Buch

Jim Henson hat nicht nur die weltberühmten »Muppets« geschaffen, sondern revolutionierte auch das Fantasygenre auf der Leinwand: Sein Film »Der dunkle Kristall« (1982) besitzt Kultstatus, was die Serienmacher von Netflix unlängst dazu bewogen hat, die Vorgeschichte des Meisterwerks zu erzählen. Der Serienhit »Der Dunkle Kristall: Ära des Widerstands« basiert auf der auf Deutsch noch unveröffentlichten Fantasy-Saga von J. M. Lee. Darin erzählt er die Geschichte der Gelflingfrau Naia: Sie versucht, ihren verschwundenen Bruder zu finden, der einer schrecklichen Intrige zum Opfer gefallen ist. Dabei deckt Naia ein entsetzliches Verbrechen auf, welches die Welt Thra für immer verändern wird.

Alle Bände der »The Dark Crystal«-Saga:

Der dunkle Kristall 1. Ära der Schatten

Der dunkle Kristall 2. Zeit der Lieder (in Vorbereitung)

Der dunkle Kristall 3. Nacht der Gezeiten (in Vorbereitung)

Der dunkle Kristall 4. Stunde der Flammen (in Vorbereitung)

Der Autor

J. M. Lee verbrachte seine Jugend in Minnesota, wo er in dem Glauben aufwuchs, mit Tieren sprechen und das Wetter beherrschen zu können. Am College interessierte er sich für vergleichende Filmwissenschaft, Drehbuchschreiben sowie Shakespeare und schloss sein Studium an der University of Minnesota im Fach Linguistik mit Schwerpunkt japanische Phonetik ab. Er lebt in Minneapolis. Für die Netflix-Serie »Der dunkle Kristall. Ära des Widerstands« lieferte Lee mit seinen Romanen die Vorlage und fungierte als Berater und Drehbuchautor.

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Roman

Ins Deutsche übertragen
von Susanne Gerold

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Shadows of the Dark Crystal 1«
bei Grosset & Dunlap, New York 2016.

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Illustrations © by Brian Froud and Cory Godbey

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Waltraud Horbas

Umschlaggestaltung: © Max Meinzold, München nach einer Originalvorlage von Penguin Workshop

Umschlagillustration: Brian Froud © 2016 The Jim Henson Company

TM & © The Jim Henson Company. JIM HENSON’S mark & logo, THE DARK CRYSTAL mark & logo, characters and elements are trademarks of The Jim Henson Company. All Rights Reserved

LO Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-27268-5
V001

www.blanvalet.de

Ein besonderes Fala vam an Claire sowie Kate und Kathryn. Außerdem an meine Mutter, weil sie mich zu einem Künstler und Träumer erzogen hat, und an meinen Vater, weil er mich in einem Alter, in dem man besonders leicht zu beeindrucken ist, dazu überredet hat, einen furchterregenden Puppenfilm zu sehen – J. M. Lee

Für K. G. – Cory Godbey

Am Anfang herrschte Stille …

und dann begann das Lied.

Der dunkle Kristall: Schöpfungsmythos

Kapitel 1

Die Besucherin tauchte am frühen Morgen auf, lange bevor die Große Sonne am blassblauen Himmel ihren Höchststand erreicht hatte.

Naia beobachtete sie aus dem kühleren Laubdach der großen, ineinander verschlungenen Affenknotenbäume. Zuerst legte sie die Hand auf ihre Stein-und-Seil-Bola, hielt aber dann inne, als die Besucherin zögerte und ihren völlig mit Schlamm und Algen verschmierten Umhang ablegte. Unter der Kapuze sah Naia das ernste Gesicht einer Gelfling-Frau mit langen silbernen Haaren. Was machte eine Vapra so tief im Sumpf von Sogg? Das war merkwürdig – vielleicht sogar verdächtig –, aber weil ihr Herz kein bisschen schneller schlug, nahm sie die Hand wieder von ihrer Bola weg. Der Sumpf von Sogg erstreckte sich in alle Richtungen und gähnte den Morgen an, und das Gebrumm der Summer und das Gezirpe der Kletterer fügte sich harmonisch in das große Lied der Welt ein. Ohne die Besucherin aus den Augen zu lassen, nahm Naia eine saure Alfenfrucht aus ihrer Hüfttasche und begann nachdenklich zu mampfen.

»Sie muss von weit her kommen«, murmelte Naia. Darauf antwortete ihr Gefährte Neech, der sich in ihren rankenähnlichen Haaren zusammengerollt hatte, nur mit einem leisen Geplapper und vergrub seinen Kopf noch tiefer in ihren Dreadlocks. Als die Besucherin ihren Weg wieder fortsetzte, schnippte Naia den glatten, fingerknöchelgroßen Alfenfruchtkern in eine Furche der Affenknotenbaumrinde. Er glitt ihre Spiralen und Windungen entlang und verschwand in den Tiefen der knorrigen Bäume. Dann folgte sie ihm, ein weiteres Flackern im Kaleidoskop der Schatten im Laubdach.

