AYLA DADE wurde 1994 geboren und lebt mit ihrer Familie im Norden Deutschlands. Sie hat Jura studiert, nutzt aber am liebsten jede freie Minute zum Schreiben. Die Seiten ihrer Romane füllt die beliebte Buchbloggerin mit großen Emotionen an zauberhaften Schauplätzen. Wenn sie sich nicht in die Welt ihrer Bücher träumt, verbringt sie ihre Zeit mit Sport und kuschligen Lesestunden vor dem Kamin. Mit Like Fire We Burn setzt Ayla Dade ihre Winter-Dreams-Reihe fort und nimmt ihre Leserschaft mit auf eine romantisch-prickelnde Reise in ein Winterwunderland mit verschneiten Tälern, schneebedeckten Bergen und einem Feuerwerk an knisternden Gefühlen.
Außerdem von Ayla Dade lieferbar:
Like Snow We Fall
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AYLA DADE
LIKE
FIRE
WE BURN
Roman
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Umschlag: bürosüd GmbH
Umschlagmotiv: www.buerosued.de
Redaktion: Steffi Korda
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27765-9
V001
www.penguin-verlag.de
To all the girls
with their heads in the clouds
Damals, du und ich, wir waren so vieles,
erinnerst du dich?
Wir waren Herbstküsse und Winterlicht,
und da war Liebe in deinen Augen, jedes Mal, wenn du vor Glück gelacht hast, jedes Mal, wenn ich sagte, dass wir mehr sind als das, was andere vorgeben zu sein,
seelenglücklich, wolkenleer
Wir waren das Feuer, das in unseren Herzen brannte,
pur und unzerstörbar, niemand in der Lage, es zu löschen,
heiße Berührungen, auf meiner Haut, ich spür sie heut noch,
tief in mir
Wir waren Poesie in jedem Atemzug,
der Mond in deinen Augen, der mit jedem Blick
auf meine Haut schien, meine Lippen streifte, mir zeigte, dass die Sache zwischen uns,
zwischen dir und mir,
nicht von dieser Welt war
Damals, du und ich, wir waren so vieles,
erinnerst du dich?
Ayla Dade
Das Erste, was ich sehe, sind die Rocky Mountains.
Das war schon immer so. Jedes Mal, wenn ich aus dem Bett aufgestanden bin und aus dem Fenster gesehen habe. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlassen habe. Die Rocky Mountains waren da.
Und das Erste, woran ich denke, hier, zu Hause, zurück in Aspen, ist Wyatt.
Wyatt Lopez. Der Wyatt, der mir das Herz gebrochen hat.
Das könnte ich sagen, aber es wäre gelogen. Er hat es mir nicht nur gebrochen – das wäre niemals genug, niemals auch nur ansatzweise mit dem vergleichbar, was er wirklich getan hat.
Würde ich jemandem sagen müssen, was passiert ist, müsste ich mir die Ohren zuhalten und irgendwie auch Kopf und Verstand ausschalten, weil ich es dennoch hören würde. Denn es passiert ja in meinem Kopf, wenn ich daran denke, und, wirklich, ich will nicht dran denken, niemals nie und einfach überhaupt gar nicht.
Trotzdem tue ich es. Klar, denn es nicht zu tun, wäre irgendwie übermenschlich.
Wyatt Lopez war alles. Das sage ich nicht einfach so, weil es mich zerreißt und er mir fehlt, sondern weil es einfach so war. Wir waren besessen voneinander, nicht auf irgendeine abgefuckt toxische Art, sondern süchtig vor Liebe, alle beide, und eigentlich ist es das Schönste auf der Welt, klar, hallo, bedingungslose Liebe mal zwei, besser geht’s nicht. Und genau deshalb hat es so heftig, so zerreißend wehgetan, als er sich dazu entschieden hat, sein bestes Stück auszupacken und in Gwendolyn reinzuschieben, als wäre sie ich, als wäre das – uppps – mal eben passiert, kein Ding, ganz normal, Verwechslung halt.
Erinnerungen können so was von scheiße sein, wenn sie nicht gerade schön sind.
Ich bin abgehauen, weil ich nicht mehr denken konnte, nicht mehr fühlen, weil ich geplatzt bin vor zu vielen Gefühlen und Wut und Wyatt.
