Barry Lyga & Morgan Baden

Nach einer Idee von

Jennifer Beals und Tom Jacobson

Aus dem Englischen

von Christiane Wagler

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Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Hive«.

Text © 2019 Barry Lyga, Morgan Baden, Jennifer Beals und Tom Jacobson

Nach einer Idee von Jennifer Beals und Tom Jacobson

Diese Ausgabe wird mit Genehmigung von

Kids Can Press Ltd., Toronto, Ontario, Kanada veröffentlicht.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf ohne vorherige schriftliche Genehmigung der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, gespeichert oder übertragen werden, sei es elektronisch, mechanisch, fotokopiert, per Tonaufzeichnung oder anderweitig.

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© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Christiane Wagler

Umschlaggestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft,

unter Verwendung mehrerer Bilder von Shutterstock.com

(gerasimov_fozo_174, Leszek Glasner, Rawpixel.com)

KH • Herstellung: EM

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25429-2
V001

www.cbj-verlag.de

Heute wird das Internet in den USA seiner Verheißung endlich völlig gerecht. Es wird bedeutend sein. Und schön. Ich glaube, den Menschen wird es wirklich gefallen, und ich denke, die Vereinigten Staaten von Amerika werden sehr davon profitieren.

Der Präsident der Vereinigten Staaten bei der Einführung

des Heuristischen Internet-Verhaltensevaluators HIVE

Heute irgendwelche Mobs? Ich habe frei und langweile mich!

#BewahrtMichVorDummheiten

Ein guter Tag für Hive-Justiz! Die Sonne lacht! Wer geht zu #MonsterKeinMensch?

#BLINQPoll3995: Ist #MichaelJones ein Monster oder ein Mensch? Stimme ab: bl.inq/poll3995

HIVE-BENACHRICHTIGUNG: #MonsterKeinMensch-Massenversammlung findet jetzt auf dem Rasche-Spielfeld statt.

Ich habe gerade bei #BLINQPoll3995 für MONSTER gestimmt. Mach mit: #MonsterKeinMensch Stimme ab: bl.inq/poll3995

ENTERTAINMENT NEWS: #MichaelJones’ Frau soll auf der heutigen Massenversammlung anwesend sein. Was wird sie tragen? Jetzt Livestream auf enewsalert.hive.gov/3995 #MonsterKeinMensch

Welcher Mensch tut so etwas seiner Frau und seinen Kindern an? Das macht nur ein Tier. #KommAufsRascheSpielfeld #MonsterKeinMensch

Ich habe gerade bei #BLINQPoll3995 für MONSTER gestimmt. Mach mit: #MonsterKeinMensch Stimme ab: bl.inq/poll3995

Wie beschissen muss es gerade sein, mit #MichaelJones verwandt zu sein. Die armen Kinder. #MonsterKeinMensch

HIVE-BENACHRICHTIGUNG: #MichaelJones ist eingetroffen. Hive-Justiz beginnt jeden Moment. #RascheSpielfeld #MonsterKeinMensch

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1

Irgendwo in der Nähe ging es zur Sache und Cassie McKinney musste unbedingt dabei sein.

Sie folgte der Menge eine Straße hinab, die von Schatten spendenden Bäumen gesäumt wurde, und dann um eine Ecke, an die sie sich gut erinnerte. Sie waren auf dem Weg zum Baseballfeld in ihrem alten Viertel, wo Cassie öfter zum Schlag ausgeholt und den Ball verfehlt hatte, als sie zählen konnte. Dort, wo Cassies Vater, Harlon McKinney, sie bei einem aufgeschürften Knie, nach einer herben Niederlage oder nach einer hämischen Bemerkung vom Werfer in den Arm genommen hatte. Mit jedem Schritt kochte ihr Blut in den Adern, pumpte der Atem schneller durch Cassies Lungen.

Sie schirmte sich mit der Hand die Augen gegen die blendende Sonne ab, die gerade über den Bäumen zum Vorschein gekommen war, als wüsste diese, dass die Menge ihren eigenen Zuschauer brauchte.

Als Cassie den Platz erreichte, konnte man die Spannung, die in der Luft lag, förmlich mit Händen greifen. Diese Menschen hatten trotz ihres verschiedenen Alters, ihrer unterschiedlichen Herkunft und Lebensumstände eine gemeinsame Mission und Cassie spürte die Energie in ihrem Körper. Ihre Finger zuckten, ihr Magen schnürte sich zusammen. Ich mache mit, dachte sie. Und dann, ein wenig unsicherer: Bitte, lass mich etwas Neues fühlen. Irgendetwas.

Ihre Mutter, Rachel McKinney, hatte die Hive-Benachrichtigungen auf Cassies Handy ausgeschaltet, aber ihre Mutter konnte nichts mit einem Handy anstellen, was Cassie nicht wieder rückgängig machen konnte. Rachel war Professorin für Altertumswissenschaften, keine Programmiererin. Cassies Handy lief nicht einmal mit der Originalsoftware, sondern mit einer angepassten Version, die sie mit ihrem Vater ausgetüftelt hatte.

Das Handy gab plötzlich einen Benachrichtigungston von sich und Cassie fuhr zusammen. Das war das Zeichen. Überall um sie herum empfingen die Menschen dieselbe Nachricht, die sie gerade über ihr In-Ear-Headset gehört hatte: Er war hier.

