Ellen Dunne
Für immer mein
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Prolog – Das letzte Kapitel
Kapitel 1 – Der Biograf ohne Geschichte
Kapitel 2 – Mandy und Lina
Kapitel 3 – Neue Vorsätze
Kapitel 4 – Wieder da
Kapitel 5 – Im Kleinen Café
Kapitel 6 – Ein Wiedersehen
Kapitel 7 – Hintergründe
Kapitel 8 – Auf den zweiten Blick
Kapitel 9 – Mode machen
Kapitel 10 – Sprechtherapie
Kapitel 11 – Verlorenes Glück
Kapitel 12 – Klassentreffen
Kapitel 13 – Die Lunte brennt
Kapitel 14 – Bei mir bist du schön
Kapitel 15 – Es
Kapitel 16 – 60 Minuten
Kapitel 17 – Der alte Karlic
Kapitel 18 – Verhängnisvolle Affären
Kapitel 19 – Mutterherz
Kapitel 20 – Zu weit
Kapitel 21 – Fäden ziehen
Kapitel 22 – Danach
Kapitel 23 – Fräulein Rottenmeiers Rache
Kapitel 24 – Der letzte Nachmittag
Kapitel 25 – Der nächtliche Besucher
Kapitel 26 – Marinas Abend, Teil I
Kapitel 27 – 1992
Kapitel 28 – Fehler groß und klein
Kapitel 29 – Marinas Abend, Teil II
Kapitel 30 – Königin der Nacht
Kapitel 31 – Bambino
Kapitel 32 – Wir müssen reden
Kapitel 33 – Dr. Corrs Liste
Kapitel 34 – Seelenfrieden
Kapitel 35 – Das Zimmer
Kapitel 36 – Ein guter Junge
Kapitel 37 – Mama_mal_zwei
Kapitel 38 – Das letzte Kapitel, Teil II
Epilog – Fuck it
Danke, danke, danke!
Impressum neobooks
Ellen Dunne
Für immer mein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
eBook 1. Auflage 2013
© 2013 Eire Verlag, Müllmersberg 2, 33154 Salzkotten
Cover: Gertrud Landwehr, Hochburg-Ach, Österreich
Lektorat: Beate Fischer
ISBN 978-3-943380-20-0
Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fototechnischem oder elektronischem Weg zu vervielfältigen.
www.eire-verlag.de
Nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider,
als den Weg zu gehen,
der ihn zu sich selber führt.
Hermann Hesse
Keine Träume. Keine Erinnerung. Nur schwarz.
Und jetzt plötzlich so laut, irgendwo da draußen. Doch hier drin war er sicher versteckt. Seine Augenlider schwer, so schwer. Alles andere an seinem Körper auch. Sein Herz trommelte den trägen Rhythmus einer Sklavengaleere.
Das Geräusch wurde noch lauter. LAUTER.
Aufhören, meine Ohren!
Seine Lider schienen vernäht zu sein, doch er trennte sie mit Gewalt, öffnete die Augen, blinzelte in grelles Weiß. Alles war besser als das unberechenbare An und Aus dieser Lärmattacken. Er musste ihre Quelle finden und abstellen, und dann endlich weiterschlafen hier in –
Ja, wo denn eigentlich?
Langsam verfestigten sich die Konturen vor ihm. Eine Menge Eisen. Gewichte, am Boden liegend und auf Stangen hängend. Das war nicht sein Arbeitszimmer, so viel stand fest. Das war überhaupt kein Zimmer, das er je zuvor gesehen hatte.
Die Sklavengaleere in seiner Brust geriet aus dem Takt. Durch ein Leck tropfte Adrenalin. Zu wenig für koordinierte Handlungen, aber genug, um mit dem Nachdenken zu beginnen. Er schloss die Augen wieder. Zuerst mal die verbürgten Fakten.
– Mein Name ist Tarek Waldmann.
Guter Anfang. Jetzt schrittweise die letzten Ereignisse nachvollziehen. Das war ihm schon als Kind eingetrichtert worden, falls er mal wieder seine E.T.-Puppe aus Leder irgendwo verschlampt hatte.
Letzte Erinnerung vor der Dunkelheit?
– Ich stehe unter Mordverdacht.
Das Leck in der Galeere wurde größer. Panik sprudelte herein.
– Geht’s vielleicht auch etwas konstruktiver mit dem Erinnern?
Na gut, nochmal von vorn. Letzte Erinnerung vor der Dunkelheit?
– Ich war in Helgas Wohnung. Seit zwei Tagen ist Helga meine Mutter. Sie wollte das letzte Kapitel meiner Geschichte erzählen und mir alles erklären.
Er schnaubte ein Lachen. Seit es zu spät war, wollten ihm ständig alle alles erklären.
Er hatte die Tür zu Helgas Küche aufgestoßen, sein Inneres wie aus Lava. In aller Ruhe hatte Helga die Tür des kleinen Öfchens in der Ecke zugeklappt, sich nach ihm umgedreht, die rußigen Finger an ihrer marineblauen Stoffhose abgewischt und ihn angesehen. Ein Lächeln, das ihn kannte.
Und plötzlich lag er hier, der Graben zwischen ihm und Helga in ihrer Küche unergründlich tief. Den jetzt überbrücken? Wie anstrengend. Besser, er legte sich wieder schlafen. Er räkelte sich in eine bequemere Position, stieß jedoch mit dem Rücken an eine weiche Barriere.
Da war noch jemand. Ein Arm lag schwer und besitzergreifend um seinen Oberkörper geschlungen, eine Hand zusammengerollt vor seiner Brust. Er nahm sie, schmunzelte. Lina und ihr verzweifeltes Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Ihre Umarmungen hatten inzwischen schon was von einem Heimlich-Manöver. Er zog die Hand und den dazugehörigen Arm an seine Brust wie den Zipfel einer Decke, wollte sich stärker in den Körper hinter ihm einwickeln. Niemand leistete Widerstand.
Fühlt sich das hier etwa wie Lina an?, flüsterte es in ihm. Oder irgendwie lebendig?
Er blinzelte erneut, richtete sich auf und betrachtete die Hand in seiner eigenen. Finger kräftig, doch gerade. Altersflecken. Eindeutig nicht Lina. Ohne die Hand loszulassen, warf er einen Blick über seine Schulter.
Tatsächlich, es war Helga. Da lag seine Mutter und schlief. Ihr Arm war seltsam verdreht in seinem Griff. Sie schien das nicht zu stören. Er zog daran, schüttelte sie hin und her. Doch er wusste, welche Reaktion ihn erwartete. Mit Toten hatte er inzwischen Erfahrung. Die wachten nicht so schnell wieder auf.
Zwei in zwei Tagen, Tarek. Was werden wohl die beiden freundlichen Inspektoren von der Wiener Kripo dazu sagen?
Wieder rammten sich doppelschneidige Klingen durch seine Trommelfelle. Eine Türklingel, schrill und fordernd. Jemand klopfte mit den Fingern und mit der Faust. Rüttelte an einer ebenso knarzigen wie stabilen Tür. Rief Tareks Namen – er solle endlich aufmachen!