Da war dieses Video. Dieses Video, wie mein Wyatt mit dem breiten Oberkörper und den sehnigen, muskulösen Armen in diesem dunklen Raum steht. Ich sehe, wie er eine Vase vom Nachttisch fegt, weil er torkelt, und sie auf dem Boden zerschellt, und wie er dann irgendwie aufs Bett fällt, auf dieses Bett mit Rentierbettwäsche und dem Ausblick auf die Aspen Highlands, über denen der Mond scheint, hell und klar und viel zu schön für diesen Moment. Dann sehe ich sie, sehe Gwendolyn, die denkt, sie wäre ich, muss sie ja, wenn sie da in diesem Bett liegt und die Beine breit macht, und dann – uppps – zerstört sie mein Leben, zerstört er mein Leben. Und alles, was bleibt, ist nichts, und ich spüre Schmerz und Hass und Trauer und Wut und Liebe, was für eine Scheiße, warum Liebe, warum, warum, warum.
Jetzt bin ich wieder hier. Back to the roots. Die Türen des Aspen Airport öffnen sich. Ich nehme einen tiefen Atemzug, spüre, wie eiskalte Luft meine Lungen schneidet, und vergrabe meine Hände in den gefütterten Taschen meines Parkas. Müde reibe ich mir die Augen. Im Flugzeug zu schlafen, gleicht einem Ding der Unmöglichkeit. Mein träges Hirn bedankt sich für die rühmliche Idee, einen Nachtflug zu buchen.
Fast ein Jahr ist vergangen, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin. Es war bloß über Weihnachten, aber diese zwei Wochen haben dafür gesorgt, dass ich die nächsten zehn Monate damit verbracht habe, Wyatts Gesicht aus meinen Erinnerungen zu vertreiben. Seine Gesichtszüge sind viel zu ästhetisch, viel zu schön, als dass es noch normal sein könnte, mit dieser kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen, diesen Grübchen in seinen Wangen und dieser Frisur, oben wuschelig wild, an den Seiten kurz, die jeden Tag perfekt sitzt, obwohl so etwas gar nicht möglich ist.
Es hat nicht funktioniert. Sein Gesicht ist da. Genau vor meinen Augen. Das mit uns ist zwei Jahre her, aber er ist da, die ganze Zeit, obwohl er nicht da ist.
Abgefahren, oder?
»Aria!«
Ich wende meinen Blick von der imposanten Bergkette des Snowmass Mountain ab und drehe mich nach rechts.
William steht mit dem Rücken an seinen himmelblauen Ford Pick-up gelehnt, stößt sich ab und breitet die Arme zu einer riesigen Umarmung aus. So ist William. Aspens Mann für die Verwaltung. Aspens verrücktester Bewohner mit dem größten Herzen, das man sich überhaupt vorstellen kann. Und er steht auf Umarmungen. Am liebsten würde er die große weite Welt umarmen. Er sagt immer, dieser Planet sei zu einsam. Die Welt brauche Liebe und solche Menschen, die bereit wären, sie ihr zu geben. Wie recht er hat, denke ich, und dann wieder an Wyatt, verdammtnochmalwannhörtdasauf.
Ich lächle. »Hey, Will.« Sein Schnurrbart kratzt an meiner Wange, als er die Arme um mich schließt. Er riecht wie früher: nach antiken Möbelstücken und Pferd.
Er löst sich von mir und nimmt mir Koffer und Tasche ab, um sie auf die Ladefläche zu legen. »Ich wollte mit der Kutsche kommen.«
»Das hätte mir gefallen.«
»Ich weiß.« Er geht zur Beifahrerseite und hält mir die Tür auf. »Doch ich fürchte, der Highway hätte die Pferde verschreckt.«
»Vermutlich.«
William braucht drei Versuche, um den Wagen zu starten. Der Motor brummt, und das Radio springt an. Irgendein Countrysong. So ist das hier in Aspen. Alles wirkt friedlich. Eine gewaltige Bergkette und mittendrin Häuschen an Häuschen an Häuschen, mit Bewohnern, die sich alle kennen. Wären wir ein Film, trügen wir altmodische Kleider und tanzten um unseren Glockenturm herum, im Hintergrund die Countrymusik, weil alles schön ist, alles heimisch, solange man nicht tiefer geht und den Klängen mancher Herzen lauscht. Melancholie in jedem Schlag, viel zu einsam für Countrysongs, außer es sind die von Taylor Swift.
