MICHAELA SEUL

Luna

Seelengefährtin

Mein Hund, das Leben und

der Sinn des Seins

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Integral Verlag

Integral ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München..

ISBN 978-3-641-11076-5
V004

Erste Auflage 2013

Copyright © 2013 by Integral Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Birgit Bramlage

Covergestaltung: Guter Punkt, München – Andrea Barth

Cover: Eric Isselee / shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

www.integral-verlag.de

Das Meer türkis und der Himmel blau. Auf den Klippen sitzt du eng neben mir, und wir schauen in eine Richtung, wo Wasser und Himmel verschmelzen. Ich beiße noch ein Stück von dem roten mehligen Apfel ab. Ein winziger Wurm ringelt sich im Fruchtfleisch, reckt seinen Stecknadelkopf zur Sonne. Ich reiche dir das Apfelstückchen – ein Boot mit seinem blinden Passagier. Vorsichtig nimmst du es entgegen. Nun beiße ich für mich ab. Geduldig wartest du, bis du erneut an der Reihe bist. Süßer Apfelsaft tropft aus deinem schönen schwarzen Maul.

Die Haltbarkeit des Hundes

Am Tag danach beobachte ich, wie sie ihre Nase einem Gebilde in der feuchten Wiese nähert, mit dem ich keine Bekanntschaft machen möchte. Sie wedelt, und ich freue mich. Ihre Rute – mein Stimmungsbarometer. Mein Hund tut etwas, das mir nie in den Sinn käme, und … macht mich froh. An diesem frühen Septembermorgen … über den See wabern lang gezogene Nebelschwaden … begreife ich, dass mich Luna lieben lehrte. Wie sonst soll ich es nennen, wenn ich ein Verhalten, das mir eigentlich zuwider ist, nicht nur akzeptiere, sondern mich sogar darüber freue, weil sie sich freut? Und das bedingungslos. Ist das nicht ein Merkmal echter Liebe?

Hunde, so dozierte die Trainerin in der Welpenschule, können nicht lieben. Wir glauben das nur, weil wir es uns wünschen. Oder weil wir uns schämen?

Vielleicht ist die Treue, die man Hunden nachsagt, nichts anderes als eine in Fell gekleidete Liebe. Es ist mir egal, ob mein Hund mich liebt. Ich jedenfalls liebe ihn. Diesen schwarzen, weichen, manchmal semiduftenden, mit Begeisterung abschleckenden Seehund mit den schönen braunen Augen. Wobei ich jetzt nicht aufzählen werde, warum meiner der tollste Hund der Welt ist, denn das kann jeder Hundebesitzer.

Die Zeit mit dem tollsten Hund der Welt scheint sich dem Ende zuzuneigen. Statistisch sowieso. »Die Haltbarkeit des Labradors«, hörte ich kürzlich im Radio, »beträgt zehn bis vierzehn Jahre.« Aber statistisch ist noch lange nicht gefühlt, wie ich aus der Vorhersage des Wetters weiß. Und was bis vor wenigen Tagen als statistischer Wert nichts mit meinem Leben zu tun hatte, bringt es als Diagnose zum Einstürzen. Nicht nur bei mir.

»Ich habe des Öfteren darüber nachgedacht, warum Hunde ein derart kurzes Leben haben, und bin zu dem Schluss gekommen, dass dies aus Mitleid mit der menschlichen Rasse geschieht; denn da wir bereits derart leiden, wenn wir einen Hund nach zehn oder zwölf Jahren verlieren, wie groß wäre der Schmerz, wenn sie doppelt so lange lebten?«

Sir Walter Scott

Luna ist der schwarze Schatten einer Schriftstellerin. Bei vielen meiner Bücher hat sie mich begleitet und sich auf langen Spaziergängen angehört, was im nächsten Kapitel geschehen soll oder warum das aktuelle Kapitel noch einmal neu durchdacht werden muss. Sie hat sich dabei stets in Zurückhaltung geübt, doch schnurgerade die richtige Fährte verfolgt, und wenn wir nach Hause kamen und sie ihre Faksimiles großzügig auf dem Fußboden verteilte, wusste ich immer, wie es weitergeht.

Jetzt weiß ich das nicht. Und es tut unendlich weh, obwohl sich eigentlich nichts geändert hat: Der Hund ist derselbe, nur gibt es nun eine schwarze Wolke über ihm, wie eine Überschrift, und ich starre auf die Prophezeiung. Das ist der erste Fehler. Schau nicht auf das Etikett. Schau, was drin ist, ermahne ich mich.

Ein kräftiges Herz und ziemlich viele Muskeln. Eventuell ein paar Dinge, die nie ans Licht kommen werden, wie mein verschollener Fahrradschlüssel. Hast du einen Hund, hast du einen Sündenbock. Der Hund macht es dem Menschen leicht. Mit dem kann man nämlich nicht diskutieren. Ich finde es jetzt nicht so toll, dass du mit schmutzigen Pfoten über die hellen Fliesen tappst. Musst du dich gerade hier schütteln? Also lässt man das bleiben. Es wäre entspannend, auch für die Beziehung zu anderen Menschen, wenn man nicht erwarten würde, das Gegenüber müsste einen verstehen.