Die Fremde brauchte den ganzen Nachmittag, um das Herz des Sumpfs zu erreichen. Ein oder zwei Mal überlegte Naia, ob sie nicht vorauseilen sollte, um ihr Dorf zu warnen. Sie befürchtete jedoch, dass sie die Besucherin dann möglicherweise an den Treibsand oder irgendwelche hungrigen Sumpfkreaturen verlieren würde. Sie hätte sich auch bemerkbar machen und ihre Hilfe anbieten können, aber Fremde wurden aus einem guten Grund als fremd bezeichnet. In den Tiefen des Sumpfes jemandem von draußen entgegenzutreten mochte für Naia genauso gefährlich sein wie eine Sumpfkreatur für die Vapra.

Die Reise, für die Naia allein nur ein paar Stunden gebraucht hätte, war so nicht nur anstrengend, sie nahm auch den ganzen Tag in Anspruch. Es dämmerte bereits, als die dicht an dicht stehenden Affenknotenbäume einer runden Lichtung mit riesigen, uralten Bäumen wichen, die von Gelfling-Händen liebevoll gepflegt wurden. Sie hatten das Zuhause des Drenchen-Clans erreicht. Naia musterte das System aus Holzstegen, die zwischen den Affenknotenbäumen auf dem Sumpf trieben, und hob dann den Blick zu ihrem Dorf, das darüber lag. Ein Netzwerk aus Gehwegen und Gehseilen verband Behausungen, die in die gewaltigen, knorrigen Bäume eingearbeitet worden waren, mit anderen, die an dicken Pendeln hingen. Eine ganze Welt in der Schwebe über dem Sumpf.

Als die Besucherin, deren Haut schweißnass schimmerte und mit Prellungen und Insektenstichen übersät war, sich am Rand der Lichtung eine Verschnaufpause gönnte, lief Naia eilig weiter zum Dorfzentrum. Sie sprang vom Ast auf das nächstgelegene Gehseil und hielt sich mit ihren nackten Zehen daran fest, während sie auf ihm entlanghastete. In der Mitte des Tals erhob sich der Große Smerth, der älteste Baum im ganzen Sumpf und seit Generationen der Wohnsitz ihrer Familie. Gewundene Gehwege zogen sich um seinen gewaltigen Stamm, gespickt mit kreisrunden Zugängen und Fenstern, die mit hübschen Blumen und dicken herabhängenden Ranken geschmückt waren.

Sie machte einen großen Satz, der sie ein halbes Dutzend Schritte weitertrug, und landete mit einem wohlberechneten Ba-Bumm! auf dem äußeren Landebalkon. Die flügellose Landung klang, als wäre ein Junge aufgeschlagen, aber das war nicht zu ändern. Sie hatte jetzt keine Zeit für Anmut. Als sie sich mit der Schulter voran durch die Tür ins Innere schob, hallten ihre Schritte vom goldenen Kernholz des runden Raums wider. Unterwegs begegneten ihr freundliche Gesichter, aber sie hatte jetzt nicht die Zeit, ihre Begrüßungen zu erwidern.

»Mutter!«

Neech gab ein kurzes, erleichtertes Zwitschern von sich und plusterte das Nackenfell auf, als Naia atemlos ins Zimmer ihrer Familie stürmte. Ihre Mutter saß in kunstvoll besticktem Stoff aus sattem Türkis und Gold gehüllt auf einem kleinen Stuhl, während ihre zwei jüngeren Schwestern Perlen und bunte Schnüre in ihre dicken Locken flochten. Maudra Laesid konnte man die Maudra des Drenchen-Clans nur allzu gut ansehen; Weisheit verlieh ihrem freundlichen Gesicht etwas Geduldiges, und Lachen machte es jung. Flecken, die das helle Frühlingsgrün spiegelten, sprenkelten ihre lehmfarbene Haut, und ihre Flügel schimmerten wie ein wunderschöner Umhang aus Indigo und Türkis. In ihren Händen lag ein Muski-Junges, das nur halb so groß wie Neech war. Auf seiner glatten schwarzen Haut zeichnete sich deutlich eine kleine Schnittwunde ab.