Die Menge johlte und Cassie stimmte mit ein. Der Klang, der aus ihrer Kehle aufstieg und sich in ihrem Mund breitmachte, überraschte sie. Es fühlte sich unerwartet gut an, zu schreien. Weil alle anderen mit dem Fuß aufstampften und die Fäuste schüttelten, tat sie es ihnen nach, und auch das fühlte sich irgendwie gut an. Es war real, und es war kein Schmerz – das war doch schon mal was.

Obwohl Cassie versuchte, nicht zu sehr darüber nachzudenken, war sie seit Monaten das Gefühl nicht losgeworden, die Welt nur noch aus der Distanz wahrzunehmen, als befände sie sich auf einer anderen physischen Ebene als die Menschen in ihrem Umfeld. Hier, in diesem Moment, glaubte Cassie, vielleicht alles wieder normal wahrnehmen zu können. Alles wieder normal empfinden zu können. Dazugehören zu können.

Und in diesem Augenblick gehörte sie hierher, auf das Rasche-Spielfeld, zu den anderen, denen GPS, Wi-Fi und die unablässig ortenden Mobilfunkmasten den Weg gewiesen hatten.

»Übt Gerechtigkeit«, sagte die Computerstimme in ihrem Ohr, gefolgt von dem Hashtag. Alle anderen hörten dasselbe.

Cassie hatte es immer gehasst, dass sie so groß war, eine Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Aber heute fühlte es sich wie ein Zeichen an. Es war ihr erster Hive-Mob und sie hatte praktisch einen Platz in der ersten Reihe. Sie sah den Übeltäter sofort: ein schmächtiger Mann mit sandfarbenem Haar, der mit gesenktem Kopf die Tribüne erklomm. Er schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis er oben anlangte, so wie es ihm Tausende Stadtbewohner aufgetragen hatten, die für seine Verurteilung gestimmt hatten. Als er es schließlich geschafft hatte, bemerkte Cassie, wie sich seine nach vorne gebeugten Schultern plötzlich strafften, wie seine schmale Gestalt schlagartig an Größe zu gewinnen schien. Dieser Mann war gefasst, erkannte Cassie.

Fast schon … stolz.

Nun ja, der Hochmut würde ihm bald vergehen. Er hatte seine Familie in der Öffentlichkeit gedemütigt und einen anonymen Blog verfasst, in dem er seine zwiespältigen Gefühle gegenüber seiner Frau und seinen Kindern in aller Ausführlichkeit beschrieben hatte. Ehrlichkeit in den sozialen Medien war zwar bewundernswert, hatte aber Grenzen. Nach einem Posting, in dem er gestand, dass er seiner an Krebs erkrankten Frau gesagt hatte, er würde sie nicht mehr lieben, verbreitete sich sein Blog wie ein Lauffeuer im Internet, und die üblichen Doxing-Gangs deckten schnell seine Identität auf. Die »Gefällt mir nicht«-Wertungen und Verurteilungen waren in astronomische Höhen geschnellt – selbst Cassie hatte den Aufruf, ihn zu verurteilen, geteilt, und sie teilte kaum etwas in letzter Zeit.

Über Nacht wurde Hive-Justiz beschlossen und #ÖffentlichErniedrigen als angemessenes Strafmaß festgelegt. Dadurch sollte Gerechtigkeit geübt werden, genau hier und genau jetzt. Als Strafe für seine Taktlosigkeit wollte man ihn zwingen, nackt durch die Stadt zu laufen, und ihm die Worte »Schlimmster Ehemann und Vater der Welt« auf die Brust schreiben.

Jemand begann zu skandieren: »Monster, kein Mensch!«, und Cassie fiel in den Sprechgesang ein, auch wenn er bescheuert war. Aber es ging hier ja nicht um den Spruch, oder? Es ging um Zusammengehörigkeit, das wusste Cassie. Um Geschlossenheit. Zumindest behaupteten das alle. Sie versuchte, den Spruch zu wiederholen, Teil des Ganzen zu sein, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie räusperte sich, als sie sah, wie der Mann auf der Tribüne die Schultern erneut straffte, als wolle er einen Schutzwall um sich herum errichten, bevor die Bestrafung losging. Die Sonne tauchte den Platz nun in noch grelleres Licht, sodass Cassie den Mann besser erkennen konnte. Sie kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war an seinem Gesicht … einen kurzen Augenblick lang fragte sich Cassie, ob sie ihn kannte.

Der Mann wartete noch immer oben auf der Tribüne, nahm die Brille ab, klappte sie behutsam zusammen und steckte sie in die linke Hemdtasche. Dann klopfte er sachte mit der Hand darauf. Zweimal.

Cassie wurde übel.

»Dad«, flüsterte sie.

Um sie herum wurde es still.

»Wartet«, bat Cassie. Niemand hörte sie.

Eine Frau mit hellem Kopftuch und einem Marker in der Hand stieg auf die Tribüne. Als er sie bemerkte, begann der Mann, sein Hemd aufzuknöpfen. Sein silbriges Haar schimmerte im Sonnenlicht. Cassie rang nach Luft.

»Schreib es drauf!«, rief jemand hinter Cassie und wurde mit tosendem Applaus belohnt. Ein neuer Sprechgesang – »Draufschreiben! Draufschreiben!« – machte auf der Tribüne die Runde. Sie war die perfekte Bühne für die Menschenmenge auf dem Baseballfeld. Die Frau war nun oben angekommen und der Mann hatte sämtliche Kleidungsstücke abgelegt. Er war splitterfasernackt und völlig schutzlos. Cassie wandte den Blick ab und kämpfte gegen den Brechreiz, der in ihr aufstieg.