Adrenalin begann sein Herz zu schubsen. Ihn anzubrüllen, dass es jetzt höchste Zeit war, Angst zu haben. Zu begreifen, dass in Helgas Geschichte niemand glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage lebte, schon gar nicht jemand, der mit beiden Händen in ihrer Tinte steckte. Dass er etwas tun musste, dammit, jetzt sofort!
Er konnte nicht. Etwas hatte seine Energie und seinen Verstand aneinandergekettet und in einem gläsernen Wassertank versenkt. Da saß er nun und beobachtete die beiden bei ihrem immer panischeren Kampf, ihm zu erklären, wer sie in diese Lage gebracht hatte, sich zu befreien, bevor es zu spät war. Entfesselungskunst sah anders aus. Er hob einen Mundwinkel zu einem resignierten Lächeln und tätschelte Helgas Hand.
Mami, dachte er verschwommen. Was haben wir da bloß getan?
Wien, am Sonntag, den 27. Dezember
Hermann, heute hab ich unseren Jungen gefunden. Einfach so, als hätte er schon immer auf mich gewartet, da vor meiner Nase, und ich hab ihn übersehen. Sonst spür ich doch immer schon vorher, wenn was Großes im Anzug ist. Kannst du dich erinnern, wie damals Papa gestorben ist? Zweihundert Kilometer weg war er und kerngesund, als wir ihn und Mutti besucht haben. Und ich sagte noch beim Frühstück zu dir, dass ich geträumt hätte, dass wir ihn verlieren würden, und du sagtest, was für ein Blödsinn, haste gesehen, wie der ausgesehen hat am Sonntag? Der wird uns alle überleben, hast du gesagt, und dann klingelt schon Mutti durch. Weißt du noch? Ich hab eine Antenne für solche Sachen.
Aber heute war alles wie immer, mal abgesehen davon, dass es seit heut Morgen wieder schneit. Aber das zählt ja nicht, ist doch Winter. Kälter ist es auch geworden, aber das zählt genauso wenig. Natürlich musste ich das Masopusts aus der Wohnung unten im Mezzanin (du weißt schon, das Zwischengeschoss) gleich unter die Nase reiben, denn die hatten letzte Woche behauptet, dass der Winter für dieses Jahr schon abgedankt hätte, ein Null-Ereignis, ein Rohrkrepierer (das Lieblingswort vom alten Masopust, und sie plappert immer alles nach, als gäb’s so was wie Emanzipation gar nicht).
Aber ich sagte, wenn schon Krise, dann richtig dicke. Kenn ich nur so. Das Unglück hat immer noch ein paar verrotzte Geschwister im Schlepptau. Das habe ich ihnen gesagt, als ich sie mit ihrer ausgefressenen Töle an den Mülltonnen treffe. „Über diesen Winter werden wir uns noch wundern“, sagte ich, „genauso wie über die Krise.“ Der olle Masopust hat bloß geschmatzt und seinen Kiefer verschoben, als würde sich seine Prothese endgültig selbstständig machen.
„Die Lutzi muss jetzt aber wirklich äußerln, sonst setzt sie ihr Häuferl noch vor unsere Tür“, sagte er, dann sind sie abgedampft wie die Lokomotiven, alle mehr breit wie hoch, und auf die ‚Schöne Feiertage‘ haben sie auch vergessen.
Das war also der Höhepunkt des Tages. Der Rest war so wie alle, seitdem du weg bist.
Und dann taucht unser Junge vor mir im Laptop auf. Ich hab sofort gewusst, das kann nur er sein. Dieser aufgesetzte, verlogene Name, den diese Leute ihm aufgedrückt haben ... so oft kann es den nicht geben auf dieser Welt. Vor Schreck hab ich den Laptop gleich zugeklappt, und als ich den Deckel wieder aufmache, war immer noch alles schwarz. Eine Weile hatte ich Panik, ob er jetzt für immer verschwunden bleibt, und das die letzte vertane Chance war. Blödsinn, natürlich war er nicht weg, aber in dem Moment ...
Nach ein paar Tassen FixFenchel und einer Runde im Beserlpark gings aber wieder, und ich hab meine Notizen aus diesem Computerkurs für Geriatriker durchgeackert. Das hätten auch Hieroglyphen sein können, sag ich dir. Dieser junge Mann im Schnupperkurs hat mit Fremdwörtern nur so um sich gehauen, die meisten natürlich auf Englisch. Er war dermaßen schnell, dass ich nur mitgeschrieben hab und jetzt steht das Zeug da und hilft mir genau Nullkommajosef, wie die hier immer sagen.
Glaub bloß nicht, dass die letzten zwanzig Jahre viel verändert haben. Nur die Methoden, mit denen wir eingeschüchtert werden, und die Unterdrücker. Was früher die Partei war, sind jetzt die Jungen, die uns Alten Angst machen mit ihrer Technik, den Geheimsprachen und Pfeilen, die man unmöglich kontrollieren kann, weil sie so schnell flitzen. Was früher im Osten war, ist jetzt überall, wo man sich modern schimpft. Mit Computern halten sie uns in Schach, genau wie die Stasi damals. Trotzdem hab ich es geschafft, ihm einen Brief zu schreiben. Nichts Besonderes, nur ein paar Zeilen. Die haben mich einen Nachmittag lang Nachdenken gekostet, und elf Seiten voller Entwürfe.
Das hatte weniger mit der Aufregung zu tun, sondern mit dem Plan. Den gibt’s jetzt nämlich, und zwar genau seit ich mir die Internet-Seite unseres Jungen angeguckt habe, und das gründlich. Biograf, also wirklich. Von so einem Beruf soll einer mal gehört haben. Aber man kann was draus machen, wenn meine Nerven mitspielen. Bin mir im Moment zwar wieder nicht sicher, ob ich alles übers Herz bringe ... dabei hat gerade dieses blöde Teil mir all die Jahre schon gesagt, was zu tun ist, und meistens war es richtig. Das soll einer verstehen. Aber noch ist ja Zeit.
Zurückgemeldet hat er sich jedenfalls, da hatte ich mir noch nicht mal den Schweiß vom Gesicht gewischt. Ich konnte es nicht fassen. Die erste Begegnung mit unserem Jungen!
Ich weiß, ich weiß ... eine Stimme am Telefon ist keine wirkliche Begegnung, sagst du jetzt sicher. Das ist nicht mehr als unruhige Luft, zerhackt und in eine Leitung gezwängt und am anderen Ende wieder zusammengesetzt. Nichts was man greifen, noch nicht mal was, das man angucken kann. Mal abgesehen von deinem noch immer fehlenden Verständnis dafür, wie ein mickriger Augenblick ein ganzes Leben zusammenpacken und von einer Klippe stürzen kann, hast du recht.
Es war nur seine Stimme, und das nur ein paar Minuten. Aber mehr als eine Stimme hätte ich auch nicht ertragen. Noch nicht.
Denn ich schwöre dir, unser Junge klingt wie du. Es raspelt immer ein bisschen, wenn er zum Sprechen ansetzt, als müsste sich der Motor erst warmlaufen.
Es ist, als würde ich dich reden hören; jedes Mal, wenn er sich räuspert, so wie du auch immer, waren meine Knie nur noch ein Haufen Pudding. Aber nur im Kopf, denn der Rest war die komplette Salzsäule, verstehst du?
