, nicht allein. Es war ein Gefühl, wie ich es in dieser Tiefe noch nie erfahren hatte. Diese Wärme ums Herz herum, das bedingungslose Annehmen des anderen, der Wunsch, verbunden, eins zu sein … Das war etwas ganz Großes.
Mein Verstand aber sagte Nein, er wehrte sich mit aller Kraft dagegen. Wollte ich mir das wirklich antun? Eine Männerbeziehung führen? Was bedeutete das für mein Leben, mein Umfeld? Was würden meine Eltern sagen, wenn ich mit einem Mann nach Hause käme? Meine Großeltern? Meine Schwester? Freunde? Arbeitgeber? Die Gesellschaft?
Nichts lag mir ferner, als mich ausprobieren zu wollen. Im Gegenteil. Ich wollte kein Außenseiter sein, kein Teil einer Minderheit, die leidlich geduldet wird. Ich dachte an all jene Vorurteile, die über Homosexuelle kursieren. Ich wollte nicht, dass meine Mitmenschen mir voreingenommen begegneten, in mir bloß den Schwulen sahen. Auch wenn unsere Gesellschaft sich zunehmend für unterschiedliche Lebenskonzepte öffnet, ist es doch etwas ganz anderes, sich aus freien Stücken dazu zu bekennen. Aber was hieß »bekennen« – ich wusste ja nicht einmal, wie sich das anfühlen würde, mit Marc zusammen zu sein, und ob ich das überhaupt wollte – ganz davon zu schweigen, wie er mir gegenüber empfand.
Dabei war klar, dass er es war, der dieses emotionale Chaos in mir auslöste – er und kein anderer. Und während ich mich dagegen wehrte und gleichzeitig die Gefühle in mich aufsog, mich nach seiner Nähe sehnte, trafen wir uns weiter, und irgendwann war es nicht mehr wichtig, ob er ein Mann oder eine Frau war: Ich war dabei, mich in den Menschen zu verlieben, der er war.
Ich erinnere mich, wie wir eines Tages auf dem Tennisplatz standen. Im Vergleich zu ihm war ich ein miserabler Spieler. Ich versicherte ihm, dass er wirklich nicht mit mir spielen müsse, das könne ihm doch wohl kaum Spaß machen. Ich setzte mich selbst unter Druck, wollte unbedingt auf seinem Level spielen, bis er mich regelrecht runterfuhr und sagte: »Es ist völlig egal, wie du spielst. Ich will mit dir zusammen Sport treiben, das macht mir Spaß. Ich will die Zeit mit dir genießen.«
Nur selten im Leben begegnet man Menschen, die einen so nehmen, wie man ist. Und mehr noch: die einen wertschätzen, eben weil man so ist, wie man ist. In Marcs Gegenwart musste ich mich nicht verstellen, keine Rolle spielen, keiner Erwartung entsprechen. Ich nicht – und er ebenso wenig.
Diese Art der Wertschätzung kann es zwischen Freunden geben, zwischen Eltern und Kindern, unter Kollegen. Sie ist immer ein Geschenk, doch was Marc und mich betraf, war sie von Liebe begleitet.
Ich spürte, dass es an der Zeit war, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Ich musste ihm von meinen Gefühlen erzählen. Dabei hatte ich unsägliche Angst, ihn zu verlieren.
Einige Abende darauf besuchte ich Marc in seiner Wohnung. Wir saßen in der Küche. Silberne Kerzenleuchter standen auf dem antiken runden Tisch, warmes Licht hüllte uns ein, ich fühlte mich unendlich geborgen. Und so nahm ich meinen ganzen Mut zusammen.
»Du hast es wahrscheinlich auch schon gespürt«, begann ich zögernd. »Zwischen uns beiden … das ist doch mehr als nur eine Freundschaft, oder? Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt … Marc … ich liebe dich.« Jetzt war es draußen.
Verlegen starrte ich auf einen Punkt an der Wand. Dort hing ein Familienfoto, ich heftete den Blick darauf. Der Moment dehnte sich aus. Eine Stille, angefüllt mit Angst vor Zurückweisung und Hoffnung auf Liebe. Dann endlich setzte Marc zu einer Antwort an.