»Oh, Naia, guten Abend!«, sagte Laesid. »Du hast das Mittagessen verpasst, aber ich schätze, du kommst gerade rechtzeitig zum Abendessen.«

»Eine Fremde«, sagte Naia. Sie nahm sich ein feuchtes Tuch aus der Schüssel bei ihren Schwestern und wischte sich damit die Reste des Sumpfnebels von den Wangen. Ihre Schwestern sahen sie schief an, und Naia begriff, dass sie nicht von Anfang an erzählt hatte. »Heute Morgen, während meiner Wache. Ich habe gesehen, wie eine Fremde den Sumpf betreten hat. Sie ist jetzt hier und wartet unten. Sie scheint eine Vapra zu sein – ein Silberling, mit hellen Haaren und heller Haut. Hast du dich an die All-Maudra gewandt, Mutter?«

»Nein«, sagte Laesid. Sie richtete den Blick immer noch auf den kleinen Aal, den sie sanft in der einen Hand hielt, während sie mit der anderen eine langsame, kreisende Bewegung über ihm vollführte. Ihre Finger schimmerten in einem sanften, blauen Licht, das sich zusammenzog, sammelte wie eine Handvoll Kristallwasser. Als die Maudra ihre Hand wieder zurückzog, hatte sich der Schnitt geschlossen, und die Schwellung war zurückgegangen. Der Aal zwitscherte dankbar, bevor er durch das Fenster davonflitzte.

Eliona, die mittlere Tochter der Maudra, stand mit vor Aufregung gespitzten Ohren da, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die sich nichts anmerken ließ. »Eine Fremde!«, rief sie. »Von Ha’rar? Hat sie Geschenke von der All-Maudra dabei?«

»Wenn ja, dann müssen sie inzwischen voller Schlamm sein«, schnaubte Naia. »Sie ist unten gegangen. Es hat den ganzen Tag gedauert, Mutter! Haben Silberlinge überhaupt keinen Verstand, wenn es um Sümpfe geht?«

»Nein, denn an der Vapra-Küste gibt es keine Sümpfe«, erwiderte Laesid trocken. »Du hättest ihr helfen können, weißt du. Es hätte auch dir geholfen.«

Naia presste die Lippen zusammen, verschränkte die Arme und entschied sich, auf den leichten Tadel nicht einzugehen. Ihre Mutter schien immer eine noch bessere Lösung parat zu haben, ganz egal, wie sehr sie auch über ihre Entscheidungen nachdachte. Aber genau das machte eine Maudra schließlich auch aus – und Naia war noch keine Maudra.

»Wie auch immer … was tun wir jetzt?«

»Wenn sie wirklich von der All-Maudra geschickt wurde, sollten wir sie besser so schnell wie möglich begrüßen. Hol sie unten ab. Pemma, lauf zu deinem Vater und sag ihm, er soll zu Naia und unserer Besucherin gehen. Wenn sie nach mir fragt, ich werde sie in meinem Saal empfangen.«

Während Naias jüngste Schwester Pemma davonflitzte, um ihren Vater zu holen, nahm Laesid ihre Krücke vom Boden hoch und richtete sich mit ihrer Hilfe auf. Naia trocknete sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. Die Vorstellung, die Besucherin alleine zu empfangen, verunsicherte sie ein wenig, und obwohl sie zu alt für einen Aufpasser war, freute sie sich insgeheim darüber, dass ihr Vater dabei sein würde. Aus irgendeinem Grund erzeugte das Auftauchen der Vapra in ihr ein Gefühl, als würde ein Wurm in ihren Eingeweiden herumkriechen.

»Mutter«, sagte sie jetzt leiser. »Könnte es etwas mit Gurjin zu tun haben?«

Maudra Laesid zuckte mit den Schultern und machte eine vage Geste mit der Hand; auch sie hatte keine Antworten.

»Es geht nicht bei allem um deinen Bruder, Liebes«, erwiderte sie, aber ihre Stimme klang besorgt, und das Salz darin nährte den Wurm in Naias Bauch.

»Als das letzte Mal ein Silberling hergekommen ist …«, fing sie an.

»Nicht jeder Bote von der All-Maudra kommt hierher, um dir deine Familie wegzunehmen«, beendete Laesid den Gedanken. »Und jetzt geh und lass unsere Besucherin nicht länger warten. Zeig mir, wie geschickt du offizielle Dinge handhaben kannst. Lade sie zum Essen ein; dann werden wir herausfinden, was hinteralldem steckt.«

Naia schwieg jetzt; sie wusste nicht, wie sie ihr erklären sollte, was sie wirklich empfand. Als Gurjin in den Dienst der Burg des Kristalls getreten war, hatte Naia jede Menge Groll und Neid verspürt. Obwohl sie und ihr Bruder gleich alt waren und sich auch hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und ihrer Willensstärke glichen, verliefen ihre Schicksale unterschiedlich. Er hatte der Aufforderung Folge leisten müssen, während sie in Sogg bleiben musste und von ihrer Mutter ausgebildet wurde. Das war schließlich die Pflicht der ältesten Tochter. So war es immer gewesen. Naia hatte inzwischen gelernt, es zu akzeptieren, aber insgeheim hoffte sie immer noch, dass eines Tages ein Soldat kommen und auch sie auffordern würde, den Sumpf zu verlassen. Ihre Mutter schien allerdings nicht daran zu glauben.