Zum Glück dauerte unser Gespräch nicht lange, und Pausen gabs auch nicht viele. Er quasselt eine Menge, unser Junge. Er lebt in Irland, hat er mir erzählt, als hätte ich das nicht schon längst gewusst. Vielleicht hat er deshalb auch diesen komischen Akzent. Seine ‚r‘ kommen nicht aus dem Rachen, sondern von irgendwo unter der Zunge, und die ‚e‘ klingen, als würde ein Ypsilon dranhängen, und an den ‚o‘ ein ‚u‘. Trotzdem ist er sehr wortgewandt, ich war völlig von den Socken.
Ich frag mich, woher er das hat. Vielleicht von Onkel Richard? Aber nein. Der hat uns doch immer zu Tode gelangweilt mit seinen Gedichten zu jeder Familienversammlung. Der olle Richard.
Gehört wahrscheinlich zum Beruf, dass unser Junge gut kann mit Worten. Natürlich hatte er es leichter als ich. Er musste ja nicht so tun, als wären wir einfach nur Fremde, die ins Geschäft kommen wollen.
Aber ich sag dir, er hat auch was gespürt. Denn als ich ihn fragte, warum er ausgerechnet Biografien schreibt, hats unserem Jungen zum ersten Mal kurz die Sprache verschlagen. Und weißt du, was dann kam?
„Ich habe keine Geschichte“, sagte er, „deshalb schreibe ich die der anderen auf.“
Wie gedruckt, oder? Musste fast lachen. So ein hochgestochenes Geschwätz. Das erzählt er wahrscheinlich jedem. Aber ich hab mich zurückgehalten und sogar eine Antwort zustande gekriegt, da wärste stolz auf mich gewesen.
„Keine Sorge“, sagte ich, „ich hab genug Geschichte für uns beide“, und er hat gelacht darüber. Das war das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen hab zu diesem grausamen Fest. Tut mir leid, dass ich dir das jetzt sage, Hermann, aber deine Geschenke waren ja das Grausame daran. Aber sie waren immer so im Schweiße des Angesichts falsch ausgesucht, da hab ich mich nicht getraut, was zu sagen. Ja ja, ganz gegen meine Natur, ich weiß.
Na jedenfalls hat unser Junge gelacht, und am liebsten hätte ich es ihm auch gesagt. Dass er zwar kichert wie ein Mädchen, aber dass mir das egal ist, weil das allein schon Weihnachten für mich ist. Zum Abschied hat er nochmal gelacht. Er freut sich drauf, mich kennenzulernen.
Es stimmt also. Er hat keine Ahnung, von nichts.
Den restlichen Abend hab ich geheult, und trainiert, und trainiert und geheult, alles gleichzeitig. Aber diesmal zum allerletzten Mal, das weiß ich inzwischen. Denn heute hab ich unseren Jungen gefunden. Und ab morgen sorge ich dafür, dass er alles zurückbekommt, was uns diese Leute gestohlen haben. Die Wahrheit, jedes einzelne Kapitel davon.
Soweit sich Tarek Waldmann erinnern konnte, waren ihm von Frauen nur zwei Dinge jemals zum Vorwurf gemacht worden.
Das erste war sein Defizit an einer Qualität, die man gemeinhin als ‚sexuelle Treue‘ bezeichnet. Das zweite war seine ebenso intensive wie unerklärliche Verehrung für Barry Manilow.
Erstem waren vier Beziehungen zum Opfer gefallen, zweitem immerhin eine. Zumindest behauptete Tarek das in weiblicher Gesellschaft gerne. Faszinierend, wie allein die Erwähnung von Barrys Namen jedes Mal aufs Neue ihre paradoxe Anziehungskraft entfaltete.
Ein nach außen hin erwachsener, eloquenter und geistig gesund wirkender Mann hatte soeben Mandy als seinen Lieblingssong aller Zeiten bezeichnet, jawohl, aller Zeiten, egal, ob er noch knapp zwei Drittel seines Lebens vor sich hatte oder nicht.
Die meisten Frauen verschanzten sich hinter einem wohltemperierten Lachen oder einem Themenwechsel, da sie sich weder mit einer unbedachten Äußerung ihre Chancen auf ein Date verbauen, noch Opfer eines üblen Scherzes werden wollten. So eine Enttäuschung. Die Polarisierung war das Beste daran, fand Tarek. Egal, ob offene Verachtung oder der Verfall in Schwärmerei über das legendäre Greek-Theatre-Konzert 1978. Nichts fand er so sexy wie das emotionale Extrem. Danach suchte er.
Fündig geworden war er bei Lina.
„Und wenn du hundertfünfzig wirst, ich will verdammt sein, wenn du mit so ’nem Scheiß-Geschmack auch nur bei einer Frau landest“, war es aus ihr herausgeplatzt, und in ihrer Heineken-Flasche hatte es wild geschäumt, so heftig war ihr Zeigefinger in seine Richtung vorgestoßen.
Linas Anhängsel, mädchenhaft hübsch, aber dank einer Kombination aus tantiger Brille, Cargo-Hosen und Strickweste gegen jegliches männliches Interesse immun, hatte sich auf die Unterlippe gebissen und entschuldigend die Schultern gehoben, während sein bester Freund Steve blaurot angelaufen war vor Lachen.
Tarek hatte nur gelächelt und sich gefragt, wie Lina es schaffte, sich auf diesen Mörderabsätzen zu halten, während ihre Stimme bereits unter der Last des Alkohols schlingerte.
Zwei Stunden später wackelten auch die Beine. Natürlich beschuldigte sie trotzdem das für High-Heels völlig ungeeignete Kopfsteinpflaster in Temple Bar.
So waren sie sich nähergekommen, Lina und er. Derangiert von ebenso unterhaltsamen wie verschwendeten Stunden. Tarek hatte mehr Übung mit solchen Nächten, deshalb hatte er Lina Halt angeboten, eine Schulter zum Anlehnen. Sie hatte bis jetzt nicht verstanden, dass er es keineswegs fürs ganze Leben gemeint hatte.
Und so stand er nach vierzehn Monaten, 94 Mal euphorischem und 27 Mal lauwarmem Sex, einem Seitensprung, acht zerbrochenen Weingläsern und zwei endgültigen Trennungen noch immer in Linas Küche. Blickte noch immer hinunter auf die seelenlose Schönheit der Dubliner Docklands (eindeutig das Schönste an dieser gemieteten Schuhschachtel!), ließ noch immer Cappuccino aus der Tüte in Linas Tasse rieseln, während er in seinem brackigen Tee rührte und dachte noch immer zu oft an das erbrochen-säuerliche Aroma ihres ersten Kusses.
Das Motto unserer Beziehung. Halb verdaut und raus zum Hals.
Er musste lächeln, trotz des bitteren Tees auf seiner Zunge. Schon wieder so ein grenzgenialer Satz. Vielleicht war es Zeit, mal wieder was zu schreiben. Etwas Richtiges. Die Inspiration hatte sich in letzter Zeit immer wieder mal bei ihm blicken lassen.