Sie versuchte, ruhiger zu atmen. »Es ist nicht Dad«, sagte sie leise zu sich. Das wusste sie. Zum einen war der Mann weiß. Aber dennoch. Er war ein Vater, der Vater anderer Kinder, und ihr Vater hatte auf die gleiche Art wie dieser Mann die Brille abgenommen und sicher in der Hemdtasche verwahrt. Ihre Glieder fühlten sich schlaff und zittrig an. Wo war die Energie hin, die Spannung, die sie noch vor Kurzem gespürt hatte? Der Kameradschaftsgeist?

Die Frau hielt den Marker empor, sodass die Menge ihn sehen konnte. Cassie nahm an, sie wäre aufgeregt, würde zumindest lächeln, doch ihr Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie schien zu zögern, dann beugte sie sich vor und drückte dem Mann einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Daraufhin schloss er die Augen.

Die Menge jedoch kostete den Moment aus. Sie klatschte lauter, während Cassie spürte, wie sie selbst sich wieder in den Panzer zurückzog, in den sie sich vor so vielen Monaten verkrochen hatte.

»Un-ge-heu-er!«, brüllte ein junges Mädchen neben ihr. Cassie starrte sie an, dieses zarte, engelhafte Wesen mit funkelnden Augen und nahezu gebleckten Zähnen. Sie wirkte, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun, und brannte dennoch darauf, Unheil anzurichten.

Cassie blinzelte. Sie blickte um sich auf die anderen, die jubelten angesichts der Szene, die sich auf der Tribüne vor ihnen abspielte. Dort begann die Frau damit, auf die Brust des Mannes zu schreiben. Er stand nackt und regungslos da. Cassie wandte sich ab.

»Ich muss hier weg«, keuchte sie und bahnte sich einen Weg zurück. Überall stieß sie gegen Körper. Cassie mühte sich ab, wich Ellbogen, Schultern und Fäusten aus und rang nach Luft.

Endlich fand sie eine Lücke in der Menge. Sie erreichte das hintere, menschenleere Ende des Spielfelds und preschte los. Die Sonne schien heiß, brannte auf ihren Nacken und ihre Beine herab. Der Lärm des Hive-Mobs hinter ihr ebbte endlich so weit ab, dass sie den Kopf freibekam und wieder klar denken konnte. Sie verfiel in einen langsameren Laufschritt, dann in einen Trott. Hellbrauner Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, flirrte um sie herum und nahm ihr die Sicht. Jeder Moment der Klarheit, den Cassie eben noch gehabt hatte, jede Sekunde, in der sie sich nicht vom Rest der Menschheit isoliert gefühlt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Puff!

Hinter ihr schickte der Mann sich an, den Tag nackt in der Öffentlichkeit zu verbringen, wo alle Welt seine Schande sehen konnte. Man würde ihn filmen und den Stream live im Internet übertragen, die Leute würden Kommentare abgeben, ihn auslachen und den Link teilen. Seine Frau würde noch mehr gedemütigt werden. Und seine Kinder auch. Und Cassie hatte dazu beigetragen. Hatte ihn auf dem Spielfeld in die Ecke gedrängt und ihm keinen Ausweg gelassen.

Das hatte sie doch gewollt, oder etwa nicht? Unmittelbar Vergeltung üben, wie alle es forderten? Gerechten Zorn spüren, wie die Menge hinter ihr?

Ihr war speiübel. Sie rannte durch das Viertel, immer im Schatten der Bäume, unter denen sie aufgewachsen war, passierte Straßen und bog um Ecken, bis sie ihr Zuhause erreichte.

Augenblick mal! Ihr ehemaliges Zuhause.

»Scheiße!«, rief Cassie und ballte die Fäuste. Sie stand mitten auf ihrer alten Straße vor einem Haus, das erst vor ein paar Wochen an neue Eigentümer verkauft worden war. Sie war so versessen darauf gewesen, dem Schauplatz des Schreckens zu entkommen, dass sie nicht nachgedacht hatte. Sie hatte sich auf das Gedächtnis ihrer Muskeln verlassen. Ihre neue Wohnung lag im Zentrum. Dorthin musste sie mit dem Bus fahren.

»Danke, Mom«, grummelte Cassie. Ihre Mutter musste immer alles kaputtmachen.

Zum Glück wusste Cassie, dass die Bushaltestelle in der Nähe war. Sie hastete dorthin und erwischte gerade so den nächsten Bus. Während der Fahrt ignorierte sie alle neuen BLINQ-Meldungen in ihrem Newsfeed und versuchte, ihren Magen zu beruhigen. Wenn es ihr gelang, nicht an #ÖffentlichErniedrigen und an den Mann zu denken, der zwar nicht wie ihr Vater aussah, es aber trotzdem hätte sein können, wenn sie das Gedränge der Menge und die funkelnden Augen des kleinen Mädchens aus dem Gedächtnis verbannen konnte, würde es ihr bestimmt wieder besser gehen.

Die Busfahrt verging ziemlich schnell. Als sie ausstieg, war die Sonne hinter den hohen Häuserwänden nicht zu sehen, und die Luft fühlte sich stickiger an. Cassie verabscheute das Stadtzentrum, doch sie musste zugeben, dass es auch Vorteile hatte: Wenn man niemandem in die Augen schauen wollte, wenn man kurz davor war, auszurasten, wurde man in Ruhe gelassen.