Achte nicht auf die Angst. Vergiss, was sein könnte. Es könnte auch anders sein. Schau genau hin. Luna liegt in ihrem Korb und schläft wie immer nach dem Frühstück, und manchmal zucken ihre Pfoten im Traum. Sie weiß nichts von dem Ding, das in ihrer Milz entdeckt wurde, das da nicht hingehört. Knapp drei Zentimeter groß, ein Zufallsbefund nach einem Schlangenbiss, den sie, wie durch ein Wunder, überlebte. Sie ist ganz die Alte. Aber leider zu alt. »Mit fast zwölf Jahren hat sie doch ein schönes Alter erreicht«, meinte die Tierärztin.

Ich bin die Große. Ich bin die Chefin. Als Rudelführerin habe ich jede Situation unter Kontrolle. Das erwartet Luna von mir, dann fühlt sie sich sicher. Sie muss nicht entscheiden, ich entscheide. Gehen wir nach rechts oder links, bleibt sie vor dem Obstgeschäft neben den Kirschen oder Blumen sitzen, legt sie sich in ihren Korb oder darf sie Frisbee spielen, was fällt in den Napf?

Das alles entscheide ich.

Ich werde auch entscheiden, ob sie die Todesspritze bekommt. Und wann und wo. Vielleicht auch nicht. Sicher ist nur eins: Ich bin die Große, und ich muss mich jetzt zusammenreißen, damit alles ist wie immer und wir einen schönen Abschied hinkriegen. Von dem sie am besten nichts merkt. Wenn es ein Milztumor sein sollte, platzt er möglicherweise beim Spielen, und dann geht es ganz schnell. Inneres Verbluten, keine Schmerzen, versicherte mir die Tierärztin. »Rufen Sie mich jederzeit an, dann schläfere ich sie ein.«

Tock, tock, klopft es aus ihrem Korb, die Rute auf dem Boden. Wie so manches Mal fühle ich mich ertappt. Als hätte sie meine Gedanken gelesen. Einem Hund macht man nichts vor. Ich kenne die Koordinaten, Algorithmen, morphogenen Felder nicht, auf die sie sich bezieht. Ist es mein Geruch? Die Dynamik meiner Bewegungen? Immer weiß sie mehr als ich, und indem ich sie beobachte, erfahre ich, wie es mir geht – und ihr, da sie darauf reagiert. Mein schwarzer Hundling, wie der Wildfang in Bayern genannt wird, ist der Spiegel meiner Seele, sehr viel Es und angeblich kein Ich, darüber thront die Chefin, die nun über sich hinauswachsen muss.

Letzte Woche am See, als ich dachte, wir wären nach dem Schlangenbiss über den Berg, schwammen wir mindestens eine halbe Stunde lang, mein Seehund und ich. Vom Ufer aus beobachtete uns ein älterer Mann. Oft schon habe ich diese ganz besonderen Blicke gespürt, wie der Lichtstrahl eines Projektors, und statt Staub tanzen dort die Erlebnisse mit einem verstorbenen Hund. Manchmal hat auch jemand zu mir gesagt: »Ihr Hund erinnert mich an meinen Jockel.« So etwas wollte ich nie hören, es kam mir vor wie ein schlechtes Omen.

Der alte Mann hatte auch einen Hund gehabt, der zwar schon lange tot war, doch unvergessen. Ich konnte ihn wedeln sehen in seinem Blick.

»Warum halten Sie jetzt keinen Hund mehr?«, fragte ich ihn.

»Ich bin zu alt«, erwiderte er.

Diese Antwort hatte ich schon einige Male gehört und mir immer gedacht, dass man doch auch einen älteren Hund aus dem Tierheim zu sich nehmen kann, wenn einem ein Welpe zu anstrengend ist.

»Wissen Sie«, fuhr der Mann fort, »wenn man älter ist, wird die Haut dünner. Nicht bloß die im Gesicht und am restlichen Körper. Auch die Seelenhaut wird dünner. Ich habe so viel erlebt, das wehgetan hat. Gute Freunde sind gestorben, andere haben schwere Schicksalsschläge erlitten, und auch ich selbst musste einiges verdauen. Da ist keine Kraft mehr, sich noch einmal von etwas zu verabschieden, das man so tief ins Herz geschlossen hat, wie man es eben nur bei einem Hund tut.«

Mit Mitte dreißig habe ich meinen damaligen Mann verloren und eine Gnadenfrist erhalten, denn mein Atem, den ich in seine Lungen blies, als er plötzlich wie tot auf der Straße lag, hielt ihn noch sechzehn Stunden auf der Intensivstation am Leben, er erlangte das Bewusstsein nie mehr. Für mich waren diese sechzehn Stunden sein größtes Geschenk. Ich konnte beginnen, das Undenkbare, das Unvorstellbare wie eine in der Ferne schwebende Prophezeiung zu einem neuen Kapitel meines Lebens zu erkennen, um es in den folgenden Tagen und Wochen und Monaten zu begreifen und zu akzeptieren. Seither weiß ich, dass der Abschied von einem sterbenden Menschen die Richtung weist, wohin die Trauer wandern wird. Es ist leichter, vor dem Abschied wegzulaufen. Doch er holt einen immer wieder ein. Und dann dauert er länger, viel länger, wenn er überhaupt gelingt.