Vor ein paar Tagen sogar im Gespräch mit seiner Auftraggeberin aus Wien. Frau Wolff, deren Name hervorragend zu ihrer Stimme passte.
Ich habe keine Geschichte. Deshalb schreibe ich die der anderen auf.
Das klang schon verdammt aufgeblasen. Aber auch saumäßig cool. Frau Wolff hatte sich beeindruckt gegeben. Dabei war der Satz einfach da gewesen, in großen Leuchtbuchstaben vor seinen Augen, und in bester Tarek-Tradition hatte er den Mund geöffnet und ihn ausgeschwafelt, bevor er womöglich noch anbrannte.
Er musste sich das mal aufschreiben. Vielleicht, wenn er nur lange genug Einzeiler produzierte, würde vielleicht ein Ganzes dabei herauskommen und das Grübeln nach einer großen, kohärenten Story ein Ende haben. Und wenn nicht, konnte er sich vielleicht als radikaler Experimentalkünstler positionieren. London und Berlin waren voll von solchen Leuten. Er grinste. Was für ein Schwachsinn.
Die Tassen in den Händen, eine ungeöffnete Rolle McVities-Vollkorn-Schokokekse unter dem Arm, wechselte Tarek über den von Kabeln gesäumten Flur zurück in Linas Zimmer. Die Kälte des Laminatfußbodens trieb sich wie Glassplitter in seine Fußsohlen. Willkommen im irischen Winter.
Lina saß, noch zur Hälfte in ihren Kokon aus Decke gewickelt, im Bett.
Er stellte die Tasse auf den Nachttisch neben ihr, ließ die McVities in ihren Schoß rollen. Keine Reaktion. Linas üblicher Zustand vor 10 Uhr vormittags.
„Das Grand Canal Basin ist zugefroren.“ Sie fixierte ihre großen Zehen, die sich gegen die bis zum Boden reichende Fensterfront pressten, ihre schaufelartig geformten Nägel in Türkis lackiert. Einem Heiligenschein gleich kondensierte ihre Wärme an der Scheibe.
Tarek ließ sich auf den dreißig Zentimetern Bettkante nieder, die Lina für ihn geräumt hatte, und betrachtete ebenfalls das Hafenbecken zwei Stockwerke unter ihnen. Wo sonst tagein, tagaus Möwen im Wasser schaukelten, war nun alles starr, eine von undefinierbar dunklen Pfützen durchlöcherte Schneedecke. An ihren Rändern trippelten die ratlos blinzelnden Möwen auf und ab, beinahe unsichtbar im Schneeweiß, bis auf die knallfarbenen Schnäbel und Plattfüße. Über ihren Köpfen und den Hausdächern der Himmel, dessen blitzblaue Reinheit die Augen tränen ließ.
„Geschneit hat’s auch“, setzte Lina nach.
Die typische Düsternis des Montagmorgens, der Lauf einer geladenen und entsicherten Woche an der Schläfe. Dabei war Samstag.
Im Zeitlupentempo kaute sie ihre obligaten drei Kekse und entfernte jeden einzelnen der Krümel mit befeuchteten Fingerspitzen von der Decke, bevor sie Tarek direkt ansah.
„Tarek honey, du glaubst nicht im Ernst, dass ich dich auch noch eigenhändig zum Flughafen fahre, oder?“ Ihr dänisch akzentuiertes Englisch war flach und schnörkellos wie die Landschaft um Esbjerg. In einem Anfall von Heirats- und Familieneuphorie hatte sie Tarek vergangenen November dorthin mitgenommen, um ihn ihrer Mutter vorzuführen. Beides Fehler; das Treffen und Jütland im November. Ihm hatten das ganze Wochenende lang die Haare zu Berge gestanden.
Er zeigte ihr die Zähne und streichelte die Druckfalte, die das Kopfkissen auf ihrer Wange hinterlassen hatte. Der einzige Makel auf ihrer Schneewittchen-Haut.
„Sind doch nur zwei Taschen, min skat. Die passen schon rein in deinen Flitzer. Außerdem ist der Schnee bis zum Nachmittag garantiert weg.“
Er kniff etwas fester in die Knitterfalte an ihrer Wange. Von Lächeln keine Spur.
„Ich leiste keine Beihilfe zur Fahnenflucht.“
Das war der Tonfall, mit dem sie sonst immer aus dem Büro kam, der nach ebenso unreifen wie widerspenstigen Untergebenen klang. In ihren Augen flimmerte es, dann flossen sie über. Ohne Geräusch, ohne weiteres Aufhebens. Eine gute Skandinavierin. Vorerst.
„Hey, hey, was soll das denn jetzt?“ Er lehnte sich über das Knäuel aus Bettdecke hinweg und nahm sie bei der Schulter, rubbelte ihren Oberarm. „Wovon redest du? Ich bleib ein paar Wochen, mehr nicht. Wir hatten Weihnachten zusammen, wie du wolltest. Neujahr genauso. Jetzt muss ich mal zu meinen Eltern. Ich kann schon hören, wie sauer Gero auf mich ist, und dann noch diese lebenswichtige Ausstellung von meiner Mutter, und ...“
„Blödsinn“, sie fuchtelte mit der Hand, „alle deine Sachen hast du gepackt, nichts ist mehr da.“
„Hast du meine Zahnbürste nicht gesehen?“
„Tarek, verdammt, hör auf mit dem Scheiß!“ Sie sprang auf und zum ersten Mal schien sie ihn von ganzem Herzen zu hassen. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass er sie dazu eingeladen hatte. Da stand sie, in ihrem ausgewaschenen Firmen-T-Shirt in Regenbogenfarben, das es schaffte, sogar ihre Klassefigur bis zur Unkenntlichkeit zu verformen; eine Faust geballt, die andere in die Hüften gestützt. Ihre Kampfpose. Gut so. Alles war besser als diese Bedürftigkeit, die großen, flehenden Augen, die bloßgelegte Flanke. Diese Frau war vier Jahre älter als Tarek und hatte ein Vielfaches in ihrem Leben erreicht. Warum diese Unterwürfigkeit?
Mein toy boy, hatte sie ihn anfangs genannt. Stark war sie gewesen, unabhängig und begehrenswert, bevor ihre Arme sich langsam in Tentakel verwandelt hatten, und ihre Lippen in Saugnäpfe, und ihr Hunger nach seiner Anwesenheit unstillbar geworden war.
„Hör mal, jetzt versteh nicht gleich alles falsch.“ Jetzt eine Entschuldigung und sie würden in einem Meer von Selbstmitleid versinken. „Aber das sind eben die Dinge, die ich bei dir hatte. Immerhin hab ich noch eine eigene Wohnung.“
Ihr Zeigefinger schnellte nach vorne. Ein Pfeil mit türkiser Spitze, direkt ins Herz.
„Ja, warum eigentlich? Du bist doch sowieso immer hier eingenistet, warum lässt du dir nicht mal ein paar Eier wachsen und tust den nächsten Schritt? Hab ich dir denn je Vorschriften gemacht oder dir zu wenig Freiheit gelassen? Was willst du denn noch?“
Mit dieser Frage begann es immer. Oder endete es, wie man’s nahm.