Wir verlassen den Flughafen und nehmen den Highway Richtung Zentrum.
»Deine Mutter freut sich, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch.«
Mom hat Rheuma. In den letzten Monaten ist es schlimmer geworden, und sie hat es lange vor mir verheimlicht, weil sie wusste, dass ich sofort alles hinschmeißen und zurückkommen würde. Denn so bin ich, immer in Sorge, viel zu selbstlos und voller Liebe, obwohl Wyatt sich größte Mühe gegeben hat, alles in mir zu zerstören.
Aber ich bin Aria. Ich bin nett. Ich bin gut. Deshalb bin ich hier. Mein Herz ist mir egal. Meine Mutter nicht. Und, ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich die letzten zwei Jahre damit verbracht zu hoffen, dass jemand anruft und mich braucht, damit ich nach Hause kommen kann. Allein hätte ich es mir nie eingestanden. Ich wäre nie in der Lage dazu gewesen zu sagen: Hey, Aria, eigentlich willst du gar nicht an der Brown studieren. Eigentlich willst du zurück in deine Heimat. Du willst in den Morgenstunden wandern und Teil der Aspen Highlands werden, willst die feinen Fußspuren kleiner Vögelchen im frischen Schnee sehen, willst Wyatt aus der Ferne beobachten und dir vorstellen, wie es wäre, wenn er dich nie betrogen hätte.
Was für ein schöner Gedanke. Wenn er dich nie betrogen hätte. Wir wären heute noch das, was wir einmal glaubten zu sein.
»Ich verstehe nicht, warum du nicht im Stall arbeiten möchtest, Aria.« William setzt den Blinker und nimmt die Ausfahrt ins Zentrum. »Der Job wäre perfekt für dich.«
»Deine Pferde hassen mich, Will.«
»Sie hassen dich nicht. Sie sind nur misstrauisch.«
»Letzten Winter wollte Sally meinen Arm abreißen.«
»Das darfst du nicht persönlich nehmen. Zu der Zeit war sie sehr gereizt.«
»Du solltest aufhören, sie ständig auf Diät zu setzen. Sie wird gemeingefährlich. Wirklich, dieses Tier ist ein T-rex.«
Er seufzt. »Ich fürchte, sie kommt in die Wechseljahre.«
»Eine Tragödie. Sie wird ganz Aspen niedertrampeln. Ich habe dir schon damals gesagt, dieses Ei sieht irgendwie grün aus, du solltest es nicht ausbrüten.«
William lacht. »Es ist schön, dich wiederzuhaben, Aria.«
Ich lächle, versinke tiefer in meiner Kunstfellkapuze und stelle mir vor, diese Worte nicht von William zu hören. Ich stelle mir vor, sie von einem Mann zu hören, dessen Mund sich vor zwei Jahren auf Lippen gelegt hat, die nicht mir gehörten. Ein grausamer Gedanke. Furcht einflößend. Ich will nicht daran denken, aber tue es doch.
Masochistisch, oder?
»Du kannst mich hier rauslassen, Will.«
»Unsinn. Du willst deine Koffer nicht durch die halbe Stadt schleppen.«
»Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß.«
»Ja. Sag ich doch. Die halbe Stadt.«
Ich verdrehe die Augen, lächle aber. »Dann lade meine Sachen zu Hause ab, okay? Ich habe Aspen vermisst. Ich brauche das gerade.«
»In Ordnung. Aber pass auf den T-rex auf. Er könnte dich jagen.«
»Alles klar.«
William fährt rechts ran und lässt mich aussteigen. Meine braunen Dr. Martens sinken in einen Laubberg neben dem Glockenturm. Ich kann es kaum erwarten, dass der Herbst dem Winter weicht. Aspen zur kalten Jahreszeit ist Magie in jedem Atemzug.