Naia schluckte ihren Stolz hinunter und nahm den Steinweg: einen langen, sich windenden Tunnel, der nach unten zum Fuß des Großen Smerth führte. Sie ignorierte die Männer und Kinder in dem gewundenen Gang, die sie anblickten und lächelten, als sie an ihnen vorbeieilte. Sie überlegte bedrückt, was sie wohl dachten; selbst die Flügel von Eliona waren bereits erblüht, und die war ein Trigon jünger … Doch Naia schob diese quälenden Gedanken beiseite. Wie ihre Mutter einmal zu ihr gesagt hatte, war es nur eine Frage der Zeit: Erwachsenwerden ist eine Reise, kein Ziel.

Die Große Sonne stand schon lange an ihrem höchsten Punkt, und ihr roter Bruder spähte gerade über den Rand des sichtbaren Himmels, wärmte das Tal und beschien die versonnenen Gesichter der Drenchen überall auf den Gehwegen und Seilbrücken. Über und um Naia herum flüsterten andere von ihrem Clan, streckten ihre grauen und grünen und braunen Gesichter aus den herausgeschnitzten Fenstern und beobachteten die Reisende, die erschöpft am Kniestück einer nahen Wurzel lehnte. Während Naia sich ihr näherte, musterte sie sie genauer, was ihr zuvor nicht möglich gewesen war. Jetzt sah sie, dass die Besucherin im Gegensatz zu den stämmigen Drenchen so dünn wie ein Stock war, ein schmales Gesicht und hohe, sanfte Wangenknochen besaß. Im Gegensatz zu Naias dicken Locken, die zu Strängen aus Schwarz und Grün verflochten waren, hingen die Haare der Silberling-Frau in traurigen Schichten aus blassem Lavendel herunter, und obwohl sie eine stolze, ebenmäßige Stirn hatte und sich wie eine Erwachsene hielt, wäre es leicht gewesen, sie mit einer Hand hochzuheben und zurück in den Sumpf zu schicken, durch den sie gekommen war.

»Hallo«, rief Naia, als sie zu ihr trat. Durch die Stimme aufgeschreckt, richtete die Besucherin die Ohren in Naias Richtung, wie zarte Weißbecherblüten.

»Hallo«, antwortete sie in einem Akzent, der das Wort ein bisschen schärfer und kürzer klingen ließ. Obwohl sie müde war, stand sie auf und verbeugte sich auf kurze, förmliche Weise, berührte dabei die wie eine Unamotte geformte Spange am Kragen ihres Umhangs.

»Vielleicht könnt Ihr mir helfen. Ich bin Tavra aus Ha’rar. Ich hatte gehofft, Euren Clan um seine Gastfreundschaft bitten zu dürfen – falls dies keine zu großen Umstände bereitet. Wenn ich mit Eurer Maudra sprechen könnte …«

Als Tavras Stimme immer leiser wurde, begriff Naia, dass sie nichts mehr sagen würde, auch wenn sie den Satz nicht beendet hatte. Sie überließ es Naia, den Rest zu erraten, statt ihn laut auszusprechen. Naia schob die Zunge gegen die Zähne und nahm eine entspannte Haltung an, während sie das Kinn in die Höhe reckte; eine gut eingeübte Pose.

»Die Maudra ist meine Mutter, und ich bin ihre älteste Tochter. Ihr könnt mit mir an ihrer statt sprechen.«

Ganz kurz glitt Erleichterung über Tavras schmales Gesicht, aber in ihren Augen stand immer noch der gleiche Blick, mit dem sie ein wildes Nebrie mustern würde, von dem sie nicht wusste, ob es gefährlich war. War es das, was Fremde in den Drenchen sahen? Dann löste sich der Blick auf, genauso wie die auch immer gearteten Worte, die Tavra gerade hatte sagen wollen, als Naias Vater zu den beiden trat. Bellanji war stämmig und schwer, er hatte die Locken seines großen Bartes mit Perlenschnüren umwunden und hielt locker einen Speer in der Hand – ganz wie es seiner Rolle als Ehemann der Maudra entsprach.

»Hallo, ihr!«, sagte Bellanji mit seiner dröhnenden Stimme. »Naia! Ich dachte, ich hätte dich gebeten, deine Beute zu waschen, bevor du sie zum Esstisch bringst!« Dann stieß er ein lautes Lachen aus, hauptsächlich auf Tavras Kosten, und Naia spürte den Anflug eines Lächelns in ihren Mundwinkeln kribbeln.

»Vater, das ist Tavra«, sagte sie. »Aus Ha’rar.«

Bellanji hob eine dicke schwarze Braue.