Draußen hatte eine Möwe genug davon, sich die Füße im Schnee abzufrieren und war aufgestiegen, segelte vorbei an den Glasfassaden der vergeblich auf Mieter wartenden Neubauten, hinüber zur sonntagsstillen Baustelle des Grand-Canal-Theaters, ließ sich auf einem der roten Dekorationspfosten am Vorplatz nieder, ordnete ihre Flügel neu.
„Ich will zum Flughafen“, erzählte Tarek der Möwe. „Ich will Zeit in Wien verbringen, dort an meinem Projekt arbeiten und mal wieder mehr als ein Wochenende mit meinen Eltern verbringen. Gero beschwert sich schon länger, dass ich nur komme, wenn es Geschenke abzuliefern oder abzuholen gibt. Außerdem gibt es hier schlicht nichts Besseres zu tun. Die Hälfte meiner Kunden ist Pleite und die andere Hälfte macht keine Werbung mehr, du weißt ...“
„Es gibt dein Buch“, konterte sie, „es gibt mich!“
Ihre Augen waren jetzt verquollen und ihre Stupsnase gerötet. Tarek wollte etwas Tröstliches sagen, doch ihm fehlte der Sauerstoff dafür. Er ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt weit. Meer und Salz und Wind. Das war besser.
„Das Buch ist grad in einer schwierigen Phase. Ein Tapetenwechsel tut sicher gut. Vielleicht ist es ein Impuls und ich komme dadurch weiter.“
Sie grunzte und öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, aus Angst vor der Zerstörungskraft ihrer ehrlichen Meinung. Dann lieber die kindische Variante.
„Lauf eben weg zu deiner Tussi nach Wien und schreib ihre blöde Geschichte auf.“
„Sie ist 60, Lina, die wird wohl kaum zur Konkurrenz für dich.“ Er entledigte sich seines T-Shirts, faltete es zusammen und verstaute es in der noch offenen Tasche neben dem Bett.
Lina fand den Kommentar weniger schmeichelhaft als gedacht.
„Selbst kriegst du ja keine Geschichte zustande. Dein ganzes beschissenes Buch wirst du sowieso nie fertigschreiben, dann müsstest du nämlich einmal im Leben was durchhalten und dich dazu bekennen! Hundert Seiten in zwei Jahren, dass ich nicht lache!“
„Hundertdrei“, sagte er, schon auf dem Weg ins Bad. Als er die Tür hinter sich geschlossen und versperrt hatte, knallte etwas gegen die Außenseite. Wahrscheinlich einer ihrer High-Heels. Die waren nicht ungefährlich.
„Du kannst dir ein Taxi nehmen, Mister Waldmann“, Linas Stimme näherte sich gemeinsam mit ihren energischen Schritten der Tür, ebbte dann wieder in Richtung Küche ab. „Die Autoren-Auffangstation hat heute geschlossen!“
„Ist das nicht verrückt? Den ganzen Sommer keine Sonne in diesem verdammten Land, und wenn sie dann mal runterknallt, kann sie auch nicht mehr als blenden.“ Lina fummelte in der Mittelkonsole nach ihrer Sonnenbrille, ohne ihren Blick von der Fahrbahn zu nehmen. Tarek kam ihr zuvor, polierte das verstaubte Oval der Gläser und reichte sie ihr. Er mochte diese Brille, ihren leicht seitwärts ausgezogenen Rahmen. Sie verlieh Lina etwas von Audrey Hepburn, wenn er die Augen zusammenkniff. Audrey Hepburn plus zehn Kilo offensiver Weiblichkeit.
Sie waren auf der Autobahn, kurz vor der Abfahrt zum Flughafen, doch Lina hielt den MG konsequent auf der Geschwindigkeit eines mäßig ambitionierten Langstreckenläufers. Trotzdem waren sie die Schnellsten. In den wenigen Fahrzeugen, die sich auf die Straße gewagt hatten, dominierten Gesichtsstarre und verkrampft umklammerte Lenkräder.
„Irland ist nicht für den Winter geschaffen.“
„Für den Sommer auch nicht“, brummte sie. „Warum bist du nicht gleich gemeinsam mit deinen Eltern zurück nach Wien abgehauen? Hier ist es doch nur teuer und deprimierend.“
„Na hör mal, hätten wir uns dann getroffen?“ Tarek hatte keine Ahnung, warum er das eigentlich sagte. Woher dieser Impuls kam, Lina genau dann von der Klippe zurückzureißen, wenn sie endlich bereit war zu springen. Aber wenn er etwas an ihr liebte, war es dieses breite, von Herzen kommende Lächeln, mit dem sie sich und ihr Herz der Welt zum Drauftreten darbot.
„Du Idiot“, sagte sie und schnaubte, als könnte sie sich selbst nicht erklären, wie sie in diese Situation geraten war. Dabei hatte sie es diesmal fast durchgezogen. Erst, als sich der Taxifahrer telefonisch gemeldet hatte, er warte unten auf seinen Fahrgast, war sie Tarek zuvorgekommen, hatte sich sein Handy geschnappt und den Fahrer unter zweistelliger Anzahl von Entschuldigungen weggeschickt.
Er streichelte ihre inzwischen entknitterte Wange, dann ihre Hand, den Ringfinger mit dem altmodischen Jadering in verschnörkelter Goldfassung, den er ihr zum Sechs-Monats-Jubiläum geschenkt hatte.
Nach einer langen Pause trug sie ihn heute wieder. Ein ungehaltenes Versprechen.
Der Dubliner Flughafen, sonst ein Ameisenhaufen ohne erkennbares Konzept, dämmerte im Nachmittagslicht. Viele Flüge waren wegen des Schnees abgesagt worden, und die Mehrheit der Reisenden hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, die Anreise zum Flughafen auf gut Glück zu unternehmen. Auch für den Flug der Aer Lingus nach Wien musste man mit Verspätungen rechnen, doch deswegen später am Flughafen zu erscheinen, war keine Option.
„Soll ich einen Parkplatz suchen und mit dir warten?“, fragte Lina in die Pause, die nach dem Abstellen des Motors entstand.
„Du musst nach dem Wochenende wieder einen Haufen Call-Center-Drohnen managen“, schüttelte er den Kopf, „da gibt’s was Besseres als hier rumzuhängen. Außerdem hab ich meine beiden Freunde hier“, er schwenkte seinen iPod und die Andre-Agassi-Biografie, die Gero ihm als Geschenk zu Weihnachten geschickt hatte. Tarek hasste Schwitzen, vor allem für solche sinnlosen Tätigkeiten wie Sport, aber Stories über gequälte Seelen und desintegrierende Haarteile klangen interessant. „Das reicht für ein paar Schneestürme.“
Lina hob einen Mundwinkel, sah dann nach draußen und kämmte sich mit den Fingern die Haare. Ihre oft beklagte, splissanfällige Mähne in Mahagoni, aus der sie akribisch jeden silbernen Vorboten ihres in Sichtweite geratenen Vierzigers zupfte.
„Du musst nicht davonlaufen, weißt du“, sagte sie und beobachtete den schlaksigen Sicherheitsbediensteten, der den spärlichen Fußgängerverkehr in die Abflughalle regelte und immer wieder mit einem Seitenblick einzuschätzen versuchte, wann sich dieser MG endlich aus der Haltezone entfernte.