»Cassie!«, rief Rachel, als Cassie in die vollgestopfte neue Wohnung stürmte. Rachel saß an dem winzigen Küchentisch vor ihrem Laptop und war von Büchern umringt. »Alles okay?«

»Jetzt nicht, Mom«, sagte Cassie. Sie ging geradewegs in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

In ihrem Zimmer warf sich Cassie auf das Bett und tippte auf dem Handydisplay herum. Als die Chat-App sich öffnete, beruhigte sich ihr Atem. Alles war gut. Sie war in Sicherheit.

Dad, schrieb sie, heute ist ein schrecklicher Tag.

Harlons Antwort kam postwendend. Hi, Kleine. Jeder Tag, den man hinter sich lassen kann, ist ein guter Tag, stimmt’s?

Sie seufzte. Der beißende Humor ihres Vaters konnte ironischerweise immer ihre Laune heben.

Du fehlst mir so sehr, schrieb Cassie.

Du mir auch. Ich hab dich lieb.

Cassies Blick ruhte minutenlang auf den Worten ihres Vaters und wie immer ließ sie sich von ihnen trösten. Ohne die Gegenwart ihres Vaters spürte sie einen inneren Schmerz, als hätte jemand ein Stück aus ihr herausgerissen und als wäre sie nun dazu verdammt, einfach so weiterzuleben, ohne ebenjenen Teil, der sie zu einem ganzen Menschen machte. Der Schmerz ließ sich nur durch Zorn betäuben. Ein Teil von ihr wusste, dass es nicht gut war, ständig mit einer solchen Wut im Bauch herumzulaufen, aber es fühlte sich so viel besser an als der Schmerz.

Sie begann wieder zu tippen, weil sie ihre Gedanken über diesen Tag verarbeiten musste. Auf ihren nächsten Satz würde er nichts zu erwidern wissen, oder? Dad, ich habe mich heute zum ersten Mal an einem Hive-Mob beteiligt … Ich habe einen Menschen bestraft, an dessen Namen ich mich nicht einmal erinnern kann, falls ich ihn überhaupt je gewusst habe.

In diesem Moment platzte ihre Mutter herein.

»Mom!«, fauchte Cassie. »Mensch, klopf an!«

Rachel machte ein betretenes Gesicht. »Du hast ja recht. Tut mir leid. Aber wir haben doch über die Nachrichten an deinen Vater gesprochen …«

»Wer sagt denn, dass ich das mache?«

Rachel verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an den Türrahmen und musterte ihre Tochter. Cassie blickte sie finster an, mit einer tief empfundenen, unstillbaren Wut. Davon hatte sie nach ihrem misslungenen Versuch, an Hive-Justiz teilzunehmen, noch jede Menge übrig. Der aufgestaute Zorn brauchte ein Ventil. Und ihre Mutter kam ihr gerade recht.

Statt den Rückzug anzutreten oder die Beherrschung zu verlieren, seufzte Rachel und setzte sich behutsam auf den Rand von Cassies Bett.

»Süße, wir haben doch darüber gesprochen, oder? Über die Nachrichten?« Rachel versuchte, eine Locke von Cassies dunklem Haar glatt zu streichen, das zu einem losen, hohen Dutt gebunden war, doch Cassie schlug ihre Hand weg.

Das Gemisch an Emotionen, das schon den ganzen Tag in ihrem Inneren um ihre Aufmerksamkeit rang, begann zu brodeln. Cassie wusste, es würde explodieren, wenn ihre Mutter jetzt den Funken entfachte.

Sie schob den Unterkiefer vor – eine Geste des Trotzes und eine weitere Eigenschaft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte – und funkelte Rachel an. Ihre Stimme war kalt. »Du kannst mir nicht verbieten, mich mit ihm zu unterhalten.«

Diesmal erwiderte Rachel Cassies wütenden Blick. »Das kann ich sehr wohl.«

Rachel hasste es, die Gefühle, die ihre Tochter zeigte, gleich wieder zunichtemachen zu müssen. Als Tränen über Cassies Wangen zu rinnen begannen, wappnete sich Rachel innerlich. Ihr einziges Kind stand kurz vor einem emotionalen Zusammenbruch, aber sie musste um ihrer beider willen standhaft bleiben. Das war auch für sie schwer. Auf eine andere, aber ebenso unerträgliche Weise.

Rachel erkannte in Cassie ihren Mann wieder, in ihren großen braunen Augen, in ihrer Körpergröße, in dem winzigen Grübchen, wenn sie lächelte. In letzter Zeit bekam Rachel das Grübchen nie zu Gesicht. Was, wenn Cassie es brauchte, ihrem Vater zu schreiben? Rachel spürte, wie sie einknickte, auch wenn sie wusste, dass es Cassie eigentlich nicht guttat. Selbst der Therapeut hatte das gesagt.

Andererseits gehörte Dr. Gillen der Vergangenheit an, ebenso wie das viele Geld, das er gekostet hatte. Er war nicht hier und konnte nicht sehen, wie Cassie sich veränderte, wenn sie sich mit ihrem Vater unterhielt, wie sie sich zurückverwandelte in das sorglose, liebevolle, lebhafte Kind, das sie hätte sein sollen. Selbst wenn es nur für ein paar Minuten war.