Was ich in Worte fassen kann, macht mir keine Angst. Und was ich in Worte gefasst habe, das wabert nicht mehr zerstörerisch in meinen Gefühlen herum: Auch das Leben eines Hundes ist endlich. Sodass ich jetzt aufstehen kann und Luna zum Spazierengehen auffordere. Sobald ich den Stuhl zurückschiebe, wird sie ohnehin hochspringen und sich schütteln. Endlich hört sie auf, auf dem Tisch herumzuhacken, und wir gehen raus. Ja, Luna, das machen wir. Und ich bin die Große und benehme mich, als wäre heute vorgestern, und du bist fit wie vier Turnschuhe für dein Alter. Denn das, was in dir lauert, macht dir keine Probleme, sondern allein mir. Drei Zentimeter Unheil. Solange das nicht wächst, ist alles gut. Vielleicht bewegt es sich nicht, obwohl die Tierärztin mich darauf vorbereitete, dass bei einem Milztumor die Lebenserwartung äußerst kurz sei. Aber vielleicht ist es ja gar keiner, mutmaßte die Tierhomöopathin. Ärzte irren sich. Das Ding muss kein Tumor, kann auch ein Überbleibsel des Schlangenbisses sein.

Seltsamerweise habe ich das Gefühl, ich müsste mich beim Tier schneller damit abfinden als bei einem Menschen. Wenn es um ein Menschenleben geht, muss man kämpfen bis zum letzten Atemzug, darf nie die Hoffnung verlieren. Und bei einem Hund? Den niemand fragen kann? Aber wird denn der Mensch gefragt? Und das Tier, das man nicht fragen kann oder doch? Vielleicht sagt es deutlich, was es will, und es liegt an uns, ob wir es mit unseren verkümmerten Sinnen hören können. Aber wer die Stimme eines Tieres hören kann, hört auch heller bei Menschen. Dennoch ist bei einem Tier rasch etwas wider die Natur, was dem Menschen zugemutet wird.

»Und – woran arbeiten Sie zurzeit?«, fragt mich der Architekt, den ich mittags gelegentlich treffe. Manchmal denke ich, er legt es darauf an, späht ab zwölf Uhr dreißig alle paar Minuten aus seinem Küchenfenster, ob die Blonde mit dem schwarzen Hund heute auf dem Feldweg auftaucht, der an seinem Haus vorbeiführt. Der Architekt findet mein Leben wahnsinnig interessant. All die berühmten Leute, die ich kennenlerne, für die ich Bücher schreibe als Ghostwriterin, die fremden Leben, in denen ich mich bewege, als wäre es mein eigenes. Immer wieder versucht er, mir Details zu entlocken, aber ich sage nichts. Ghostwriting ist ein Priesteramt, bei dem ich das Beichtgeheimnis wahre. Manchmal aber, häufig im Frühling, wenn der März Säcke voller Saatgut Übermut aus dem bayerischen Föhn schüttet. Dann entwischt mir die eine oder andere Andeutung. Die man so oder anders verstehen kann. Schnell setze ich ein neutrales Priesterinnen- oder Psychoanalytikerinnen-Gesicht auf und schaue zu, wie Luna nach einer Maus gräbt; fette Erdbrocken schleudern durch die Luft. Am nahen Waldrand beschwert sich ein Eichelhäher.

»Und Sie fragen die Leute alles, auch intime Details?«, erkundigt sich der Architekt neugierig.

Ich nicke und mir fällt auf, dass sich unsere Berufe ähneln. Ich baue Häuser aus Wörtern. Zurzeit zimmere ich wohl eher einen Sarg aus Buchstaben, korrigiere ich mich im Stillen und frage mich, wer da reinpassen soll. Der Hund nicht, wohl eher ich, wenn ich so was denke. Selbst wenn eine schwarze Wolke über dem Hund schwebt, kann eine viel größere über mir schweben, in viel höherer Entfernung, sodass sie mit bloßem Auge noch gar nicht zu erkennen ist. Aber wenn die runterfällt, dann wächst kein Gras mehr.

»Ist es wieder mal geheim?«, fragt der Architekt mich.

Ich nicke. Manche meiner Bücher sind sogar streng geheim. Niemand außer den beteiligten Personen weiß, dass ich sie geschrieben habe. In vielen ist mein Name irgendwo, manchmal recht klein, im Innenteil erwähnt. Eitel darf man nicht sein in meinem Job.

»Eine bekannte Persönlichkeit also?«, fragt er.

»Ziemlich«, sage ich. Luna wälzt sich grunzend in … ich nehme an Schafkötteln.

»Männlich oder weiblich?«, fragt er.

»Weiblich«, sage ich.