„Ich laufe nicht davon.“
Ihr Auflachen schien es besser zu wissen. Sie wandte sich ihm zu, den rechten Ellenbogen auf das Lenkrad gestützt. Die lila Daunenjacke begleitete jede ihrer Bewegungen mit diesem schwirrenden Geräusch, das er nicht leiden konnte. Vielleicht konnte er auch einfach Lina nicht leiden. Denn er wusste, was jetzt kam, und er hatte die Nase voll davon. Schon seit Langem.
„Ich weiß, dass du in deinem Leben nie wirkliche Stabilität erfahren hast.“
Er schnaubte.
„Ach komm, Lina. Ich fahr für ein paar Wochen weg, Herrgott, das ist weder das Ende der Welt, noch das unserer Beziehung.“
Sie schüttelte den Kopf über den sozial leider etwas inkompetenten Tarek.
Nicht seine Schuld. Adoptiert, Sie wissen schon. Das Band der Mutterliebe unterbrochen, oder nie geknüpft, wer weiß.
Sein Leben lang wurde er mit dieser Behutsamkeit tyrannisiert. Mit diesem vordergründig sanften Heranführen an eine Lebensweise, so wie es Lina und andere vor ihr richtig für ihn fanden. Die glaubten, irgendwann würde ihn die Sehnsucht nach dem warmen, dumpfen Kuhstall der Langzeitbeziehung schon überkommen.
„Meine Tage sind überfällig“, sagte sie.
Bedächtig packte Tarek das Buch und den iPod wieder ein. Linas Lippen bewegten sich weiter im Off, doch er konnte nichts hören. Er erinnerte sich an den vertraulichen Klaps seines Adoptivvaters Gero auf seiner Schulter, als Tarek ihm vor einem Jahr von Lina erzählt hatte; die Hand mit der festgeklebten Infusionsnadel; die Hand, die sich Tarek stets nur klapsartig genähert hatte – wohlwollend und mit der milden Herablassung der Erfahrung.
Ende Dreißig ist ein gefährliches Alter für die Frauen, hatte er geraunt. Pass gut auf die kleinen Waldmänner auf.
„Falschen Alarm hattest du schon öfter, das geht sicher in Ordnung.“
Linas Finger trommelten auf dem Lenkrad, als sie den nächsten Schritt erwog.
„Diesmal ist es anders“, bestimmt legte sie ihre Hand auf die Jacken-Beule über ihrem Bauch und wandte sich ihm wieder zu, ihr Blick ein Feuerwerk in Braun und Grün. Tarek erwiderte ihn, während er in sich hineinhorchte, welches Gefühl sich da drinnen ausbreitete. Nichts meldete sich.
Du kannst so gut mit Gretas Kindern umgehen, hatte Lina mit verdächtig glänzenden Augen gesagt, nachdem Tarek einen Nachmittag lang die vier Jungs von Linas in Kopenhagen lebender Schwester mithilfe eines Papierflieger-Wettbewerbs domptiert hatte.
Dass ich mich wie ein Kind benehmen kann, heißt noch lange nicht, dass ich auch eins haben will, hatte er – zugegeben etwas uncharmant – entgegnet. Offensichtlich war er noch immer nicht klar genug gewesen.
„Hast du einen Test gemacht?“
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Lippen, zuvor noch zaghaft lächelnd, vibrierten.
„Frauen wissen so was. Wie diesmal war’s noch nie.“
Der Typ von der Sicherheit hatte sie inzwischen fester ins Auge gefasst, sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.
„Dann mach mal einen Test“, Tarek tätschelte Linas unruhig wippendes Knie, „bevor du wieder die Pferde scheu machst, und dann sehen wir weiter.“
Das Knie erstarrte.
„Was bist du bloß für ein eiskalter Typ?! Ich sag dir, dass du Vater wirst, und du schaust, als ginge dich das überhaupt nichts an!“
„Hättest du mir von deinem Verdacht ein wenig früher erzählt, hätte ich vielleicht eine dem Anlass angemessene Reaktion einstudiert, Lina.“ Er sah, wie seine Worte schnitten und verletzten, doch er konnte nicht anders. „Also musst du eben mit meiner spontanen Ratlosigkeit leben, tut mir leid.“
Tarek und Lina, in alter Tradition. Das Vorzeige-Krisenpaar, eine einzige, klaffende Differenz. Nur, dass es früher Spaß gemacht hatte.
„Du trägst genauso Verantwortung für das Kind, jemand in deinem Alter muss doch mal erwachsen werden.“
Da lagen sie nun in seiner Hand. Die blaue Pille der Versöhnung, des Seelenfriedens, des Anstands. Daneben die rote.
„Und jemand in deinem Alter muss wissen, dass Fiebermessen und Tee trinken nicht reichen zur Verhütung“, sagte er und schluckte.
Lina blinzelte dreimal in rascher Folge, dann kreischte sie, Tarek solle ihr aus den Augen gehen, und zwar sofort, und während sie zum nächsten Satz Luft holte, tippten schwarz behandschuhte Finger an das Fahrer-Fenster.
Ihr Aufschrei, theatralisch mit beiden Händen vor dem Mund, ließ den Typen von der Sicherheit vom Auto zurückweichen. Kläglich hob er die Schultern, als Tarek über den Hebel in der Mittelkonsole die Fensterscheibe runterließ.
„Ma’am, tut mir leid, aber Sie können hier nicht stehen bleiben. Da drüben sind Parkhäuser, falls Sie Passagiere begleiten wollen.“
Während Lina ansatzlos mit der Empfehlung antwortete, der Typ solle sich gefälligst entspannen, es sei doch nichts los hier, und die Flughafenbehörde solle sich ohnehin schämen, mit dieser kundenunfreundlichen Organisation, zerrte Tarek seine Taschen hinter dem Rücksitz hervor und schulterte eine nach der anderen weg vom Haltestreifen zum Terminal. Als er sich umdrehte, um nach Linas Zustand zu sehen, war der Mann von der Security schon zum anderen Ende des Terminals weitergezogen, und Linas MG verschwunden. Sein Wintermantel, der noch auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, genauso.
Wider Willen musste er lachen. Eine klassische Lina. Wahrscheinlich verbrannte sie ihn irgendwo, tanzte um das Feuer und kaufte ihm dann teureren Ersatz.
Er starrte in die Morgensonne, so lange, bis seine Augen in Schmerz schwammen. Dann seufzte er, beobachtete seine Atemwolke beim Davonfliegen. Seine Taschen schienen plötzlich nur noch die Hälfte zu wiegen.
Wien, am Samstag, den 9. Januar
Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet hab bei dir, Hermann. Aber du weißt: Ich bin trotzdem immer da.
Diese Euphorie, die unser Junge da letzte Woche in mir ausgelöst hatte – die hat mich vollkommen umgehauen. Dachte, ich heb die Welt im Alleingang aus ihren ausgetretenen Pantinen, ungelogen. Bin sogar rüber in die Mariahilfer Straße und hab mir ein paar neue Hantelaufsätze gekauft, weil mir die läppischen fünf Kilo einfach nicht mehr gereicht haben. Das Gesicht von dem Verkäufer hättste sehen sollen, als er rausgefunden hat, dass ich nicht im Auftrag meines ‚Herrn Gemahl‘ oder ‚Herrn Sohn‘ da war!