Während ich durch die Straßen gehe, muss ich daran denken, wie anders Providence in Rhode Island ist. Eine riesige Hauptstadt, jedes Individuum bloß ein anonymes Wesen, das in der Masse untergeht. Niemand grüßt sich. Alle hetzen bloß, in den Augen Stress, Angst, irgendwas zu verpassen, irgendwas nicht zu schaffen, irgendwie unterzugehen, Angst vor allem und noch mehr.
Das gibt es hier nicht. Aspen ist zwar ein Touristenhotspot, aber es ist eine Kleinstadt. Hier kennt jeder jeden. Ich könnte das ganze Leben unserer Nachbarin Patricia aufsagen, chronologisch und detailliert, dabei ist sie schon fast neunzig. So ist das in Aspen. Es passieren Dinge, und jeder weiß es. Es passieren Dinge, die niemals wieder vergessen werden.
Vor dem Eckgebäude mit der Aufschrift Kates Diner bleibe ich stehen. Es ist noch früh, kurz vor sieben. Rosa Schlieren zieren den babyblauen Himmel, an dem vereinzelte Zuckerwattewölkchen vorbeiziehen. Das Geräusch von Außenjalousien, die im Schaufenster von Woodn’s Supermarkt in ihren Halterungen verschwinden, erfüllt die windstille Luft. In Kates Diner wartet eine Schlange von Menschen, die zur Arbeit müssen, auf ihren Kaffee. Der Wind lässt die Blätter rascheln, weht sie an mir vorbei über den Asphalt, während ich dastehe und durch die Schaufenster auf der anderen Straßenseite blicke. Kate wirbelt hinter der Theke herum, ihre geblümte Schürze um die Hüfte geschlungen, und huscht von dem einen Vollautomaten zum anderen. Die fertigen Kaffeebecher drückt sie ihrer Tochter in die Hand, die die Kunden bedient.
Gwendolyn. Ich weigere mich, ihren Spitznamen auszusprechen, Gwen, weil es bedeuten würde, dass ich sie mag, und das tue ich nicht mehr. Früher einmal, ja, da war sie meine süße halbthailändische Freundin, die gelacht hat, wenn Wyatt und ich uns Popcorn in die Nase gesteckt und geschaut haben, wer sie weiter pusten kann, aber jetzt, jetzt ist alles anders. Sie ist der Grund, weshalb mein Herz nicht mehr funktioniert. Wyatt und sie haben es kaputtgemacht. Einfach so. Dabei macht man Herzen nicht kaputt. Sie sind wertvoll, und wertvolle Dinge zerstört man nicht.
Gwendolyn sieht auf, als sie einem Kunden den Becher reicht. Sie lächelt und sagt etwas, wünscht ihm vermutlich einen schönen Tag, denn manche Menschen können das noch haben, schöne Tage. Als er sich umdreht und sie den nächsten Gast bedienen möchte, huschen ihre Augen über seine Schulter nach draußen.
Sie sieht mich. Sie sieht mich, und das Lächeln auf ihrem Gesicht erstirbt. Ich unterbreche den Blickkontakt nicht. Ich will wissen, was sie denkt. Ich will wissen, ob sie bereut, was sie getan hat. Sie soll mich ansehen und sich verdammt noch mal beschissen fühlen.
Aber in ihrer Miene ist nichts, was ich auf die Entfernung erkennen könnte. Keine Regung. Es widerstrebt mir, die Tatsache einzugestehen, doch Gwendolyn ist wie ich. Sie ist eine Meisterin darin, ihre Emotionen zu verstecken. Ein perfektes Pokerface.
Ich wünschte, ich könnte sie hassen. Nur leider liegt mir dieses Gefühl nicht. Objektiv betrachtet kann ich sie sogar verstehen. Wäre ich sie, und jemand wie Wyatt würde Interesse an mir zeigen, könnte ich mit ziemlicher Sicherheit auch nicht widerstehen. Ich glaube, keine Frau könnte das. Wyatt ablehnen. Er hat diese Art, diese besondere Ausstrahlung, der man sich nicht verwehren kann, denn alles an ihm wirkt stylish und abenteuerlich, besonders, irgendwie neu, auch nach Jahren noch neu, und irgendwie verrucht. Einfach von allem ein bisschen. Bestimmt hat er geleuchtet für sie. Er war die verbotene Frucht, und sie hat ihn angebissen.