»Attraktiv?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Musikbranche?«, fragt er, und an seinem Gesicht sehe ich, dass er bereits eine Idee hat.

Ich schweige.

»Von der hätte ich gerne ein Autogramm«, teilt er mir mit. Seine Stimme klingt ein wenig atemlos.

Im wedelnden Vorbeilaufen hinterlässt Luna einen dunklen Fleck auf seiner hellen Hose.

Der Bauch

Mit meinem verstorbenen Mann war ich oft in der Toskana bei Freunden gewesen, und als ich eine Weile nach seinem Tod allein dorthin fuhr, begrüßte mich die Hündin Lilly von Erika und Andreas mit einem kugelrunden Bauch. Ich betrachtete den Bauch lang und gründlich und sagte dann zu Erika, die sich Sorgen machte, wo sie den Nachwuchs unterbringen sollte: »Einen von den Welpen nehme ich gerne. Am liebsten ein Mädchen, und wenn es dir recht ist, würde ich es Luna nennen.«

Luna heißt die Tochter von Erika, und ich fand den Namen wohltönend und für einen italienischen Hund passend. Ich hielt Luna für einen seltenen Hundenamen und hatte keine Ahnung, dass vier bis fünf Hunde sich angesprochen fühlen, wenn man Luna über eine Hundewiese ruft. Weitere zehn Hunde sollten sich gemeint fühlen, reagieren aber nicht, weil sie gerade anderweitig beschäftigt, sprich schlecht erzogen sind. Es gibt aber auch Hundebesitzer, die sich von frischgebackenen Eltern anstecken lassen und sich in der Originalität der Hundenamen überbieten. Hunde haben es leichter als Kinder, ihnen wird es auch mit fünf oder sechs oder zehn Jahren egal sein, wie sie heißen; Artgenossen werden sie kaum deswegen hänseln. Banane, Frau Schmitt, Monster, Herbert, Samsung, Salami, Satan, Katze, Killer, Hackfleisch – so laufen sie als vierbeinige Beweise für die Kreativität ihrer Besitzer durchs Revier.

Der Name Luna sollte mich an Italien erinnern und ein bisschen auch an meinen Mann, mit dem ich so oft dort war. Nein, ich glaubte nicht, dass er in Luna wiedergeboren werden würde. Nein, ich glaubte nicht, dass er mir aus dem Jenseits den Wunsch nach einem Hund einflüsterte, um weiterhin in meiner Nähe zu sein. Aber schön wär so etwas schon. Für einen kleinen Welpen ist es allerdings keine günstige Ausgangssituation, den verstorbenen Lebenspartner ersetzen zu sollen. Und dann womöglich ein Faible für Skifahren entwickeln und bei Mozart feuchte Augen kriegen müssen, je nachdem, welche Vorlieben der Verstorbene pflegte. Aber all das dachte ich nicht, als ich den kugelrunden Bauch von Lilly anschaute. Da waren Welpen drin. Einen davon wollte ich gerne zu mir nehmen.

Als Kind habe ich oft Lassie gespielt und meinen Eltern mit nasser Zunge über die Gesichter geschleckt, was zu wenig Begeisterung führte. Da mein Vater an einer Tierhaarallergie leidet, gab es bei uns zu Hause keine Tiere. Meine Spielkameradinnen hatten Hamster und Meerschweinchen. Ich tröstete mich mit Büchern, die ich kiloweise aus der Bücherei schleppte. Lassie, Blitz, der schwarze Hengst, Fury und Polizeihund Rex hießen einige Begleiter meiner Kindheit.

Als ich älter war, erzählte mir mein Vater, dass er eine Zeitlang einen Hund gehabt hatte. Ein französischer Soldat war am Eingang einer Schieferhöhle erschossen im Wald aufgefunden worden, ein Schäferhund saß neben ihm. Als man den Leichnam begraben hatte, irrte der Hund durch die Gegend. Mein Vater teilte seine karge Kost mit dem Tier. In diesen Monaten kurz vor Kriegsende litten die meisten Menschen großen Hunger. Trotz der Fliegerangriffe rechts und links der Mosel, wo die Familie meines Vaters Zuflucht gesucht hatte, war es eine schöne Zeit für meinen Vater: wegen Jupp, wie er den Hund genannt hatte. Doch eines Tages war Jupp weg. »Brauchst ihn nicht mehr rufen«, teilte ihm ein Nachbar mit. »Wir haben ihn gegessen.« Bald darauf bekam mein Vater eine Tierhaarallergie.

Als er mir von Jupps Ende erzählte, weil er mich für alt genug hielt, war der Große, der immer auf mich aufpasste, einen Wimpernschlag lang kleiner als ich, was mich verstörte. Dann aber begriff ich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mein Papa nicht immer zu den Großen gehört hatte, sondern auch einmal ein Kleiner gewesen war. Da streifte mich der Hauch einer Ahnung, wie es sein könnte, wenn ich größer als mein Papa wäre, wenn mein Papa so klein wäre, wie unser Opa geworden war. »Er benimmt sich manchmal wie ein kleines Kind«, sagte meine Mutter, auf das man gut aufpassen musste, damit es keine Spülmaschinentabs aß oder die Treppe herunterfiel.