Und ich sag dir, das war noch nicht alles! Diesmal hab ich mich sogar auf die Silvestermeile gewagt und versucht, endlich mal selbst dem Läuten der Pummerin zuzuhören, aber diese Vorstellung war völlig naiv. Rein gar nichts konnte man hören vor lauter Rabatz. Ständig diese Knaller und trötende Italiener und walzernde Paare. Du hättest es gehasst, jede Wette, aber mir hats trotzdem irgendwie gefallen. Zumindest eine Zeit lang.
Andauernd haben mir irgendwelche Wildfremden zugeprostet, in allen möglichen Sprachen. Einer hätte unser Junge sein können. Seine Sprache weiß ich nicht mehr, aber seine Stimme, die passte genau. Hat mir sogar einen Schluck aus der Sektpulle angeboten, so betrunken war der. Und dass ich ihn bei der Umarmung zum guten neuen Jahr fast zerquetscht hätte, ging auch an ihm vorbei. Ich wollte ihn anfangs ja noch loslassen, aber es war wie ein Reflex, ich schwörs. Seine Daunenjacke hatte einen richtigen Abdruck von mir, und ich wollte auch aufhören, aber es ging einfach nicht. Denn einen Moment lang dachte ich, was, wenn er das ist, und das war unsere erste Umarmung, und ich weiß es bloß nicht, dann hab ich das alles verschwendet, die ganzen wertvollen Momente.
Es war irre, sag ich dir. Um uns herum nur diese Leute, und wäre da nicht noch ein Mädchen gewesen, die sich vorgedrängt hat und meinte, jetzt sei aber Schluss, sie sei dran, ich würde ihn noch immer umarmen.
Na, jedenfalls bin ich dadurch irgendwie aufgewacht.
Das Mädchen hat den Jungen weggezerrt, und der hat mir noch so süß gewunken, weil der ja selbst keine Ahnung mehr davon hatte, was ihm da passiert war, und plötzlich stand ich da wie vom Himmel gefallen, und mir ist klar geworden, dass wenn mir so was passiert, wenn der Junge am Montagnachmittag ins Kleine Café reinspaziert kommt, also ich meine, wenn ich so die Kontrolle verliere, dann ist alles vorbei. Der wird mich für verrückt halten und das Weite suchen. Diesmal wirklich, und für immer.
Das war alles, was ich auf einmal denken konnte. Vielleicht vergrätze ich ihn. Vielleicht versteht er nicht. Das darf ich nicht zulassen, weißt du?
Bei dem Gedanken tat sich dann ein Graben vor mir auf. Zuerst wollte ich mich ablenken und hab die Hausaufgaben gemacht, die er mir gegeben hat. Mal eine Bestandsaufnahme von allem machen, was ich noch irgendwie dokumentiert hab. Weißt ja selber, wie wenig das ist. Trotzdem – beim Rumwühlen in unserer Herzschmerz-Kiste gings dann erst recht bergab. Da drin lag auch der Brief vom alten Schultz. Dachte, ich hätte ihn weggeworfen, nachdem du gegangen bist, weil ich einfach nur alles vergessen wollte. Vergessen hab ich nichts, außer dem Brief. Hab ihn vor lauter Schock sogar gelesen. Diese Selbstsüchtigkeit, diese Kälte in jedem einzelnen Wort. Jetzt erst merke ich, dass er sich mit keinem Wort entschuldigt hat! Dem Schultz ging es in keinem Augenblick um uns, Hermann. Warum haben wir das nicht bemerkt damals, nicht mal du? Hätte uns der Brief früher erreicht, dann wäre er nicht einfach gestorben, friedlich in seinem Bett. Dann hätte er bekommen, was er verdient. Aber keine Angst, Hermann. Denselben Fehler mach ich nicht nochmal. Diesmal nicht!
Nach dem Brief saß ich jedenfalls erstmal so richtig drin in meinem Loch. Hab sogar noch versucht zu trainieren, aber dank meiner tollen Idee mit den Zusatzgewichten hatte ich einen solchen Muskelkater, da ging gar nichts mehr. Alles schwarz und schwer, die ganze Welt ein riesiges Gewicht. Nicht mal deinen Glücksbringer konnte ich dir vorbeibringen. Aber was soll’s? Welche Ahnung haben wir beide denn schon vom Glück? Daran ändert kein Schwein aus Marzipan was.
Aber vorwurfsvoll gucken, das kann es, dieses sogenannte Glück, mit seinen Kulleraugen und dem Kleeblatt aus Papier im Maul. Das konnte ich nur noch unter der Decke aushalten. Dort war ich dann für drei Tage. Nichts außer dem Ticktack der Uhr und FixFenchel. Es war fast noch stiller als damals in Hohenschönhausen und meistens auch nicht viel heller.
Was ich gedacht hab in der Zeit, weiß ich nicht mehr. Denken ausknipsen, das hab ich gut gelernt, oder? Dafür hab ich die Schneeflocken gehört. Lach jetzt nicht – wusstest du überhaupt, dass die Geräusche machen? Schaben richtig am Fenster.
Am Mittwoch tauchte ich dann auf. Kohldampf, und wie.
Außerdem die innere Uhr. Mein Urlaub vorbei. Die nörgeligen Bayerhamers riefen, und Oberstudienrätin Schwarz, und Herr Karlic, der, so hat mir seine Tochter gesagt, jetzt schon wieder drüben im Allgemeinen Krankenhaus liegt. Sieht aus, als ginge es diesmal wirklich zu Ende mit ihm, dabei sind wir doch grad mal erst drei Kapitel durch ‚Lieb Vaterland, magst ruhig sein‘. Ich muss mich beeilen.
Eine Strategie für unseren Jungen musste ich mir auch überlegen. Durch drei Tage Rumliegen hat sich der Sachverhalt ja nicht geändert. Ich brauche eine Geschichte, die mich nicht sofort verrät. Was Plausibles, verstehst du? Aber das hab ich zum Glück ja jetzt.
Natürlich gab es noch einen Grund zum Aufstehen, Hermann. Musste mich ja vorbereiten. Immerhin haben wir beide heute was zu feiern. Auch, wenn du dich aus dem Staub gemacht hast. Deiner Helga entkommste nicht. Sogar deinen Krümelkuchen hab ich dir gebacken. Der wird weggehen wie nix.
Eigentlich wollte ich meinen Teil gemeinsam mit dir essen, aber es ist inzwischen richtig kalt geworden, und der Wind fährt einem jedes Mal in die Glieder, wenn man da oben in Meidling zwischen all den Gräbern rumsteht. Das muss mit den Bahngleisen gleich daneben zusammenhängen. Da hat man auch im besten Mantel keine Chance gegen diesen grässlichen Winterwind. Hundekalt ist es. Deshalb werd ich heute nur vorbeikommen, um den Kuchen abzuliefern, und das Marzipanschwein auch. Du nimmst mir das nicht krumm, ja?