»Ha’rar, ja?«, fragte er. »Hat die All-Maudra Euch gesandt? Oder seid Ihr vielleicht eine ihrer Töchter? Wie viele von ihnen gibt es inzwischen? Nicht weniger als vierundsechzig, da bin ich mir sicher.«

Tavras Wangen waren so blass, dass ihr Erröten nicht zu übersehen war. Sie hob die Hand.

»Ich bin nur eine Reisende, die zufällig aus der Heimat der All-Maudra der Gelflinge stammt«, sagte sie. »Schon vor langer Zeit habe ich von den Sehenswürdigkeiten und … Gerüchen … von Sogg gehört. Ich hatte gehofft, Euch um Eure Gastfreundschaft bitten zu dürfen, um all das mit eigenen Augen sehen zu können.«

Bellanji wartete; obwohl seine Tochter noch keine Maudra war, überließ er ihr die Entscheidung. Naia schwieg erst einmal; sie spürte, dass Tavras Worten noch etwas anderes zugrunde lag. Es gab einiges, das die Vapra nicht sagte, aber soweit Naias Instinkte es erkennen konnten, war es nichts so Gefährliches, dass der Drenchen-Clan nicht damit hätte fertigwerden können, sollte es Ärger geben. Entschlossen – zumindest in diesem Moment – nickte sie ihrem Vater zu. Er lächelte wieder und stieß kräftig den Speerschaft auf den Holzsteg, bevor er wegging.

»Dann werden wir also alle auf die eine oder andere Weise etwas zu sehen bekommen, oder?«, sagte er über die Schulter. »Naia, besorge Tavra aus Ha’rar einen Platz, damit sie unsere Gastfreundschaft genießen kann. Sie mag so lange hierbleiben, wie sie möchte – und heute beim Essen kann sie sich an all den Sehenswürdigkeiten und Gerüchen erfreuen, nach denen sie sich so gesehnt hat!«

Tavras Bitte war somit erfüllt worden, doch ihr Gesichtsausdruck wirkte alles andere als begeistert.

Kapitel 2

An diesem Abend saß Tavra links von Naia an der großen Tafel in der Festhalle, tief im Bauch des Großen Smerth. Die Besucherin aus dem Vapra-Clan hatte inzwischen ein Bad genommen und sich ein wenig ausgeruht und wirkte jetzt eher vornehm als müde. Naia malte sich aus, wie ihr Gast in den weißen Steinhallen von Ha’rar stand, dem Zuhause der All-Maudra. Von ihrem Platz aus konnte sie das Gesicht der Frau genauer mustern; sie sah, wie sie die Unruhe in ihrer Miene zu unterdrücken versuchte, wann immer die Bediensteten Wägelchen mit traditionellen Speisen der Drenchen zu ihnen schoben. Auf jedem dieser Wägelchen befanden sich mehrstufige Tabletts mit aus Holz und Blättern hergestellten großen Schüsseln, randvoll mit sich windenden Köstlichkeiten: Purpurrote Wurzkäfer und vergorene Nebriemilch-Klöße, Pilzflügelwedel und Naias Lieblingsspeise, vom Grund des Sumpfs gezupfter Blindfisch. Naia nahm sich immer gleich eine Handvoll von allem, während die Wägelchen vorbeigefahren wurden, häufte die Speisen auf dem breiten Blatt vor sich auf, während oben auf der Galerie über der emsigen Halle die Trommel-Sänger spielten und sangen.

»Wo sind …«, begann Tavra, dann sah sie den Tisch entlang, bevor sie ihre Frage überdachte und noch einmal neu anfing. »Habt Ihr kein Essbesteck?«

»Spieße«, sagte Naia. Sie deutete auf den Schilfrohrbecher am Ende des Tisches, in dem sich ein Dutzend spitzer Essspieße befand; ungefähr dort hatte Gurjin normalerweise gesessen, aber sein Stuhl war jetzt leer. Tavra schüttelte den Kopf; als Naia eine zappelnde weiße Blindfischbartel hinunterschlürfte, wurde sie sogar noch blasser, als sie es ohnehin schon war. Nachdem sie ein paar Wägelchen ungenutzt hatte passieren lassen, gewann der Hunger schließlich doch die Oberhand, und sie griff nach einer eher blättrig aussehenden Speise – und musste feststellen, dass sie mit krabbelnden, pelzigen Algen gewürzt worden war. Naia musste sich anfangs Mühe geben, nicht zu zeigen, wie sehr sie Tavras Dilemma erheiterte, aber schon bald spürte sie in ihrem Herzen einen Tropfen Mitleid mit der armen Frau und schob den Stuhl zurück.