So ein Hund, der brennt sich in deine Seele ein.

Das ist nicht nur traurig, es ist auch tröstend, denn solange ich lebe, lebt Luna. Erst wenn ich tot bin, erlischt ihr Bild in dieser Welt. Vielleicht auch nicht. Möglicherweise hat sich Luna in die Seele der vielen Kinder eingebrannt, die sie an meinem früheren Wohnort so oft zum Spielen abholten. Der kleine Simon und Sophie, Fritz und Tanja. Vielleicht erzählen sie eines Tages ihren Kindern von dem schwarzen Hund der Schriftstellerin, die am Rand des Dorfes in dem Hexenhäuschen voller Efeu wohnte, das im Herbst im Abendlicht rot leuchtete, als würde das Haus brennen. »Ich weiß jetzt nicht mehr genau, wie der Hund hieß, aber es war ein Weiberl, und wir haben sie oft abgeholt zum Spielen. Halt, jetzt fällt es mir ein. Luna! Luna hat sie geheißen. In den Ferien durfte ich bei der Frau übernachten. Weil ich doch damals eine Leseschwäche hatte, habe ich vor dem Einschlafen Luna vorgelesen. Die Schriftstellerin hat meinen Eltern einen Zeitungsartikel gegeben, dass es die Leselust fördert, wenn Kinder Hunden vorlesen.«

Und so könnten die Kinder des kleinen Simon es weitererzählen. Solange von Luna gesprochen würde, wäre sie genauso wenig vergessen wie Jupp.

Optimismus und Grammatik

Was willst du, einen Hund? Spinnst du! Wie soll denn das gehen?

Weißt du, wie teuer so ein Hund in der Haltung ist?

Und wenn er dir ins Haus pinkelt?

Du wirst überall Flöhe haben!

Und dann bellt er dauernd!

Wenn er jemanden beißt?

Was sagt dein Vermieter dazu?

Da kannst du nie mehr in den Urlaub fahren!

Der wird dauernd weglaufen, und du hast nur Ärger.

Ständig musst du raus. Auch wenn es regnet.

Und was machst du, wenn du mal krank bist? Wer geht dann mit dem Hund?

Ich werde einfach nicht krank, sagte ich. Weil ich doch immer Gassi gehen muss. Da kann ich mir Kranksein gar nicht leisten.

Das stellst du dir zu leicht vor, warnten meine Eltern. Ich vermute, meine Eltern haben sich immer alles ganz schwer vorgestellt, um sich später überraschen zu lassen, wie einfach es dann doch war. Was sie allerdings nie freute, da ja schon immer das nächste Schwere vor ihnen stand. Ich habe einige Zeit gebraucht, um herauszufinden, dass man links und rechts neben dem Schweren vorbeischauen kann. Und dort lag Lilly auf der Seite mit einem dicken Bauch mit Welpen drin, und einer davon würde meiner sein.

Warum kam ich auf diese Idee?

Weil ich mir als Kind immer einen Hund gewünscht hatte und weil ich nun schmerzlich erfahren hatte, wie schnell ein Leben vorbei sein kann, und dann war keine Zeit mehr, sich Wünsche zu erfüllen. Weil dieser Wunsch in meiner Macht lag. Ich konnte mir auch wünschen, eine weltberühmte Schriftstellerin zu sein. Aber vor mir wölbte sich kein dicker Bauch eines Kritikers, vollgestopft mit lobenden Rezensionen und Literaturpreisempfehlungen. Bloß Lillys Bauch. Und da war eine Luna drin. Mein Hund.

»Und wenn es kein Weiberl wird?«

»Dann heißt er eben Luno.«

»Komischer Name.«

»Grammatik geht vor«, behauptete ich leichthin und schaute doch immer wieder mal zu dem Berg der Unbilden. Ich kann nie mehr in den Urlaub fahren. Meine Nachbarn werden mich hassen. Wie viel Geld kostet ein Haustier im Monat? Was mache ich, wenn der Hund mir nicht folgt? Beißt der? Was mache ich, wenn er aggressiv ist? Und am schlimmsten: wenn wir nicht zueinanderpassen?

Grammatik und Verantwortung gehen bei mir Hand in Hand. Ich würde einen Hund, der nicht zu mir passt, in kein Tierheim bringen oder an einer Autobahnraststätte aussetzen. Dazu hatte ich zu viel Fantasie und Einfühlungsvermögen. Was in meinem Beruf von Vorteil ist, wäre beim Aussetzen eines Hundes ein Ausschlusskriterium. Ich würde an diesen Hund gefesselt sein bis an mein oder bis an sein Lebensende.