Gwendolyn wendet den Blick ab, als Kate ihr den Kaffeebecher für den Kunden zum wiederholten Male vor die Nase hält.
Ich gehe weiter. Die Glocken beginnen zu läuten und kündigen die volle Stunde an. Zwei Gäste kommen aus der Haustür unseres holzgetäfelten Bed & Breakfast. Der Mann setzt sich gerade eine blaue Beanie auf, als seine Frau in die Ferne auf Kates Diner deutet. Sie trotten an mir vorbei, und ich halte unsere Haustür mit der Handfläche auf, bevor sie ins Schloss fallen kann.
Zu Hause. Zum ersten Mal wieder ganz zurück, ohne ein Flugticket, das darauf wartet, eingelöst zu werden. Ich bin wieder hier. Und ich bleibe hier.
Es riecht nach Holz. Nach Pancakes und Ahornsirup. Und nach dem vertrauen Ledergeruch des durchgesessenen langen Sofas in L-Form in der Loungeecke am gemauerten Kamin, in dem ein Feuer knistert. Diese Gerüche werde ich für immer und noch danach mit meinem Zuhause in Verbindung bringen.
Ich schließe die Tür. Dieser Teil des Raumes ist leer, doch im angrenzenden Essbereich hinter dem steinernen Rundbogen erkenne ich Gäste an den Tischen. Sie frühstücken, Glück im Gesicht, Frieden im Herzen. Denn so ist das mit unserem B&B. Es weckt den Frieden in einem.
Meine Schritte werden von dem türkischen Teppich gedämpft. Mom bemerkt mich nicht, als ich durch den Rundbogen gehe. Sie steht am Frühstücksbüfett und kann sich nicht entscheiden, auf welchen gehäkelten Blumenuntersetzer sie die Kirschmarmelade platzieren soll.
»Der orangefarbene«, sage ich und lächle. »Aus dem weißen bekommst du die Flecken nicht mehr raus. Das hatten wir doch schon mal.«
Meine Mutter wirbelt herum. Das Marmeladenglas stößt gegen die Schüssel mit dem Obstsalat und erfüllt die Luft um uns herum mit einem Klirren.
In den vergangenen zwei Jahren hat das Rheuma meine Mutter verändert. Durch das Kortison ist sie aufgedunsen, und der Stress hat ihr Falten beschert, aber jetzt gerade nicht, jetzt gerade strahlt sie, und ich denke nur: Gott, wie schön sie ist, meine Mommy. Wie schön.
»Komm her, Maus.« Sie stellt die Marmelade auf den Untersetzer, den orangefarbenen natürlich, und drückt mich an sich. Der vertraute Rosenwasserduft gemischt mit Ahornsirup gibt mir ein Stück Kindheit zurück – es ist, als wäre ich wieder fünf Jahre alt. Mom zerwühlt mir das Haar, und ich drücke sie fester, ehe sie sich von mir löst.
»Frühstück?«
Ich nicke. »Koffein. Ich brauche Koffein. Und einen Bagel.«
»Ich habe deinen Frischkäse gekauft. Den mit Paprika und Schnittlauch.«
»In Providence gab es den nicht«, sage ich, während Mom und ich uns an den kleinen Tisch am Feuer setzen, den sie bereits gedeckt hat. Das liebe ich besonders an unserem Zuhause: Fast überall empfängt einen knisterndes Feuer. »Ich war in jedem Supermarkt. In jedem, Mom. Weißt du, wie viele Supermärkte es in der Stadt gibt? Einige. Und ich war überall, wie ein streunender Hund auf der Suche nach Leberwurst. Irgendwann war ich nur noch bekannt als die Frischkäsetante.«
Mom gießt uns Kaffee ein. Es sind unsere Ohne-Sinn-Tassen. Bunt zusammengewürfelt, mit den schrägsten Aufdrucken. Wir sammeln sie auf Flohmärkten und in Trödelläden. Das ist irgendwie unser Ding. Heute habe ich eine, auf der steht Du stinkst. Es ist meine Lieblingstasse.