»Komm, Neech. Suchen wir etwas, mit dem unser Gast was anfangen kann.«

Neech, der sich um ihren Hals gekringelt hatte, rührte sich und rutschte mit seiner glitschigen Haut über ihre Schulter, wo er seine Flügel streckte. Er gab ein kleines Tschilpen von sich und schoss davon, um einen Grashüpfer zu fangen, der zu weit vom Tisch weggehüpft war. Lässig kaute er auf ihm herum, während Naia sich zwischen den Bediensteten mit ihren Wägelchen und den in geselligem Beisammensein speisenden Gelflingen hindurchschob. Einige Drenchen klopften zwischen ein paar Bissen zu den Trommelklängen auf die Tische, und der ungestüme Rhythmus strömte wie ein Herzschlag aus dem Innern des Großen Smerth nach draußen. Alle möglichen Sumpfkreaturen hörten die Musik und kamen durch die geschnitzten Fenster herein, krochen zwischen den Stuhl- und Tischbeinen herum und hofften, einen der köstlichen Brocken, die auf den Boden gefallen waren, zu erwischen.

Naia füllte einen Teller mit Grünzeug und einem Blindfisch, den sie vorsichtig in mundgerechte Stücke schnitt. Sie kehrte damit zum Tisch zurück und stellte ihn – zusammen mit einem Becher Nebriemilch – vor Tavra hin. Schweißperlen sprenkelten die Stirn der Vapra wie eine Tiara, als würde diese Mahlzeit sie weit mehr anstrengen als die ganze Reise hierher.

»Danke«, sagte sie, wirkte aber immer noch blass. Ein bisschen besorgt zwang Naia sich zu einem Grinsen, damit die Besucherin sich entspannte. Schließlich breitete sich ein wärmeres Lächeln auf Naias Gesicht aus. Obwohl sie es für Tavra getan hatte, stellte sie fest, dass die Geste auch für sie selbst unerwartet angenehm war.

»Entschuldigt, dass wir kein … Essbesteck haben«, sagte Naia und setzte sich wieder hin. »Wir glauben, dass es zum Erlebnis des Essens dazugehört, es auch zu spüren. Es zu riechen, zu schmecken, zu sehen und anzufassen.«

Sie zeigte Tavra, wie man das Grünzeug und den Fisch in die knackigen Blätter einwickelte, und dann nahm die Vapra einen Bissen – und öffnete überrascht die zuvor zusammengekniffenen Augen. »Das ist ziemlich gut!«, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte.

Naia lachte und aß selbst weiter, rollte eine Ranke der blättrigen Algen zwischen den Fingern, bevor sie ihren salzigen, modrigen Geschmack kostete. Sie sah zu, wie Tavra mit zunehmender Begeisterung aß, und lächelte in sich hinein. Weiter unten am Tisch sah sie ihre Eltern; sie sahen zu ihr her und lächelten ebenfalls.

»Wie gefällt Euch Sogg?«, fragte Maudra Laesid. »Jetzt, da Ihr nicht bis zur Taille drinsteht?«

»Ich habe auf meinen Reisen schon viele Orte gesehen«, erwiderte Tavra, die ihren Teller inzwischen fast leer gegessen hatte. »Dieser hier unterscheidet sich sicherlich am meisten von dem in der Nähe des Meeres, wo ich herkomme.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Bellanji und lachte in sich hinein.

»Ich habe das Meer noch nie gesehen«, sagte Naia.

»Zwischen dem Sumpf und dem Meer gibt es einen entscheidenden Unterschied. Wenn man dicht bei einem Sumpf steht, sind Wasser und Erde eins. Beim Meer kann man dort auf der Erde stehen, wo das Wasser anfängt. Es erstreckt sich von da bis zum Horizont, so weit das Auge reicht.«

Naia versuchte, sich so etwas vorzustellen, aber es fiel ihr schwer. In Sogg gab es überall etwas zu sehen – Dinge, die nah waren und Dinge, die fern waren, egal, in welche Richtung man schaute. Sogar beim Blick hinauf zum Nachthimmel fand man unzählige Sterne und die drei leuchtenden weißen Gesichter der Schwesternmonde. Die Vorstellung, dass irgendetwas weiter reichte, als sie sehen konnte, erschien ihr langweilig – oder aber, wie sie schaudernd begriff, überwältigend.

»Wer ist das da um Euren Hals?«, fragte Tavra.

Naia sah auf Neech hinunter, der sich wie ein Schal lässig über ihre Schultern gelegt hatte.

»Er heißt Neech. Muskis werden für die Jagd abgerichtet – man weiß schließlich nie, wohin die Beute fällt, die man getroffen hat, und es wäre eine große Verschwendung, sie oder die Bola zu verlieren.« Sie kraulte Neech unter dem Kinn, und er gab ein zufriedenes Schnurren von sich. »Noch ist er ein Baby, aber je älter er wird, desto größer wird er. Der Aal meiner Mutter war beinahe groß genug, dass ich und mein Bruder gleichzeitig auf ihm reiten konnten, als wir klein waren.«

Tavra streckte die Hand aus, um Neech zu streicheln, aber er sträubte das Fell und die Stacheln am Kopf und breitete die Flügel aus, um größer zu wirken. Tavra riss die Hand zurück und entschuldigte sich. Naia streichelte Neech beruhigend den Rücken und brachte ihn dazu, Fell und Stacheln wieder anzulegen.