Mit Anfang zwanzig hielt ich eine Katze. Sie beging Selbstmord aus dem achten Stockwerk, ich verübelte es ihr nicht, denn ich war selten zu Hause. Damals war ich sicher keine Tierfreundin und erschlug Fliegen ohne Anflug eines schlechten Gewissens. Aber die Zeiten haben sich geändert. Unsere Gesellschaft ist immer tierfreundlicher geworden. Tiere haben jetzt auch vor dem Gesetz eine »Seele«. Um etwas zu ändern, hilft ein Gesetz nicht viel. Aber die Nähe zu einem Tier führt in die Nähe vieler Tiere. Wenn ich denke: »Das tue ich meinem Hund nicht an«, wie kann ich es dann einem anderen antun? Es sind doch beides Hunde. Oder Katzen. Und wenn ich den Kreis erweitere: Wenn ich weiß, dass ein Hund Gefühle hat, dann kann ich davon ausgehen, dass eine Kuh auch Gefühle hat.

Die Frage ist, ob ich es wissen will. Denn natürlich ist es angenehmer, der Kuh keine Gefühle zuzugestehen.

Es kommt darauf an, wie viel Empathie man zulassen möchte oder kann. Das bestimmt die Richtung des eigenen Lebens. Luna hat mich weicher gemacht und somit auch verletzlicher. Darunter leide ich jetzt. Und ich bedaure es kein bisschen.

Einige Monate nachdem mein Mann gestorben war, lud mich eine alleinlebende Freundin zum Essen ein. Beim Dessert vertraute sie mir an: »Wenn ich sehe, wie sehr du leidest, dann weiß ich, dass es gar nicht so schlimm ist, alleine zu sein. So bleibt mir das erspart, was du jetzt durchmachst.«

Ohne zu zögern, erwiderte ich: »Was ich jetzt erlebe, ist das Resultat einer wunderbaren Vergangenheit, von der ich keine Sekunde missen möchte. Und ich weiß, dass ich mich eines Tages wieder verlieben werde, egal, wie schwer diese Zeit der Trauer nun für mich ist.«

Ich habe mich dann auch wieder verliebt, und Luna rückte im Rudel von Platz zwei auf drei.

Der Schlangenbiss

Ich stand im Bad, die Tür war offen, da hörte ich, wie Johannes seiner Schwester am Telefon Lunas Krankengeschichte erzählte. Es interessierte mich, wie er die letzten Tage erlebt hatte – anders als ich? Jahrelang hatte er Luna vor allem am Wochenende gesehen, wir wohnten erst seit Kurzem zusammen. Trotzdem war er von Anfang an dabei gewesen. Als Freund hatte er mit mir das Für ohne Wider eines Hundes erwogen, als meinen Freund stellte ich Johannes vor, als wir den Welpen Luna abholten vor knapp zwölf Jahren. An Johannes’ Stimme hörte ich, wie betroffen er noch immer war:

»Micha war mit Luna, einer Freundin und ihrem Hund in einem sumpfigen Naturschutzgebiet spazieren. Auf einmal zitterte Luna am ganzen Körper. Die Freundin ist Ärztin und meinte, das sähe nach einem Schock aus. Vierzig Minuten mussten sie zurück zum Auto gehen, währenddessen schwoll zuerst Lunas Backe, dann ihr ganzes Gesicht monsterartig an, sodass sie schließlich eher wie ein Nilpferd denn wie ein Hund aussah. Micha vermutete einen Bienen- oder Wespenstich und gab Luna zu Hause das homöopathische Mittel Apis sowie Fenistil … Nein, sie ist nicht zum Tierarzt gefahren, weil es Sonntag war und weil sich Luna beim Tierarzt immer so aufregt. Ich kam erst abends nach Hause, wir riefen dann doch beim tierärztlichen Notdienst an, eine Ärztin meinte, sie hätte erst mal nichts anderes gemacht, wir sollten abwarten. Am nächsten Tag ging es Luna sehr schlecht, sie konnte kaum laufen. Wir brachten sie zur Tierärztin, sie bekam eine Kortisoninfusion, abends nochmal eine. Ihre Blutwerte rauschten in den Keller. Im Laufe der Nacht verschlechterte sich ihr Zustand so sehr, dass wir sie in die Klinik fuhren; sie konnte nicht mehr laufen, war ausgekühlt und apathisch.«

Ich sah die Ärztin vor mir. Sie hatte mit leichtem wienerischen Akzent gesprochen, deshalb klangen alle »Fallbeile« aus ihrem Mund niedlich.

»Wenn Sie den Hund nicht zur Behandlung hier lassen, stirbt er in der nächsten Stunde.«

Das sagte Johannes am Telefon nicht. Vielleicht war ihm der Dialekt der Ärztin gar nicht aufgefallen? Vielleicht erinnerte er sich an ihr Parfüm, das mir entgangen war, oder roch sie nach Desinfektionsmittel? Und woran erinnerte Luna sich? Wusste sie das alles noch? Was war ihr geblieben von den Nächten in der Fremde am Tropf?