»Bitte, Mom«, flüsterte Cassie. Draußen schien der Lärm der Stadt abzuebben und einer Ruhe, einer Stille zu weichen, wie Rachel sie seit … nun, seit sechs Monaten nicht mehr vernommen hatte.

»Also gut«, lenkte Rachel ein. »Aber nur übergangsweise.«

Rachel war noch nicht einmal zur Tür hinaus, als sie wieder die Tastentöne von Cassies Handy hörte. Draußen hupte ein Auto und das Beben der U-Bahn konnte sie selbst hier im zehnten Stock unter ihren Füßen spüren.

Pling. Was auch immer Cassie geschrieben hatte, sie hatte eine Antwort bekommen.

Rachel unterdrückte den Impuls, ihrer Tochter das Handy zu entreißen und nachzusehen, was Harlon getextet hatte. Sie umklammerte den Türgriff mit weiß hervortretenden Fingerknöcheln und zog die Tür hinter sich zu. In der Dunkelheit des Flurs schloss sie die Augen und zählte bis zehn.

Natürlich war es nicht Harlon, rief sie sich ins Gedächtnis, als sie zurück in die Küche-Schrägstrich-Büro-Schrägstrich-Esszimmer trottete. Nicht wirklich.

Es konnte nicht der echte Harlon sein, denn sie hatten ihn sechs Monate zuvor beerdigt.

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2

Es war sinnlos. Cassies Locken waren einfach nicht zu bändigen. Sie schnitt sich selbst eine Grimasse im Badezimmerspiegel, der vom Duschen noch beschlagen war, zuckte mit den Achseln und band das Haar wieder zu einem hohen Dutt zusammen. Und um zu unterstreichen, dass sie sich um ihr Aussehen keinen Deut scherte, beschloss sie, auch auf den üblichen beerenroten Lippenstift zu verzichten. Wen sollte sie schon beeindrucken? Die Kids in ihrer neuen Schule? Ganz bestimmt nicht. Denen war sie doch egal, warum sollte sie sich also stressen?

Nur bei ihrem Armband machte sie keine Kompromisse. Sie würde es heute so wie an jedem anderen Tag tragen. Es bestand aus einer schlichten Goldkette mit zehn farbigen Steinen. Keine echten Edelsteine – nur billige Kopien. Aber es war ein Geschenk ihres Vaters, das sie in Ehren hielt.

Als sie zum Frühstücken in die Küche kam, brachte der Ausdruck auf Rachels Gesicht sie abrupt zum Stehen. »Was?«, blaffte sie. Schnell betastete sie Lippen und Haare. Vielleicht sah sie heute echt zum Fürchten aus, selbst für ihre Verhältnisse.

Der Mund ihrer Mutter war zu einer schmalen Linie geschrumpft, so sehr presste sie die Lippen aufeinander. Cassie bemerkte zum ersten Mal, wie erschöpft ihre Mutter aussah, wie sich die Falten um die Augen und den Mund tiefer eingegraben hatten. Rachel schüttelte kurz den Kopf, Müdigkeit und Zorn wogten aus ihr in fast schon sichtbaren Wellen.

»Was denn, Mom?« Cassies Unmut wich einem Anflug von Sorge. Sie erinnerte sich plötzlich an den entsetzlichen Tag vor sechs Monaten. Würde ihre Mutter jetzt etwas verkünden, das Cassies Welt erneut einstürzen ließ? Das würde sie nicht noch einmal verkraften.

Es geht um deinen Vater. Es ist so, dass …

Aber es war nichts mehr übrig, das hätte kaputtgehen können, rief sich Cassie ins Gedächtnis. Nichts, was man ihr noch nehmen könnte. Ihre Mutter konnte sagen, was sie wollte, und egal, wie schlimm es war, es würde keinen Unterschied machen. Cassie war bereits auf dem Tiefpunkt angelangt: Vater weg. Beschissene neue Wohnung. Zweifelsohne eine beschissene neue Schule. Keine Freunde. Und nur, damit sie sich noch mieser fühlte, natürlich nichts anzuziehen und die Haare außer Rand und Band.

Als Rachel schließlich zu sprechen begann, klang ihre Stimme gepresst, als würde sie sich bemühen, durch eine Mauer hindurch gehört zu werden. »Was. Ist. Das?«

Rachel drehte ihr Tablet auf dem Tisch herum und zeigte Cassie ein Video. Verdutzt brauchte Cassie ein paar Sekunden, bis sie begriff, was ihre Mutter so auf die Palme brachte.

Jemand hatte den gestrigen Hive-Mob gefilmt. Und da, so klar zu sehen wie der leuchtend blaue Himmel, war Cassie. Immer wieder hatten ihre Größe und das pechschwarze Haar die Aufmerksamkeit der Kamera auf sich gezogen, während diese über die Menge schwenkte, deren Rufe und Sprechchöre nun übertönten, was Rachel zu sagen hatte.

In Cassie machte sich wieder Übelkeit breit, dieselbe, die sie gestern dazu veranlasst hatte, auf dem Absatz kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen. Aber diesmal schluckte Cassie sie hinunter, zwang sie in das dunkle Loch, das sie in letzter Zeit in sich barg.