»Ich habe dir gesagt, du sollst das nicht machen. Rhode Island ist nicht Aspen, Aria. Die Leute ticken anders. Die finden Frischkäsetanten nicht so cool wie wir.«
»Ja. Ich wollte es nicht glauben, aber es stimmt.«
Der Toaster spuckt unsere Bagel aus. Mom will aufstehen, aber ich erkenne den Schmerz in ihrem Gesicht und komme ihr zuvor.
»Bleib sitzen.« Als ich vom Büfett zurückkomme, sehe ich, wie Mom ächzend die Finger spreizt. Mit einem flauen Gefühl im Magen setze ich mich und schiebe ihr einen Bagel auf den Teller. »Wie schlimm ist es wirklich? Und keine Ausreden. Ich bin deine Tochter. Sag mir, wie es dir geht. Und sag mir die Wahrheit, bitte, denn alles andere ist einfach scheiße, okay?«
Sie sieht mich lange an. Ich erkenne den nachdenklichen Ausdruck in ihren Augen, weil ich exakt die gleichen habe. Sie kann mir nichts vormachen. Mom wägt ab, ob sie mir wirklich die Wahrheit sagen soll, aber als sie meinen eisernen Blick sieht, knickt sie ein.
Sie seufzt. »Nicht so gut. Aber ich komme damit klar, Aria. Es ist nichts, was dich beunruhigen sollte.«
Ich beschmiere den Bagel mit meinem Frischkäse. Ich sage meinem, weil ich diesen Frischkäse liebe, wirklich, ich vergöttere ihn. »Wir kriegen das hin. Ich helfe dir.«
Moms Hände wirken steif, als sie den Henkel der Kaffeetasse umschließt und sie sich an die Lippen führt. Der Anblick zupft an meinem Herzen. Kein Zupfen der kribbelnden Sorte, nein, ein unangenehmes.
Als meine Mutter das bemerkt, lässt sie die Tasse wieder sinken und neigt den Kopf. »Aria, Maus. Ich komme klar. Du sollst dich auf dein Studium konzentrieren. Mit zwanzig bist du zu jung, um deine Zeit mit einer alten Frau zu verbringen und das Leben an dir vorbeiziehen zu lassen.«
»Ich konzentriere mich auf mein Studium. Trotzdem kann ich dir helfen.«
Meine Mutter nippt an ihrem Kaffee, ehe sie mir einen fragenden Blick zuwirft. »Ich verstehe immer noch nicht, wie genau das mit dem Wechsel funktioniert.«
Ein Pärchen betritt den Essbereich, an der Hand ein kleines Mädchen. Höchstens sechs. Zwei weißblonde Zöpfchen stehen von seinem Kopf ab. Süß. Meine Lippen formen sich zu einem leichten Lächeln, als ich sehe, wie die Kleine mit leuchtenden Augen zum Schokoladenaufstrich rennt.
»Es war nicht so kompliziert, wie du denkst.«
Das Mädchen zerrt am Ärmel ihres Vaters und deutet auf die Schokocreme. Ich wende mich ab und sehe in die viel zu erschöpften Augen meiner Mutter. »Ich habe einen Eilantrag gestellt, entsprechende Begründungen und deine ärztlichen Beurteilungen beigelegt, und der Wechsel an die Aspen University wurde bewilligt.«
Mom lehnt sich in dem knarrenden Holzstuhl zurück und mustert mich skeptisch. »Was ist mit deinem praktischen Jahr in Seattle?«
»Habe ich abgelehnt.«
»Abgelehnt? Davon hast du mir nichts erzählt, Aria!« Ihr Blick ist vorwurfsvoll.
Ich zucke die Achseln und knabbere an meinem Bagel.