Johannes fuhr fort mit seinem Bericht: »Wir beschlossen, Luna eine Nacht in der Klinik zu lassen, daraus wurden drei, und es wurde nicht besser. Am Telefon teilte man uns mit, dass wir uns über Euthanasie Gedanken machen sollten. Da sind wir sofort losgefahren und holten Luna heim. Wir erwarteten, ein sterbendes Tier zu sehen, sie freute sich so sehr über uns, dass sie vor Wedeln fast umkippte. Zu Hause wollte sie erst mal was fressen. Unsere hiesige Tierärztin, die sich bereit erklärt hatte, zu uns zu kommen, um Luna einzuschläfern, schlug vor, ihr am nächsten Tag eine Bluttransfusion zu geben. In der Folge des Schlangenbisses war das gesamte blutbildende System zusammengebrochen. Unsere Tierärztin hatte am nächsten Morgen eine Sterilisation auf dem OP-Plan. ›Eine Berner Sennenhündin, neun Monate, kerngesund. Mit dem Besitzer habe ich schon gesprochen. Er ist einverstanden mit einer Blutspende.‹ Wir fragten nach:

›Ja, kann man denn so einfach Blut von einem Hund in den anderen laufen lassen?‹

›Ja, beim ersten Mal ist das kein Problem. Wenn Ihre Luna die Nacht überlebt, können Sie morgen kommen.‹«

Luna ist eine Kämpferin. Sie hatte neue Lebenskraft, weil sie daheim war, bei ihrem Rudel. Wir wollten sie nicht aufregen, indem wir ihr Bett nach oben brachten. Alles sollte so sein wie immer. Nicht ganz, denn Johannes und ich legten uns auf den harten Küchenboden und bewachten unseren sterbenden Hund, der immer lebendiger wurde. Manchmal kam die heiße Zunge aus dem aufgeschwollenen Gesicht, und was all die Jahre zuvor lästig und unangenehm gewesen war, erfüllte uns mit Freude. Luna schleckte mir das Herz ab. Wir schöpften Hoffnung.

Am nächsten Vormittag hielt ich die Glasflasche mit dem dickflüssigen himbeerroten Lebenssaft in der Hand, der Tröpfchen für Tröpfchen in Luna hineinfloss. Sie lag am Boden auf der Seite, Johannes streckte sanft ihr Bein, denn sobald sie es anwinkelte, stoppte der Blutfluss.

»Ob sie spürt, dass ihr das hilft, dass wir ihr helfen wollen?«, fragte ich Johannes.

»Ich glaube, schon«, meinte er. »Wir haben ihr doch noch nie etwas Böses getan, und ihr Vertrauen in uns ist grenzenlos.«

Ich nickte. Das war es. Grenzenloses Vertrauen. Wir trugen die Verantwortung, wollten das Richtige tun. Wir konnten sie ja nicht fragen. Und wie sollten wir das in ihre Sprache übersetzen? Luna, sag mal, willst du ein bisschen Blut kriegen von einem Berner Sennenhund? Okay, die apportieren nicht, aber das hat bestimmt keine Folgen für dich, du bist so ein Apportierstar, da musst du dir keine Gedanken machen.

Ich dachte über die vergangenen Stunden nach, während ich auf die Kanüle starrte. Euthanasie, dachte ich. Dass man das jetzt so nannte, bei einem Hund! War hier dasselbe Tabu um den Tod gewachsen wie beim Menschen?

Bluttransfusion, dachte ich, und dann gleich weiter zur Herztransplantation, weil es irgendwie zusammenzugehören schien.

Neulich hatte ich einen Artikel gelesen über organtransplantierte Menschen, die nach dem Eingriff wesensverändert waren. Ein Schreiner, dem ein Herz transplantiert wurde, wollte nach der Operation plötzlich unbedingt Klavier spielen. Recherchen ergaben, dass er das Herz eines Pianisten erhalten hatte. Wie würden sich die dreihundert Milliliter Berner Sennenhund bei Luna bemerkbar machen? Ihr bester Kumpel, Moll, ist ein Berner Sennenhund. Würde der das wittern? Was merken Hunde? Und wie viel oder wenig davon können wir wahrnehmen mit unseren eingeschränkten Möglichkeiten? Allein die Nase des Hundes verfügt über etwa zweihundert Millionen Geruchssinneszellen, die des Menschen über fünf. Hunde leben in einer Welt aus Gerüchen. Und was gehört noch alles zur Grundausstattung Hund, wovon wir Menschen nicht mal wissen, dass es das gibt? Wie heißt dieser Sinn, mit dem sie in unseren Seelen lesen?

Unfassbar! Eine Blutspende für einen Hund!

In Syrien ist Bürgerkrieg, da gibt es nicht mal Krankenhäuser für Menschen, und mein Hund kriegt Kortisoninfusionen, intensivmedizinische Behandlung und frisches Blut.

Ist das richtig? Warum habe ich ein schlechtes Gewissen? Ich möchte, dass Luna lebt, solange sie Freude dran hat. Der Schlangenbiss ist wie ein Unfall, sie könnte auch vor ein Auto gelaufen sein. Vor einer Woche hätte ich gesagt: niemals eine Bluttransfusion für einen Hund. Aber es begann so harmlos mit einem Zittern, dann wurde es ein Schock, dann das Kortison, die Klinik, dort eine Untersuchung nach der anderen. Wie sich der Patient in der Intensivmedizin fühlt, steht nicht zur Diskussion. Seine Werte sind von Interesse.