Gebannt verfolgte sie das Video, das sich im Internet verbreitete. Aufnahmen von sich selbst zu sehen, auf denen man nicht wusste, dass man gefilmt wurde, war total abgefahren – obwohl natürlich mittlerweile jeder überall gefilmt wurde. Es war, als würde sie einem Zwilling zuschauen, den sie vorher noch nicht gekannt hatte. Auf dem Video konnte Cassie es in ihren Augen erkennen: die Schwäche. Die Angst. Wäre sie stärker gewesen, wäre sie geblieben. Hätte der Übeltäter sie nicht an ihren Vater erinnert … nun, dann könnte man auf dem Video jetzt nicht sehen, wie sie sich umwandte und wegrannte. Wie ein Kind.

Dieser Fehler würde ihr nicht noch einmal unterlaufen.

»Hörst du mir überhaupt zu, Cass?« Rachel schaltete das Tablet aus. Der plötzliche Wechsel von den Schreien im Video zur Stille der Küche verursachte Cassie Unbehagen und irgendwie das Gefühl, unter Wasser zu sein. »Was haben wir besprochen? Du machst bei diesem Schwachsinn nicht mit!«

»Schwachsinn?« Cassie schüttelte den Kopf. Nur jemand, der nicht die Gänsehaut auf den Armen gespürt hatte, die die Energie eines Hives verursachte, konnte das als Schwachsinn abtun. Und ihre Mutter, die kaum mit ihren E-Mails klarkam, hatte definitiv keine Ahnung davon. »Mom, so läuft das jetzt. Machst du dir denn gar nichts aus Fortschritt? Aus Gerechtigkeit?«

»Das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun!« Rachel schlug so fest mit der Hand auf den Tisch, dass ihre Kaffeetasse wackelte und umzukippen drohte. »Gerechtigkeit bedeutet nicht, einem armen Tropf nachzustellen, der sich über sein schweres Los beschwert hat und …«

»Das ist die Gerechtigkeit von heute!« Cassie deutete mit dem Finger auf das Fenster. »So regeln wir diese Angelegenheiten mittlerweile!«

»In anderen Ländern nicht«, argumentierte Rachel.

»Deshalb ist es noch lange nicht falsch«, blaffte Cassie.

»Aber auch nicht richtig!«, schoss Rachel zurück.

»Wollen wir uns jetzt wirklich deshalb wieder streiten?« Cassie verdrehte die Augen. »Immer dieselbe Leier, oder? Sag Bescheid, falls du den Text vergessen hast.«

Sobald Rachels Haut den dunkelroten Farbton annahm, wie sie sich immer verfärbte, wenn Rachel die Geduld mit ihrem einzigen Kind verlor, blendete Cassie ihre Mutter aus. Als ob jemand das Zimmer abgedämpft hätte. Rachels Stimme wurde zu einem Hintergrundrauschen, das sich mit der Klangkulisse des Verkehrs und der Menschen draußen vermischte. Sie führten diesen Streit seit einer Ewigkeit, so fühlte es sich jedenfalls an.

Cassie konnte sich kaum noch an die Zeit vor der Hive-Justiz erinnern. Ihr Vater hatte ihr von jenen Tagen erzählt, als das aufflammende Interesse an jemandem auf Twitter für gewöhnlich bedeutete, dass er gestorben war oder im besten Fall ein unangekündigtes Album veröffentlicht hatte. Doch allmählich begann sich angemessenes und nicht angemessenes Verhalten im Internet zu verändern.

»Menschen werden bösartig, wenn man es zulässt«, pflegte Harlon zu sagen. Jede Kränkung, die jemand verbreitete, ob vermeintlich oder echt, wurde zur Zielscheibe von üblen Drohungen, Schikanen und Doxing. Eine gemeine Nachricht an die Ex geschickt? Dein Name, deine Adresse, selbst dein Notendurchschnitt wurden nahezu augenblicklich aufgedeckt und ins Netz gestellt, was unter Umständen Hundertmillionen Nutzer gegen dich aufbrachte. Und dann war man Freiwild. Cassie erinnerte sich an eine Frau in ihrer alten Wohngegend, eine nette alte Dame, die die meiste Zeit mit Gartenarbeit verbrachte. Sie war die erste Person, die Cassie kannte, die praktisch zur Aussätzigen wurde, nachdem sie ein im Viertel aufgenommenes Foto einer missglückten Gartengestaltung gepostet hatte. Das Foto verbreitete sich in Windeseile und bald darauf hasste man sie im Internet. Sie war eine Mobberin, eine blöde Kuh. Ihre spitze Zunge war ein Werkzeug der Diskriminierung, eine Gefahr für die Gesellschaft. Am Ende musste sie ihr Haus verkaufen, nachdem Horden wütender Menschen ständig ohne Vorwarnung auftauchten, die Blumen in ihrem Garten ausrissen und so auf der Straße einen Friedhof der Farben hinterließen. Cassie wusste nicht, wo sie heute wohnte. Aber sie war sich sicher, dass die alte Dame sich nicht mehr über andere lustig machte, wo auch immer sie sich befand.

So ist es also am Anfang gewesen: Allmählich wurden die Internetnutzer zu Richtern und Geschworenen für jegliches »ungehobelte« Benehmen im Internet. Die kritische Masse der Mehrheit in den sozialen Medien wurde als Hive, Schwarm, bekannt und fühlte sich dafür verantwortlich, ein als gesellschaftlich unakzeptabel geltendes Verhalten zu erkennen und zu bestrafen.