»Hast du denn schon einen Platz in Aspen gefunden?«
Ihre Frage rüttelt meinen Magen durch und ruft ein mulmiges Gefühl in mir hervor. Der Frischkäse schmeckt plötzlich nicht halb so gut wie sonst. »Nein. Das hat Zeit. Die praktische Ausbildung beginnt erst in einem Jahr.«
Sie seufzt. »Aria.«
»Ich werde einen Platz finden, Mom.«
»Es geht um deine Zukunft.«
»Ja. Und wie schon gesagt …« Ich lasse den letzten Bissen Bagel in meinem Mund verschwinden, trinke meinen Kaffee aus und erhebe mich. »Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Ich regle das. Ich bin Aria, schon vergessen? Aria, die alles regelt. Aria, die alles unter Kontrolle hat. Kein Problem, Mom.«
Als ich ihr einen Kuss auf den Scheitel drücke, lächelt sie, aber sie sieht nicht überzeugt aus. Kein Wunder. Noch nie in meinem Leben war ich Aria, die alles unter Kontrolle hat. Mom weiß das besser als irgendwer sonst.
Schweigend räume ich den Tisch ab, und jedes Mal, wenn ich wiederkomme, um etwas anderes mit in die Küche zu nehmen, mustert sie mich aus ihren hellen Augen argwöhnisch und besorgt.
»Alles wird gut«, sage ich, als ich fertig bin. »Du wirst schon sehen.«
Was für eine Lüge. Seltsamerweise ist es immer am einfachsten zu lügen, wenn es darum geht, anderen die Sorgen zu nehmen, obwohl man innerlich einfach schreit und weint und absolut gar nicht klarkommt. Aber das könnte ich ihr nicht sagen. Ich meine, könnte ich schon, aber wie dumm, denke ich, wie dumm, sie zu belasten, wenn es ihr so schlecht geht. Das mache ich nicht.
Dann verlasse ich den Essbereich. Ich schenke einer Familie im Wohnzimmer ein warmes Lächeln, husche an ihnen vorbei und laufe die massive Holztreppe hoch. Die Stufen knarren. Meine Finger streichen über das lasierte Geländer, spüren die Kerben, jede einzelne so vertraut, dass ich genau weiß, wo welche ist. Oben angekommen, drehe ich den Kopf automatisch zum rechten Ende des Flurs. Als ich klein war, habe ich stundenlang auf der gepolsterten Bank vor dem Fenster gesessen und die Leute draußen beobachtet. Ich lasse den Blick über die Wände wandern. Sie sehen aus wie immer. Zur Hälfte weiß getäfelt, der Rest eine babyblaue Tapete mit pastellfarbenen Blümchen. Zwischen den Türen der Gästezimmer stehen noch immer die wuchtigen Echtholzkommoden, auf deren Schubladen ich als Kind geklettert bin, und das Einzige, was sich an den zwei Messingkronleuchtern über meinem Kopf geändert hat, sind die Glühbirnen. Wie vertraut mir dieser Ort ist! Und wie gut sie sich anfühlt, diese Vertrautheit. Mit einem wehmütigen Lächeln gehe ich den Flur entlang, links durch die Verbindungstür zu unserem Wohnbereich.
Der Flur unterscheidet sich nicht von dem der Gäste – es ist ein und derselbe, nur unterteilt durch die nachträglich eingebaute Trennwand. Am Ende dieses Ganges führt eine Holzleiter aus dicken Baumstammstreben aufs Dach. Und dieses Dach ist mein Zimmer.
Mein Zimmer.
Es sieht noch genauso aus wie vor zwei Jahren, bevor ich Aspen verlassen habe. Für eine kurze Zeit hat Paisley hier gewohnt. Sie ist Eiskunstläuferin und letztes Jahr hergezogen. Damals war sie verloren, ist vor ihrem Trainer aus Minneapolis geflüchtet und hat sich in Aspen gefunden. Ich liebe sie. Jeder liebt sie. Paisley ist … Sie ist wie Aspen. Man ist bei ihr und fühlt Frieden.
Ich schmunzle, als ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen lasse. Entweder hat sie akribisch versucht, nichts durcheinanderzubringen, oder Mom hat alles so hergerichtet, wie es war, damit ich mich zu Hause fühle. Vorstellen kann ich mir beides.
Die Wände sind schräg zulaufend, das Fenster befindet sich an der geraden Dreieckswand, die zur Straße führt. In der Grundschule war ich die Coolste, weil ich allen gesagt habe, ich wohne in einem Dreieck.