Vor einigen Jahren schrieb ich ein Buch über Sterben in Würde und war oft zu Besuch in einem Münchner Hospiz, wo ich mich auch mit Patienten unterhielt, die dort Bewohner oder Gäste genannt werden. Ich lernte viel über das Leben im Angesicht des Sterbens. Die Beschäftigung mit dem Tod macht das Leben schöner und kostbarer. Seltsam, dass so viele Menschen ihn scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Eines der Münchner Hospize liegt in einem Wohngebiet, und es gab Nachbarn, die sich regelmäßig beschwerten, weil so oft Leichenwägen vorfuhren. Das sei ein Schock für die Kinder und ob die Toten nicht nachts abgeholt werden könnten statt am helllichten Tag.

Im Hospiz hörte ich erschütternde Berichte über die wenig einfühlsame Behandlung durch Krankenhausärzte, und ich nahm nun einigermaßen erstaunt zur Kenntnis, dass Intensivmedizin keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu machen scheint.

Als wir Luna am ersten Tag in der Klinik besuchten, fragte ich eine Mitarbeiterin, ob es eine Stiftung oder einen Verein gäbe, der einspringt, wenn Tierhalter die Kosten der Behandlung nicht zahlen können.

Sie schaute mich an, als wollte ich Insolvenz anmelden. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Also hätten Sie uns mit der sterbenden Luna in dieser Nacht weggeschickt?«

»Wenn Sie die Rechnung nicht zahlen, ja.«

Ich stellte mir vor, ich wäre Hartz-IV-Empfängerin und würde Leergut sammeln, um das Futter für meinen Hund zu verdienen. Mein Leben könnte sehr einsam werden. Vielleicht wäre ich auch krank? Aber jeden Morgen würde ich aufstehen, um Gassi zu gehen. Mein Hund, meine Katze wären für mich eine Nabelschnur zum Leben. Dem Tier könnte ich alles erzählen, was mich bewegt und bedrückt, und ich könnte es streicheln, seine Wärme spüren. Das würde mich zufrieden machen, vielleicht sogar hin und wieder glücklich, und ansonsten würde ich es schon irgendwie schaffen. Ich hätte viel Zeit zum Lesen, das hatte ich mir doch immer gewünscht. Es ist nicht so einfach, trotzdem rauszugehen, wenn man arm ist. Da gehört man nicht mehr dazu, das lassen einen die anderen spüren, wenn auch nur aus Hilflosigkeit oder der Angst, selbst so zu enden. Nach dem Motto: Halte dich fern von dem, was du fürchtest. Und dann zieht man sich zurück. Ich hätte die Nase voll von den klugen Ratschlägen anderer, die alles besser wissen würden und sich nicht einfühlen könnten. Ein Tier gibt keine Ratschläge. Es ist einfach da. Das ist sein Ratschlag. Es akzeptiert dich, wie du bist, und wertet nicht. Es fragt nicht nach deinem Kontostand. So kann ein Tier schon mal zum Ersatz für andere Menschen werden. Was soll daran verwerflich sein? Lieber ein Tier als niemanden.

Mit dem Schlangenbiss waren plötzlich so viele Fragen, Gedanken und Gefühle aufgetaucht. Die Schlange hatte ihr Gift in meine heile Welt gespritzt. Auf einmal sah ich überall Boten, Vorankündigungen, die man ja immer nur sieht, wenn etwas passiert ist und man nach ebensolchen sucht, die man ohne ein Unglück längst vergessen hätte.

Eine Woche vor dem Schlangenbiss hatte ich bei einer Freundin auf der Schwäbischen Alb übernachtet. Nachts tobte ein Gewitter über dem Dorf, und als ich zur Toilette ging, wollte Luna, die im Erdgeschoss schlief, mit mir nach oben in mein Zimmer. Vor Gewittern fürchtet sie sich. Grell zuckten die Blitze vor den Fenstern.

»Na, dann komm mit«, lud ich sie ein, und sie zögerte keine Sekunde. Ich legte ihre Decke an das Fußende meines Bettes. Luna hatte noch nie in meinem Bett geschlafen. Luna legt sich nie auf ein Sofa. Luna kennt ihren Platz. Doch nun folgte sie meiner Aufforderung sehr zaghaft und verlegen, die Lefzen leckend, und rollte sich am äußersten Rand des Futons zu einer Kugel zusammen … Die Blitze, die noch fünfzehn Minuten zuckten, ehe schwer der Regen herunterprasselte, erleuchteten hell mein Glück. Nun erschien mir diese Nacht wie der erste Bote des Abschieds. In der Hundesprache sieht der womöglich anders aus:

Auf einem Bauernhof, an dem wir oft vorbeigehen, lebte ein alter Schäferhund, in den Luna vernarrt war. Eines Tages war die Hundehütte leer, der Bauer teilte mir mit, dass »der Nando hi is«, also gestorben war. Da sah ich aus den Augenwinkeln, dass Luna direkt vor die Hundehütte eine Wurst setzte. »Letzter Gruß«, kommentierte der Bauer.