»Euer Bruder …«, sagte Tavra, aber es war so leise, dass sie auch nur zu sich selbst gesprochen haben könnte. Sie neigte den Kopf in Richtung des leeren Stuhls, vorbei an den flinken Händen von Naias Schwestern, die sich Klöße von den vorbeirollenden Tabletts nahmen. »Gurjin?«

Naia nickte. »Er hat sich zum Dienst in der Burg des Kristalls verpflichtet«, sagte sie, und augenblicklich breitete sich eine unangenehme Stille um sie und Tavra herum aus, eine Blase inmitten der Trommelklänge und Rufe und des Festschmauses. »Vor zwei Trigonen. Am Anfang hat er uns noch besucht, aber die Reise von der Burg hierher ist ziemlich weit, und ich schätze, es zieht ihn nicht gerade hierher, so herrlich und großartig, wie es dort mit den Herrschern und allem anderen ist.«

Naia versuchte, so zu klingen, als wäre sie stolz auf ihren Bruder, denn das sollte sie sein, aber sie scheiterte kläglich. Bei seinem letzten Besuch hatte Gurjin unentwegt von der Burg und der Welt jenseits von Sogg geschwärmt. Die ganze Zeit war es nur um ihn gegangen, um die aufwendigen Feiern und die Besucher, die aus allen Ecken von Thra zu ihnen kamen. Naia aß gerne Blindfisch, aber Gurjin hatte einmal gesagt, dass die Feste der Skekse mit nichts zu vergleichen waren – nicht einmal mit denen der Drenchen. Sie sehnte sich danach, den Festsaal zu sehen, den er beschrieben hatte, mit der hohen, gewölbten Decke, in die Juwelen und glänzende Metalle eingelassen waren – und die fetten Brühen zu kosten, die süßen Kuchen und die Krabbeltiere, die über Dutzende von stoffbezogenen Tischen hinweg zu opulenten Hügeln hoch aufgeschichtet waren. Saß er gerade bei einem solchen Festmahl, während sie hier in Sogg jeden Tag damit verbrachte, durch denselben alten Sumpf zu wandern und die strenge Maudra-Ausbildung durch ihre Mutter über sich ergehen zu lassen? Sie vermutete es.

»Rivalitäten zwischen Geschwistern können ziemlich schwierig sein«, sagte Tavra. Sie versuchte, mit tröstenden Worten auf Naias harten Ton zu reagieren, aber der Versuch führte nur zu einem weiteren zornigen Ausbruch. Was wusste diese Reisende denn davon?

»Rivalitäten, ha! Gurjin und ich haben die gleichen Fähigkeiten, die gleichen Interessen. Wir sind sogar gleich alt – Zwillinge! Aber ich bin die älteste Tochter, und deshalb muss ich Maudra werden, während er zum Dienst auf der Burg verpflichtet wurde. Wäre das nicht so, wären wir beide gegangen.«

Tavra schloss abrupt den Mund und hielt den Atem an, dann gab sie ein leises »Oh« von sich, und das war das Letzte, was irgendwer von ihnen beiden dazu sagte. Naia ließ den alten Schmerz verblassen und schob ihn schließlich ganz beiseite.

Dann prallte von hinten etwas heftig gegen sie beide. Naia stieß ein Uff aus, als sie gegen Tavra fiel und sie beide von ihren Stühlen und zu Boden stürzten. Sie sprang auf, rief den zwei tobenden Drenchen-Jungen etwas hinterher, die jetzt auf den Tisch hüpften und die Weidenplatten und Schüsseln und Trinkgefäße durcheinanderpurzeln ließen, bevor sie unentwegt lachend weiter durch den Saal rasten.

»Entschuldigung«, sagte Naia. Sie bückte sich und reichte der noch am Boden liegenden Tavra die Hand; die Vorderseite ihres eben noch sauberen Kleides war jetzt mit Speisen besudelt, die zuvor auf dem Tisch gewesen waren. Tavra griff nach der ausgestreckten Hand, und als sie sich berührten, schnappte Naia überrascht nach Luft, denn plötzlich rasten Bilder vor ihrem geistigen Auge dahin: Ein wunderschöner Gelfling – eine Vapra mit einem leuchtenden Diadem, in fließende, silberfarbene Gewänder gehüllt, die weißen Haare zu kunstvollen Spiralen und Knoten geflochten. Eine Spur Härte lag auf ihrem ansonsten sanften Gesicht: die Bürde, die mit der Führung des Volks der Gelflinge einherging.

Eine Stimme erklang in Naias Geist. Es war die Stimme von Mayrin, der All-Maudra aller Gelflinge …

Finde Rian. Finde Gurjin.