»Ich empfinde genauso wie du. Für mich fühlt es sich gut an. Ich spüre eine starke Vertrautheit. Ich liebe dich auch.«
Das war mehr, als ich erwartet hatte. Ich spürte Glück und Erleichterung. Noch mehr Glück. Und dennoch …
»Aber was sollen wir daraus machen?«, fragte ich und blickte auf.
Wir ließen die Frage im Raum stehen. Noch wussten wir keine Antwort darauf.
In den folgenden Wochen trafen wir uns wie gewohnt, genossen die Gegenwart des anderen und näherten uns einander an. Vorsichtig sendeten wir Signale aus. Ja, wir konnten uns vorstellen, zusammenzufinden, irgendwann bald. Doch noch hatte ich Angst, Marc zu bedrängen, und ihm ging es ebenso. Die Vorstellung, dass es nicht richtig war, wenn zwei Männer zusammen waren, geisterte nach wie vor durch unsere Gedanken. Die Erziehung, das Umfeld, abwertende Schwulenwitze, althergebrachte Überzeugungen von Homosexualität als Krankheit … das alles nistet in den Köpfen der Menschen, und bei mir und Marc war es kaum anders. Ich malte mir aus, mit Marc bei einem Candle-Light-Dinner im Restaurant zu sitzen und Händchen zu halten – das war doch absurd! Zugleich aber wünschte ich mir nichts sehnlicher, suchte seine Berührung, anfangs zögernd, genoss es, wenn unsere Arme sich zufällig streiften, im Kino oder zu Hause, und spürte nach, was das in mir auslöste.
Jedes Paar kennt in seiner Beziehung einen Tag X, wie ich ihn nenne: jenen Zeitpunkt, von dem an klar ist, dass man zusammen ist. Man lernt sich kennen, verliebt sich ineinander, dann kommt der Tag, von dem an man gemeinsam durchs Leben geht. Anschließend lebt man die Beziehung zueinander, zieht irgendwann zusammen, heiratet vielleicht, wünscht sich Kinder.
Unser Tag X war ein ganz besonderer. Marc hatte mich eines Abends mit einer Postkarte von Hamburg überrascht. Darauf stand:
Ich lade Dich ein, ein schönes, romantisches Wochenende mit mir zu verbringen.
In die obere Ecke der Karte war ein Loch gestanzt, und ein Schlüsselanhänger mit einem kleinen Löwen hing daran. Ich musste nicht lange rätseln. Wir würden nach Hamburg fahren und das Musical »König der Löwen« besuchen!
Es war ein Freitagnachmittag im Juli, als wir in Hamburg eintrafen. Marc hatte in einem schönen Designhotel ein Zimmer mit Blick auf die Alster reserviert. Es tat gut, mehrere Hundert Kilometer von zu Hause entfernt zu sein. Wo man fremd ist, fühlt man sich zuweilen freier.
Ich tastete nach Marcs Hand, als wir aus dem Hotel traten und uns auf den Weg zu den Landungsbrücken machten, um mit der Fähre überzusetzen. Es war ungewohnt für uns, Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen. Wir spürten die Blicke Fremder, dieses Begutachtetwerden. Nicht Mensch, nicht Mann, sondern schwul. An diesem Abend war es nicht länger wichtig.
Wir speisten im Restaurant des Musical-Theaters, bei Kerzenschein. Nun hatte ich mein Candle-Light-Dinner mit Marc, und es war romantisch und fühlte sich richtig an.
Als die Vorstellung begann, sog ich jedes Detail in mich auf. Die Akteure – Giraffen, Zebras – mischten sich unters Publikum und rissen uns mit. Dazu die Melodien, die Kostüme, die Kulisse … es war einfach fantastisch. Und zugleich wäre ein solcher Event gar nicht nötig gewesen, denn noch schöner als alles, was uns dort geboten wurde, war die Gewissheit, dass Marc und ich von jetzt an ein Paar waren. Endlich angekommen. Endlich an der Seite des Menschen, den ich so liebte wie er mich.
Liebe, so viel weiß ich inzwischen, geht manchmal über Grenzen und Konventionen hinweg. Einfach von Herz zu Herz.