Mit beängstigender Geschwindigkeit wurde der Hive für seine brutale Selbstjustiz berüchtigt. Da die Engagement-Rate in den sozialen Medien des Landes bei nahezu neunundneunzig Prozent lag, wurde jeder, dem man ein Fehlverhalten vorwarf, von wütenden Mobs verfolgt, die in den Augen des Internets »Gerechtigkeit« übten.

Anfangs nahm man das ebenso hin wie Massenschießereien – es war eben der Preis, den man bezahlt, wenn man in einer freien und offenen Gesellschaft lebt.

Dann kamen die Ausschreitungen. Nach einer Reihe von Randalen in mehreren Städten, die auf das Konto des Hives gingen, war die Regierung gezwungen, zu handeln und Gesetze zu verabschieden, um den Hive so gut wie möglich im Zaum zu halten. Aber der Hive war dezentralisiert. Er hatte keine Führungsebene. Er folgte keinem Plan, den man durchkreuzen konnte. Er war einfach.

»Er war wir«, hatte Harlon zu Cassie gesagt. »Wir sind dem Hive begegnet und er war wir.« Und dann lachte er auf eine Art, die ihr verriet, dass er gerade auf ein altes Zitat angespielt hatte, das sie nachschlagen musste, wenn sie es verstehen wollte.

Es war zu spät, um dem Hive die Macht zu entreißen – dafür war er mittlerweile schon zu groß –, doch man konnte ihn lenken. Kanalisieren. Mithilfe aller großen Firmen, die das Internet betrieben, entwickelte die Regierung neue Algorithmen, um das Justizsystem des Hives auf rechtliche Füße zu stellen. Ein soziales Netzwerk wurde eingerichtet, das den Namen BLINQ trug. Es war ausschließlich den Bürgern der Vereinigten Staaten zugänglich und seine Nutzung war verbindlich. Es sammelte die Inhalte aller anderen Plattformen, sodass man das gesamte Profil eines Menschen in den sozialen Medien auf einen Blick erfassen konnte. Man konnte die Aktionen anderer wie bisher mit »Gefällt mir« oder »Gefällt mir nicht« bewerten … aber man konnte sie nun auch »Verurteilen«. Und wenn die Anzahl der Verurteilungen bei einem Nutzer einen bestimmten Schwellwert überschritt, gewichtet nach Parametern wie der Verbreitungsgeschwindigkeit und früheren Beiträgen in den sozialen Medien, wurde eine offizielle Strafe verhängt.

Und das zog handfeste Konsequenzen außerhalb des Internets nach sich.

Die Gerichtsbarkeit in der analogen Welt blieb zwar bestehen. Straftaten wie Diebstahl, Veruntreuung und Körperverletzung wurden noch immer durch Polizisten, Anwälte und den ganzen altmodischen Kram geregelt. Doch jeder musste schließlich einsehen, dass man das Internet nur mit dem und durch das Internet kontrollieren konnte. Jahrelang hatte man versucht, der digitalen Welt mit alten analogen Werkzeugen zu Leibe zu rücken. Es war ein Kampf auf verlorenem Posten, wie sich jeder, der etwas vom Internet versteht, hätte denken können. Heute waren die Menschen für ihr Verhalten im Internet voll verantwortlich … und hatten mit Konsequenzen außerhalb des Netzes zu rechnen.

Und, wie Cassie immer wieder betonte, wenn Rachel sich auf einen ihrer Anti-Hive-Kreuzzüge begab, die Lage hatte sich gebessert. Die Internetnutzer waren nun vorsichtiger, verantwortungsbewusster. Was konnte falsch daran sein, egal, wie sehr ihre Mutter dagegen wetterte?

»Ich komme zu spät zur Schule«, meinte Cassie beiläufig, inmitten der Tirade ihrer Mutter hinein. »Mir ist das ja egal.«

Rachel wurde nur äußerst ungern laut. Und sie tat es gewöhnlich auch nicht. Aber dass Cassie sich an Hive-Justiz beteiligte … nun, das torpedierte ihre Selbstbeherrschung hundertprozentig, ganz zu schweigen von der Migräne, die es auslöste. Hatte Cassie überhaupt zugehört? Das war schwer zu sagen. Cassie hatte ihren Gesichtsausdruck so im Griff, dass er Rachel nichts über den Gemütszustand ihrer Tochter verriet. »Perfektes Teenager-Pokerface«, hatte Harlon es genannt.

Harlon. Mein Gott, Harlon. Der Teil von ihr, dem sie das Träumen und Fantasieren noch gestattete, glaubte daran, dass nichts von alldem geschehen würde, wenn er noch am Leben wäre.

Aber in einem Punkt hatte Cassie recht.

Rachels Blick fiel auf die Uhr am Küchenherd. »Schei… Mist!« Sie versuchte, vor Cassie nicht zu fluchen. Sie hegte die wunderbar naive Vorstellung, dass ihre Tochter eines schönen Tages das Verhalten der Mutter nachahmen würde. »Wir kommen zu spät!«

»Jep«, sagte Cassie sanft. Womöglich hörte sie also doch zu? Rachel schüttelte den Kopf. Das war jetzt auch egal. Der heutige Tag war wichtig für beide: Cassie kam in die zwölfte Klasse an der Westfield Highschool, Rachel trat ihren Lehrstuhl an der Microsoft/Buzzfeed University an. Vielleicht, dachte sie, während sie einen Müsliriegel und einen Apfel in ihre Aktentasche warf, sollten sie heute Abend feiern. Sie könnte beim Thailänder bestellen. Das war zwar Geldverschwendung, aber auch Cassies Lieblingsessen.