Der Name ihres Bruders löste Erinnerungen aus, die in den Bilderstrom glitten, bevor Naia sie aufhalten konnte: wie sie Gurjin an dem Tag, als er mit den anderen Soldaten weggegangen war, Lebewohl gesagt hatte. Die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, als ihr nicht erlaubt worden war mitzugehen … und der Tag, an dem Naia aufgegeben und ihre Wut wie einen kleinen schwarzen Ball in sich verborgen hatte. Wie sie ihre Pflichten akzeptiert hatte, die darin bestanden, dass sie die zukünftige Maudra sein und das Heil-Vliyaya erlernen würde, ebenso wie Geschichte und die Fähigkeit, Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern ihres Clans zu schlichten.

Dann tauchte aus Tavras Erinnerungen wieder die Stimme der All-Maudra an die Oberfläche, dieses Mal härter und schroffer:

Finde sie. Finde alle ihre Verbündeten …

Der Befehl löste sich in Luft auf, als Naia schließlich ihre Hand zurückzog und Tavra wieder zu Boden stürzte. Als sie sich nicht mehr berührten, hörte auch die Vision auf.

»Ich … Es tut mir leid«, sagte Naia. »Ich wollte nicht … Hier.«

Sie konzentrierte sich darauf, ihren Geist zu beschränken, und hielt Tavra wieder die Hand hin. Als diese sie jetzt nahm, gab es kein Bilderströmen mehr – kein Teilen von Erinnerungen. Mit heißen Wangen half Naia der Vapra, ihr beschmutztes Gewand mit etwas Wasser zu säubern. Tavra sprach währenddessen nicht ein einziges Wort, aber Naia war sich sicher, dass sie an das dachte, was passiert war. Unbeabsichtigtes Bilderströmen war ein Eingriff in die Privatsphäre, und ganz sicher sollte ein Gelfling in Naias Alter in der Lage sein, so etwas zu verhindern.

»Es tut mir leid«, sagte Naia noch einmal.

»Ich sollte mich jetzt zurückziehen«, sagte Tavra, ohne sich anmerken zu lassen, ob sie die Entschuldigung annahm. »Für mich war es ein langer Tag, und ich fürchte, dass ich die Augen nicht mehr sehr lange aufhalten kann.«

Naia stand neben ihr und rang die Hände, während Tavra sich noch einmal hastig bedankte und schließlich verschwand. Als sie weg war, winkte Laesid Naia zu sich. Widerstrebend trat Naia zu ihrer Mutter und rieb sich mit dem Handrücken die Stirn.

»Das war ein schneller Abgang«, bemerkte Laesid, während sie Naia geistesabwesend über die Haare strich. »Was ist passiert?«

»Ich habe aus Versehen Bilder mit ihr geströmt«, murmelte sie, hoffte halb, ihre Worte würden dahinschwinden, bevor ihre Mutter sie hören konnte. Sanft schob sie die Hände ihrer Mutter von ihren Haaren weg, wollte sich in diesem Moment ganz und gar nicht wie ein Kind fühlen. »Es ist mir so peinlich.«

»Ich bin mir sicher, dass ihr beide es überleben werdet, solange kein Schaden entstanden ist«, sagte Laesid und faltete die Hände in ihrem Schoß. Bellanji, der das offenbar mitbekommen hatte, beugte sich näher.

»Hast du etwas Wichtiges gesehen?«, fragte er.

Naia dachte erst, er würde sie aufziehen, aber seine Augen lächelten gar nicht. Sie hatte bereits versucht, die persönlichen Erinnerungen zu vergessen, die sie in Tavras Geist gesehen hatte, aber als ihr Vater fragte, kamen ihr die Bilder der wunderschönen All-Maudra nur allzu leicht wieder in den Sinn, zusammen mit den geheimnisvollen Worten:

Finde Rian. Finde Gurjin.

Wer war Rian, und was hatte das alles mit ihrem Bruder zu tun – und noch wichtiger, was hatte Tavra mit den beiden vor? Naia erzählte ihren Eltern, was sie gesehen hatte, und als sie fertig war, lehnten sich Bellanji und Laesid wieder zurück, sahen einander an und tauschten sich auf stumme Weise aus, wie sie es manchmal taten – und die keine Worte und kein Bilderströmen benötigte. Sie nickten einander zu.

»Naia«, sagte Laesid mit ruhiger, aber ernster Stimme. »In diesem Licht betrachtet glaube ich, dass es an der Zeit ist, die nicht sehr erfolgreiche Tarnung unseres Gastes aufzuklären. Iss jetzt erst einmal fertig, danach werden wir uns unverzüglich in meiner Kammer treffen. Es ist höchste Zeit, mit Tavra aus Ha’rar ein paar Worte in der Klarsprache zu reden.«