Dieser Raum ist der wahr gewordene Traum eines jeden Mädchens, das auf Cozy Christmas Feeling steht. Lichterketten schlängeln sich um die Dachbalken. Die Wände bestehen aus rustikalem Holz. Ich habe sie nie tapeziert, weil es mir so gefiel. An den Wänden stehen ein breiter Schrank, ein uralter Schreibtisch, den ich nie benutze, und zwei Kommoden. Mein Blick gleitet zu dem weißen Polstersofa unter dem Doppelfenster. An den Vorhängen hängt noch immer eine goldene Girlande mit einem Weihnachtsstern, die ich vor einigen Jahren dort angebracht und dann – natürlich –vergessen habe. Irgendwie wollte ich sie später nicht mehr abhängen. Irgendwie gefällt sie mir.
Das Holz unter dem Rautenteppich knarrt, als ich den Raum durchquere. Seltsam, wieder hier zu sein. Nicht nur vorübergehend, sondern einfach zurück. Zurück in Aspen. Zurück in meinem Zimmer. Das ist mindfuck at its best, denn hier kommt alles zusammen. Alle Erinnerungen auf einmal, schöne, aber auch schlechte. Viel zu viel einfach.
Ich lasse mich auf mein Bett sinken und genieße das Federn der Matratze. Die in meinem Wohnheim an der Brown hat das nicht gemacht, die war steinhart, wie ein Betonklotz, obwohl wir so viel Geld für mein Studium ausgegeben haben, mein ganzes Sparkonto. Mehrere Tausend Dollar für ein Betonbett, supernice, oder?
Mit der Handfläche streiche ich über das Ende des Bettes, fühle das geschliffene Holz der weiß bemalten Baumstammpflöcke.
Mein Dad hat dieses Bett gebaut. Ich war vierzehn, und meine Beine waren so lang, dass sie einen halben Fuß über das Gestell meines Kinderbettes geragt sind. Wenn ich geschlafen habe, dann immer wie ein Embryo, damit es passte. Total abgefahren, die Vorstellung.
Etwa zu dem Zeitpunkt kam ich mit Wyatt zusammen. Wir waren beide noch grün hinter den Ohren, beide so verknallt, dass wir uns kaum ansehen konnten, ohne rot zu werden. An einem Samstagmorgen hat Dad beschlossen, Wyatt auf seine Fähigkeiten als Handwerker zu testen. Er hat ihn mit in die Red Mountains genommen, einen Baum gefällt und innerhalb eines Tages mit ihm dieses Bett gezimmert. Danach gehörte Wyatt für ihn zur Familie. Zumindest so lange, bis Dad mit einer gebräunten Touristin in die Hamptons abgehauen ist und sich nie wieder gemeldet hat.
Mit einem lauten Seufzen lasse ich mich rücklings auf die alte Patchworkdecke fallen und hebe den Arm, um die Lichterkette über meinem Gesicht beiseitezuschieben. Sie hängt quer durchs Zimmer. Eigentlich war sie an dem Holzbalken über mir befestigt, aber im Laufe der Zeit müssen einige Klebestreifen aufgegeben haben. Ich blicke durch das schräge Dachfenster genau über meinem Kopf. Wir haben es nachträglich eingebaut, weil ich als Kind immer davon geträumt habe, vor dem Schlafen die Sterne zu zählen. Jetzt gerade wabern morgendliche Wolken am Horizont und färben den Himmel rosa. Ich schließe die Augen.
Dieses Zimmer gehört mir. Jahrelang habe ich in diesem Dreieck gelebt. Es ist meins, aber ich fühle mich fremd. Ich habe das Gefühl, gar nicht mehr zu wissen, wer ich eigentlich bin.
In Aspen war ich Wyatts Aria. In Providence war ich die Sportmedizinstudentin, eine melancholische Aria, die nie ausgegangen ist und die die verschneiten Berge vermisst hat, den verrückten William, die Stadtversammlungen, die Touristen, die Wanderungen, Spuren im Schnee, Kindergebrüll auf Schlitten, Waffeln mit heißen Kirschen vor dem Kamin während eines Schneesturms.
Jetzt bin ich zurück, aber ich bin nicht mehr Wyatts Aria. Ich bin auch nicht mehr die Aria, die auf die Brown geht und ihre Tage damit verbringt, einsam zu sein.
Wer bin ich?
Meine Damen und Herren, ich habe keine Ahnung.