Die Vorbereitung auf die neue Stelle hatte Rachel von Harlons Tod abgelenkt und dafür war sie dankbar. Aber tief in ihrem Inneren, an einem Ort, zu dem weder Cassie – oder sonst irgendjemand – Zutritt hatte, war sie zugleich zutiefst verängstigt. Als Teilzeitdozentin am Community College in ihrem alten Viertel hatte Rachel nur ein paar Seminare in Altertumswissenschaften pro Semester unterrichtet und so viel Zeit gehabt, dass sie dem Lehrer-Eltern-Ausschuss von Cassies Schule beitreten und bei den meisten Fußballspielen und Mathewettbewerben ihrer Tochter zuschauen konnte. Nicht, dass es Cassie besonders interessiert hätte, erinnerte sich Rachel. Egal, wie oft sie auf der Tribüne gesessen und Cassie angefeuert hatte, war Cassie stets enttäuscht, wenn nicht auch Harlon zugegen war.

Doch Harlon arbeitete als Informatiker bei einigen der größten Softwareunternehmen der Welt und auch bei einigen der kleinsten, aber einflussreichsten. Seine häufigen Dienstreisen waren ein Reizthema ihrer Ehe. Nach seinem Tod hatte sie festgestellt, dass sie trotz seiner lückenlosen Beschäftigung aufgrund einiger Fehlinvestitionen und Harlons teurer Technik-Hobbys in ziemlich großen finanziellen Schwierigkeiten steckten. Es war ihm ausgezeichnet gelungen, diese Tatsache vor ihr zu verbergen. Manchmal weinte sie deshalb vor Kummer, leise, wenn Cassie schlief. Manchmal, meistens im unbarmherzigen Licht des Tages, hätte sie deswegen am liebsten etwas an die Wand geschleudert. Warum hatte Harlon ihr nichts davon erzählt? Warum hatte er so lange geschwiegen?

Rachel blieb nichts anderes übrig, als ihr Haus zu verkaufen, die Schulden zu begleichen und eine kleinere (okay, deutlich kleinere) Wohnung im Stadtzentrum zu suchen, wo sie eine besser bezahlte Arbeit finden konnte. Es hatte sie dennoch überrascht, als die Universität sie zu einem Vorstellungsgespräch einlud. Es handelte sich um eine noble Privateinrichtung, die den wohlverdienten Ruf genoss, ihre Studentenschaft aus den Reichsten der Reichen zu rekrutieren. Die Eltern der Studenten waren Gründer und Geschäftsführer von schnieken Unternehmen und Technologiefirmen, Investmentbanker und Unternehmer, Öl- und Gasmagnaten. Obwohl Altertumswissenschaften keinen Studenten mehr hinter dem Ofen hervorlockten, erachteten die Eltern – die die Studiengebühren bezahlten – diese Bildung dennoch für notwendig. Wie sie solche Jugendliche erreichen sollte, war ihr ein Rätsel.

Cassie stand an der Wohnungstür und klopfte mit dem Fuß. Sie zog die Augenbrauen auf diese gelangweilt-fragende Art hoch, sodass Rachel bei ihrem Anblick erstarrte. Sie konnte nicht anders. Plötzlich war sie beeindruckt, wie erwachsen ihre Tochter war, mit ihrer Körpergröße und ihrer Haltung, mit der Art, wie ihre Augen scheinbar Millionen Geschichten zu erzählen hatten. Erwachsen, bemerkte Rachel, doch nicht mehr unversehrt.

Draußen warteten zwei Männer – es waren immer zwei – in einem schwarzen Zivilfahrzeug und schlürften die Reste ihres Kaffees. Der Kaffeesatz bildete in den weißen Pappbechern Pünktchenmuster, aus denen man die Zukunft hätte lesen können. Sie parkten dort schon geraume Zeit, und der Kaffee war so weit abgekühlt, dass es einen beim Trinken schüttelte und man sich fragte, warum überhaupt jemand dieses Gebräu in sich hineinschüttete.

Die beiden waren seit Sonnenaufgang da. Für die McKinneys begann ein neues Schuljahr, und die Männer wussten noch nicht genau, wie deren Planung für die einzelnen Wochentage aussah. Die Chefetage hatte den Männern aufgetragen, sich gleich auf den Weg zu machen. Und so hockten sie nun hier in ihren abgetragenen Anzügen.

Endlich kam Bewegung ins Spiel.

Mann eins stieß den Schuh von Mann zwei an, der seine langen Beine so übereinandergeschlagen hatte, dass sie Mann eins ins Gehege kamen. Beide Männer setzten sich auf, aber so cool, als hätten sie das schon millionenfach getan.

Was sie natürlich auch hatten.

»Zielpersonen entdeckt«, raunte Mann eins leise ins Headset. Er wartete auf weitere Instruktionen. Sie hatten nur ein Auto, sodass die Oberen entscheiden mussten, welcher Zielperson sie folgen sollten.

Die Anweisung, die sie nach ein paar Sekunden schließlich erhielten, war eindeutig.

»Verstanden«, sagte Mann eins und nickte knapp. Er wartete, bis die Zielpersonen das Ende des Häuserblocks erreicht hatten, und ließ dann den Wagen an.

Im morgendlichen Treiben der Stadt nahm keiner Notiz davon.