Ist schließlich auch mein Geburtstag. In dem Sinne alles Gute, altes Haus, und schlaf weiterhin friedlich. Unser Geschenk bekommen wir ja dann am Montag im Kleinen Café.
Wiens 2. Bezirk, die Leopoldstadt, war in Tareks Kindheitserinnerungen ein meistens heimeliger, oft depressionsgrauer Ort voller abgasgeschwärzter Hausfassaden, durchdrungen von Klingelkaskaden der Praterbahnen, voller Rabbis mit ihren gelockten Kindern an der Hand und staubbemäntelten alten Männern, die – Hand auf dem Hut – dem Wind in den Gassen des Karmeliterviertels trotzten, voller Menschen, die ständig etwas als Frechheit bezeichneten.
In seinen Augen hatte sich in den achtzehn Jahren, seit er mit den Eltern nach Irland übergesiedelt war, wenig verändert.
Hier geben die Leute noch was auf Stabilität, feixte Gero immer, vor allem, wenn’s um die nach unten gezogenen Mundwinkel geht. Da können sie den Karmelitermarkt mit Szenelokalen ausstatten, wie sie wollen.
Der Flughafen war kaum geeignet, das Klischee zu widerlegen. Wintergraue Blicke und nach oben gezogene Schultern, so weit das Gepäckband reichte. Nicht einmal Tareks süße Sitznachbarin hatte ein Lächeln für ihn erübrigt und pflegte lieber den Bauernhof in ihrem Handy, als sich auf eine Unterhaltung einzulassen.
Dasselbe in der Empfangshalle. Die suchenden Blicke der Wartenden blieben kurz an ihm hängen, schweiften enttäuscht weiter. Niemand da. Auch nicht am üblichen Treffpunkt nahe dem Ausgang zum Taxistand. Vielleicht hatten sich seine Eltern in letzter Minute doch für ihr überheiztes Wohnzimmer entschieden. Die Castellezgasse verwandelte sich im Winter in einen polaren Windkanal. Wer wollte da schon seinen Opel Senator anno 93 besteigen und sich durch das Schneetreiben nach Schwechat kämpfen?
Er aktivierte sein Handy. Eine Mailbox hatte er sich schon lange abgewöhnt. Zu viel verschwendete Zeit für zu langes Gelaber von Leuten, die selten etwas von Bedeutung zu sagen hatten, geschweige denn Erfreuliches.
Aber auch Textnachrichten boten heute keine Deckung vor Lina. Tarek sei die NIEDRIGSTE Kreatur, die auf dieser Erde ihr Unwesen trieb, und sie hoffe, er wäre schon erfroren, und falls nicht, solle er sich einen schönen Sonntag machen ohne Wintermantel, die Voraussage sei Dauerfrost, Tief Daisy lässt grüßen.
Er grinste. Eine Glanzparade. Jetzt fehlte nur noch die private Regenwolke über seinem Kopf.
Es war wie damals im Hort, als ihn alle anderen Kinder immer ‚Resterl‘ genannt hatten, weil er grundsätzlich als Letzter abgeholt wurde. Meist von Marina, atemlos nach 300 Metern Dauerlauf von ihrer damaligen Wohnung aus in der Förstergasse zum Hort. Und manchmal – zusätzliche zehn bis fünfzehn Minuten später – von Gero, Krawatte gelockert, die Aktentasche über die Schulter geworfen. Sie hatten selten versucht sich zu rechtfertigen. Habe man Tarek denn jemals nicht abgeholt, auch nur ein einziges Mal nicht? Eben. Sie waren eben anders als andere Eltern.
Als Erwachsener hatte Tarek diese Erklärung für sich selbst präzisiert.
Seine Eltern gehörten zu jenen Leuten, die keine Eltern sein wollten. Zumindest nicht offiziell. Sie waren Gero und Marina, charmant-bissiger Pharmamanager im gesundheitsbedingten Vorruhestand nebst Gattin, diplomierte Arabistin, leicht neurotischer Haushaltsvorstand, Umzugsregisseurin und spät berufene Künstlerin. Sie wollten sich nicht beschweren mit peinlichen Attributen wie „Mama“ und „Papa“, sich nicht umgeben mit dem Mief von gebackenen Kuchen und Gedichten zum Muttertag, Modelleisenbahnen und gemeinsamen Fahrradausflügen. Eigentlich nur konsequent, fand er, denn sie hatten keine eigenen Kinder. Sie hatten Tarek.
Seitdem die Geschichte ihrer abenteuerlichen Flucht „damals, aus dem Osten“ ihre zigste Tournee durch den Freundes-, Nachbars- und Bekanntenkreis beendet hatte, erschien ihm überhaupt, dass ihr Adoptivsohn das Einzige war, worauf sich Gero und Marina einigen konnten. Auf ihn und ihre Intoleranz gegenüber Verzögerungen, vor allem jenen, die sich ihrer Kontrolle entzogen. Sie behaupteten regelmäßig, das hätte etwas mit ihrer Allergie gegen von oben diktierte Prozesse zu tun, die sie sich während ihrer DDR-Jugend eingefangen hätten.
Tareks weniger geschichtsträchtige Erklärung war, dass sie es schlicht hassten zu warten. Deshalb machten sie ständig alles auf den letzten Drücker und kamen entsprechend oft zu spät.
Tatsächlich wurde Gero soeben mit dem Winterwind in die Empfangshalle gefegt, wie immer ganz strahlendes Lächeln und Augenzwinkern, als er Tarek entdeckte. Nur seine typisch aufrechte Haltung hatte etwas Bemühtes an sich, und sein Wollmantel im Glencheck-Muster beulte sich weniger um seinen Bauch als bei ihrer letzten Begegnung im September.
Er nahm seinen zerknautschten Tweed-Hut ab, als er seine Arme für Tarek ausbreitete, und obwohl seine Kringelhaare immer noch die Fülle und Struktur eines 20-Jährigen hatten, erschien er Tarek zum ersten Mal alt.
Jetzt, ohne den Hut, grenzte ihr Größenunterschied ans Lächerliche. Geros allumfassendes Kleiner-Mann-Syndrom war bisher Tareks bevorzugter Ausgangspunkt für ihre Wortgefechte gewesen, doch heute erschien es ihm unangebracht. Eine Machtposition, die er nicht ausnutzen wollte.
„Da bist du endlich“, sagte Gero nach dem üblichen Schulterklopfen. Immer, wenn er sentimental wurde, verfiel er in den maunzenden quasiwienerischen Tonfall, den er sich, so kolportierte es zumindest Marina, innerhalb von nur zwei Jahren in Österreich angeeignet hatte, und der ausnahmslos jeden echten Österreicher heimlich die Augen verdrehen ließ. Allen außer Gero schien das aufzufallen.
Auch, dass Tarek keinen Mantel trug, bemerkte sein Adoptivvater erst, als sie bereits in den schonbezogenen Sitzen des Senators versanken.
Dem von möglicherweise kontroversen Stellen – sprich etwaigen Schwangerschaften – gesäuberten Bericht, wie das hatte passieren können, lauschte Gero zuerst mit schiefgelegtem, dann heiter schüttelndem Kopf.
„